Der Titel dieses Sammelbandes und die Metaphern in den Titeln einzelner Kapitel verheissen einen Ausflug in postmoderne Betrachtungsweisen. Der Untertitel belehrt uns, dass es sich nicht nur um postmoderne, sondern um "postfoundational" Ansätze handelt. Zu dem schwer zu übersetzenden Begriff "postfoundational" finden wir auf Seite 2 des ersten, von den Herausgebern verfassten Kapitels folgende Definition: Es handle sich um einen Oberbegriff, der Postmodernismen, Poststrukturalismen und Postkolonialismen einschliesse. Der Begriff "foundational" bezieht sich auf die aufklärerische Idee, dass Rationalität die ultimative Quelle oder Grundlage (foundation) der Erkenntnis bietet. Nach dieser Idee, fahren die Herausgeber fort, wären Menschen ausschliesslich rational, Sprache transparent; die Vernunft könnte unfehlbar eingesetzt werden, um Konflikte in den Bereichen der Wahrheit, der Macht und des Wissens zu lösen. "Post-foundational" Ansätze fordern aufklärerische Vorstellungen über die Menschheit und das Selbst (wobei "self" nicht mit dem "Selbst" der deutschsprachigen Psychoanalyse gleichzusetzen ist, sondern eher so etwas wie "Individuum" meint) heraus. Diese Begriffe werden hinterfragt nach den Kriterien der Autorität, der Inklusion und der Exklusion, sowie unter dem Aspekt der Interessen, denen die Begriffe dienen. Der Sammelband setzt sich zum Ziel zu untersuchen, wie die Vergleichende Erziehungswissenschaft (VE) sich im Bereich der post-foundational Ansätze engagiert hat. Der erkenntnistheoretische Horizont ist eine Art Supermeliorismus, bei dem es nicht (bloss) um das effektivere Funktionieren institutionalisierter Bildung geht, sondern schlicht und kompromisslos um die Erschaffung besseren Welten, "die – vielleicht – nicht so grausam zu so vielen Menschen sein könnten" (nach St. Pierre & Pillow, zitiert auf Seite 3). Der Fokus richtet sich auf die anglo-amerikanische VE – nicht etwa aus Ethnozentrismus, wie die Herausgeber klarstellen, sondern aufgrund der sprachlichen und fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen der beteiligten Autor/innen. Die methodologische Ausrichtung kann einem "radikalen Humanismus" [1] zugeordnet werden, bei dem nicht die möglichst objektive empirische Beschreibung von wahrgenommenen Realitäten, sondern die Imagination alternativer Möglichkeiten im Vordergrund steht; dabei kommt der Subjektivität, die sonst von der Wissenschaft verbannt ist, hier eine sehr bedeutende Rolle zu.
Die Organisation des Buches ist eine ausgewogene Mischung aus allgemeinen Diskussionen über den Stellenwert bestimmter "post-foundational" Ideen in der VE und spezifischen Beispielen von Forschungsergebnissen, welche sich dieser methodologischen Perspektive zuordnen lassen. Von vierzehn Kapiteln behandeln sieben theoretische, allgemeine Fragen. Die anderen sieben wenden sich spezifischen Fallstudien über Probleme zu, die jeweils geografisch an einem Ort lokalisiert oder aber vergleichend sind. Dabei fällt das Bestreben auf, den Süden und den Osten des Planeten, unbekanntere und ärmere Regionen sowie Fragestellungen zu Worte kommen zu lassen bzw. zu beleuchten, die sonst in der VE eher marginal bleiben (Minderheiten, Gender). Die Herausgeber wollen – mit ihrem theoretischen Ansatz durchaus kongruent - damit kein alternatives Modell der VE aufstellen – kein Gegenstück zur konventionellen VE. Sie wollen nicht "Hierarchien des Wissens umkehren, um einen anderen einheitlichen Diskurs aufzubauen", wobei sie auf Foucault verweisen (S. xi).
Die ersten beiden Kapitel führen in den erkenntnistheoretischen und methodologischen Rahmen des Werkes ein, wobei das zweite Kapitel gezielt auf die Problematik der Studierenden und Lehrenden der VE – auf die "Pädagogik" der VE – eingeht. Die folgenden sechs Kapitel untersuchen poststrukturalistische Ideen über den Diskurs. In Kapitel 3 untersucht Peter Ninnes verschiedene Arten, Diskurs und Diskursanalyse zu konzeptualisieren, wobei er Beispiele erziehungswissenschaftlicher Forschung, die mit diesen Ideen gearbeitet haben, kommentiert. Greg Burnett untersucht in Kapitel 4 nach der Methode der kritischen Diskursanalyse die Bildung und Erziehung der Republik Kiribati (Inselstaat im West-Pazifik). In Kapitel 5 dekonstruiert Ayaz Naseem Diskurse über "citizenship" (wieder ein schwer zu übertragender Begriff, der sowohl Staatsangehörigkeit als auch kulturelle Zugehörigkeit beinhaltet) und Gender in der Erziehung und Bildung von Pakistan. Kapitel 6 von Nuzhat Amin und Ryuko Kubota fasst eine vergleichende Studie zusammen über Muttersprachler-Diskurse im Englischunterricht in Japan, Pakistan, Kanada und den Vereinigten Staaten – die Rede ist hier von der Unterdrückung der Zweitsprachler durch die Muttersprachler. In Kapitel 7 stellt Marianne Larsen eine vergleichende Analyse der diskursiven Konstruktion der "Qualitätslehrperson" in einer Reihe von Bildungsszenarien dar. Kapitel 8 rundet (nach der thematischen Strukturierung durch die Herausgeber) den ersten Teil des Buches ab. Darin liefert William deJong-Lambert eine historische Analyse der Beziehungen zwischen Macht, Wissen und Wissenschaftsdiskursen in der ehemaligen Sowjetunion.
In Kapitel 9 weitet Gustavo Fischman die vorausgegangenen Beispiele von Textanalyse aus, indem er für Methoden argumentiert, die "visuelle Kultur" zulassen. Dies ist eine Weiterführung des 2001 von Paulston befürworteten "pictorial turn" in der VE. Die folgenden vier Kapitel untersuchen Fragestellungen auf dem Gebiet der postkolonialen Studien. Peter Ninnes und Greg Burnett analysieren in Kapitel 10 in welchem Ausmass postkoloniale Theorie in Aufsätzen in Zeitschriften der VE zum Zuge kommt. Yoko Mochizuki re-interpretiert aus einer postkolonialen Perspektive die Internationalisierungsbewegung in der japanischen Bildung und Erziehung (Kapitel 11) – für die Herausgeber eine neue Lesart der Internationalisierung. In Kapitel 12 erörtert Leona English die Arbeit von Ausbildnern im kulturvergleichenden Bereich, indem sie Begriffe aus der postkolonialen Theorie anwendet, um die gängigsten Diskurse über kulturvergleichendes bzw. interkulturelles Training in der Erwachsenenbildung zu demontieren. Kapitel 13 ist eine Auseinandersetzung von Jonathan Makuwira und Peter Ninnes mit der Kritik am vorherrschenden Begriff der Entwicklung, die unter dem neueren Begriff "post-development" gehandelt werden – noch ein kaum zu übersetzender Begriff – und beleuchten diesen kritischen Ansatz aus Sicht der VE. Zum Abschluss wenden Jorge Gorostiaga und Rolland Paulston Konzepte der Diskursanalyse und der sozialen Kartographie vergleichend auf das Problem der Dezentralisierung an – bezogen auf die globale Ebene und auf das Einzelbeispiel Argentinien. Damit zeigen sie die Vorteile und die Fallen verschiedener Politiken der schulischen Autonomie auf.
Der Sammelband enthält viele Informationen, die aus Sicht der westeuropäischen VE neu, manchmal gar exotisch wirken. Wenige Erziehungswissenschaftler/innen dürften bisher etwas über Kiribati erfahren haben. Der methodologische Ansatz und der Diskursstil sind denkbar entfernt von der Spielart der VE, die seit einigen Jahren die Szene erobert – nämlich vom empirischen, wirksamkeitsorientierten Ansatz der OECD und der EU-Institutionen. Der theoretische Anspruch ist hoch; die Fallstudien lösen diesen Anspruch unterschiedlich ein, sind dennoch alle lesenswert. Allerdings sind nur wenige der Kapitel im eigentlichen Sinen vergleichend. Die Organisation des Buches ist auch nicht so, dass alle Einzelstudien nach dem gleichen Raster aufgebaut sind, was einen Vergleich nach der "strengen Lehre" erst erlauben würde. Aber das liegt daran, dass die methodologische Ausrichtung nicht empirisch, sondern eben "post-foundational" ist. Das tertium comparationis ist der gemeinsame kritische Ansatz.
Das Buch eignet sich eher für Expert/innen als für Studierende und ist auch im Hinblick auf die Selbsterforschung der VE (wozu? mit welchen Methoden?) von Interesse. Einzelne Beiträge können dennoch auch im Rahmen von Lehrveranstaltungen verwendet werden und eröffnen Möglichkeiten der Dezentrierung des erziehungswissenschaftlichen Blickes über die westlichen, die nationalen oder die lokalen Fragestellungen hinaus, aber auch jenseits der zumindest in der deutschsprachigen Lehre und Forschung meistens vorherrschenden Dichotomie "entweder geisteswissenschaftliche Pädagogik oder empirische Erziehungswissenschaft."
[1] Cristina Allemann-Ghionda: EinfĂĽhrung in die vergleichende Erziehungswissenschaft. Weinheim und Basel: Beltz (Beltz Studium) 2004, S. 179ff.
EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)
Re-Imagining Comparative Education
Postfoundational Ideas and Applications for Critical Times
New York & London: RoutledgeFalmer 2004
(288+ xiii Seiten; ISBN 0-415-94817-7; 95,00 US-$)
Cristina Allemann-Ghionda (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Cristina Allemann-Ghionda: Rezension von: Ninnes, Peter / Mehta, Sonia (Hg.): Re-Imagining Comparative Education, Postfoundational Ideas and Applications for Critical Times, New York & London: RoutledgeFalmer 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41594817.html
Cristina Allemann-Ghionda: Rezension von: Ninnes, Peter / Mehta, Sonia (Hg.): Re-Imagining Comparative Education, Postfoundational Ideas and Applications for Critical Times, New York & London: RoutledgeFalmer 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41594817.html