Eine erziehungswissenschaftliche Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit, die nicht einfach bloß eine Einführung in die Krippen-, Kindergarten- und Kindertagesstätten-Pädagogik sein will, sondern auf "Kindheit" mit ihren subjektiv-mentalen und objektiv-gesellschaftlichen Verfasstheiten bezogen ist, stößt auf Probleme der Abgrenzung ihres Gegenstandsbereiches, auch in disziplinärer Hinsicht. Da ist einmal das leidige Problem der familialen Früherziehung, die bis zum Beweis des Gegenteils gegenüber aller veranstalteten Erziehung die wirkungsmächtigere ist; da ist des weiteren die disziplinäre Verhältnisbestimmung zu jenem florierenden Wissenschaftsverbund ("a new paradigm of childhood"), für den sich in Deutschland der Name Kindheitsforschung eingebürgert hat; und es stellt sich mit ihr die Frage, ob eine Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit auf Deutschland beschränkt sein kann. Die vier AutorInnen sind sich dieser und anderer Probleme bewusst und verzichten auf eine geschlossene oder gar systematische Darstellung. So sind die vier Kapitel, für die jeweils ein Autor bzw. Autorin verantwortlich zeichnen, zwar nur erste Bausteine für eine Pädagogik der frühen Kindheit; gleichwohl handelt es sich um einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung, um überhaupt zu einer wissenschaftlich fundierten Grundlegung für diese Teildisziplin der Erziehungswissenschaft zu kommen, das heißt zu einer Grundlegung mit Lehrbuchstatus.
Ludwig Liegle liefert den ersten Baustein ("Kind und Kindheit", 14-53). Er plädiert für eine "integrierte Pädagogische Anthropologie als Orientierungsrahmen für die Pädagogik der frühen Kindheit" und liegt damit auf Anschlusslinie zur interdisziplinären Kindheitsforschung. Auch der zweite Baustein von Michael-Sebastian Honig ("Institutionen und Institutionalisierung", 86-121; in der Reihenfolge der Beiträge als dritter Teil) lässt sich auf dieser Linie anordnen, auch wenn bei ihm der Durchbruch zur Sozial-Anthropologie noch außer Reichweite zu liegen scheint; oder lassen sich die interpunktiven Verdichtungszonen im Kindheitsverlauf unterschiedlicher Kulturen nicht als Institutionalisierung begreifen?
Die von Lilian Fried und Barbara Dippelhofer-Stiem beigesteuerten Bausteine bewegen sich auf bekannterem Terrain. Fried setzt sich kritisch mit pädagogischen Programmen auseinander ("Pädagogische Programme und subjektive Orientierungen", 54-85) und fragt sich, warum "internationale und nationale Untersuchungen zwar nachweisen können, dass Bildungsprogramme bei Kindern Wirkungen hervorrufen, aber gleichzeitig belegen, dass diese Wirkungen eher programmunspezifisch sind" (62). Eine Antwort sucht sie in der Differenz zwischen Programm auf der einen und situativer Eigenlogik sowie den subjektiven Orientierungen von Eltern und Erzieherinnen auf der anderen Seite. Der Beitrag von Dippelhofer-Stiem thematisiert "Beruf und Professionalität" (122-153) der Erzieherinnen und gibt einen Überblick "über empirisch gestützte Erkenntnisse aus dem deutschsprachigen Raum" (122).
Nicht so recht nachvollziehbar ist für den Rezensenten die Begründung, welche die Abwesenheit der familialen Früherziehung in einer Pädagogik der frühen Kindheit erklären soll: sie gehöre zu jenen Bereichen, die "nur punktuell reflektiert bzw. erforscht worden" seien (9).
Eine gewisse Ratlosigkeit, vielleicht auch Enttäuschung wird sich bei Jenen einstellen, die in einer Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit etwas über Konzeptionen zu finden hofften: Fröbels Kindergarten-Prinzip, Montessoris Kinderhaus, Volkskindergarten und Pestalozzi-Fröbel-Haus, Waldorf-Kindergarten, Situations-Ansatz und offener Kindergarten, Reggio-Pädagogik, Early Excellence Centre ... In der kritischen Betrachtung von Fried werden sie nicht eingeführt, sondern ihre Kenntnis wird voraus gesetzt. Gleichwohl ist die meta-konzeptionelle Perspektive anregend – für die Eingelesenen.
Andere, die eher an disziplinären Strukturen im Sinne dynamischer Forschungszusammenhänge interessiert sind, werden vielleicht angeregt, Möglichkeiten der Vertiefung und Synthese zu suchen, etwa die Vorüberlegungen Liegles aufzunehmen und die Anthropologie der Kindheit um internationale bio-soziale Perspektiven – jenseits von nature und nurture – zu erweitern, oder Honigs Bemühungen, die Pädagogik der Kindheit für die internationale Kindheitsforschung und cross-cultural-studies anschlussfähig zu halten, systematisch weiter zu treiben.
EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)
Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit
Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag 2003
(181 Seiten; ISBN 3-407-25283-8; 14,90 EUR)
Jürgen Reyer (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jürgen Reyer: Rezension von: Fried, Lilian / Dippelhofer-Stiem, Barbara / Honig, Michael-Sebastian / Liegle, Ludwig: Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit, Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40725283.html
Jürgen Reyer: Rezension von: Fried, Lilian / Dippelhofer-Stiem, Barbara / Honig, Michael-Sebastian / Liegle, Ludwig: Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit, Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40725283.html