EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)

Henry A. Giroux
America on the Edge
Henry Giroux on Politics, Culture, and Education
New York: Palgrave Macmillan 2006
(280 S.; ISBN 1-4039-7160-9; 24,95 USD)
America on the Edge Die US-amerikanische Erziehungswissenschaft wird nicht ohne Grund aus europäischer Perspektive als vorwiegend pragmatisch orientiert und an der Frage: „what works“ interessiert eingeschätzt. Dies erklärt den hohen empirischen Forschungsanteil und die starke sozial- und kognitionswissenschaftliche Ausrichtung bei relativ geringem Anteil geisteswissenschaftlicher Bezüge. Daher ist das, was in der deutschen Tradition unter Allgemeiner Erziehungswissenschaft oder Allgemeiner Pädagogik subsumiert wird, eher unterrepräsentiert. Dies mag rein quantitativ betrachtet eine zutreffende Skizzierung der amerikanischen Erziehungswissenschaft sein, bedeutet aber keinesfalls, dass allgemeine den gesellschaftlichen Kontext reflektierende Diskussionen nicht vorkämen und keine wissenschaftliche und öffentliche Bedeutung hätten. Ein prominenter Vertreter der Allgemeinen Pädagogik, wenn man die Unterscheidung zwischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik zugrunde legt, ist Henry A. Giroux. Giroux ist seit vielen Jahren, mittlerweile lässt sich schon von Jahrzehnten sprechen, ein öffentlicher Intellektueller, der sich ausdrücklich als Pädagoge im Sinne eines cultural workers, eines Kulturarbeiters, versteht. Mit vielen Wegbegleitern wie beispielsweise Stanley Aronowitz oder Michael Apple teilt er eine kritische Grundorientierung, die sich zu einem signifikanten Teil auf die Frankfurter Schule bezieht. Damit hat er viel mit dem gemein, was auch hierzulande unter kritischer Pädagogik firmiert. Angereichert mit dem Instrumentarium der cultural studies und einer zeitweilig stärker an Michel Foucault angelehnten Perspektive analysiert und kommentiert er die komplexen Beziehungen zwischen Kultur, Politik und Erziehung amerikanischer gesellschaftlicher Bedingungen.

Der vorliegende Band, der teils an anderen Orten veröffentlichte Beiträge versammelt, fragt nach den sowohl theoretischen wie handlungspraktischen Konsequenzen dessen, was als konservative, autoritative und antidemokratische Wende in der amerikanischen Politik wahrgenommen wird. Anders gesagt, es geht um eine exemplarische linke Analyse des Nexus von Politik, Kultur und Erziehung.

Der Band wir mit einem Interview eröffnet, in dem Giroux einige grundsätzliche Überlegungen zur Critical Pedagogy und den Aufgaben des öffentlichen Intellektuellen anstellt. In der hier artikulierten Programmatik wird bereits deutlich, dass Giroux die Rolle des distanzierten Beobachters und nüchternen Analytikers ablehnt und stattdessen auf die Praxis einwirken, diese verändern will. In den USA, so seine Überzeugung, herrsche zurzeit augenscheinlich ein Klima, das der selbstkritischen Reflexion eher entgegenstehe: „The United States has become a country that appears to have lost its willingness to be reflective about both its role in the world and its actions at home“ (11). Damit sieht er für sich keine Möglichkeit mehr, sein Projekt – die Untersuchung der Beziehungen zwischen materialen Strukturen und dem, was er als pedagogical force of cultural politics nennt – zu verfolgen. Sein Wechsel an eine kanadische Universität ist Ausdruck der Reaktion nicht nur veränderter persönlicher Arbeitsbedingungen, sondern auch der bereits angesprochenen grundsätzlichen gesellschaftlichen Umorientierung. In Bezug auf Bildung und Erziehung sieht er diese vor allem im Verlust des öffentlichen Raums und der Re-Definition von Bildung als einem kommodifizierten und nicht mehr öffentlichem Gut. Damit verbunden ist seiner Meinung nach sowohl ein reduziertes Verständnis von Staatsbürgerschaft, das sich in erster Linie konsum- und geldorientiert zeige, als auch, damit einhergehend, der Verlust gesellschaftlicher Solidarität, die er mit dem Begriff des Gesellschaftsvertrags belegt. Mit dieser Beschreibung der Veränderungen in den USA sind keine Technikfeindlichkeit und kein Verwerfen populärer Kultur impliziert. Im Gegenteil: Gerade aus pädagogischer Sicht hält Giroux es für unabdingbar, dass die technologischen Entwicklungen in ihren Implikationen für Bildung und Erziehung nicht unterschätzt, sondern ausdrücklich adressiert werden.

Auf diese Einleitung folgen sechs Teile, die eine unterschiedliche Anzahl von Beiträgen vereinen. Der erste große Teil beschäftigt sich mit dem, was Giroux Demokratiekrise und Autoritarismus nennt. Der gemeinsam mit Susan Searls Giroux verfasste Artikel nimmt die Beziehung zwischen Demokratie und der Krise der öffentlichen Bildung in den Blick. Ein weiterer Text befasst sich mit den Implikationen der Gefangenenmisshandlung im Irak und trägt den provokanten Titel „From Auschwitz to Abu Ghraib; Rethinking Education as Public Pedagogy“. Der zweite große Teil, überschrieben mit „Against Fundamentalism; Resisting Religious Extremism and Market Orthodoxy”, vereint zwei Beiträge, welche die Präsenz des Religiösen in der rechten Politik und das Eindringen ökonomischer Denkmuster in die Bildungsinstitutionen thematisieren bzw. kritisieren. Der dritte Teil befasst sich in ebenfalls drei Beiträgen mit dem Oberthema Medienpädagogik. Im vierten Teil werden Aspekte der Überwachungspolitik und Fragen der sozialen Gerechtigkeit diskutiert. Parallel dazu befassen sich zwei weitere Beiträge mit der Militarisierung des öffentlichen Diskurses, die bis zum Hollywood-Film verfolgt wird. Die letzten drei Beiträge sind programmatisch auf eine „Politik der Hoffnung“ ausgerichtet.

Wie dieser knappe Überblick zeigt, handelt es sich bei den in diesem Buch versammelten Beiträgen um ein Thema mit Variationen. Dem/der Lesenden begegnet ein Argument oder Beispiel an verschiedenen Stellen des Buches. Im Grunde ließe sich auch sagen, dass die zentralen Bezüge bereits im einführenden Interview zur Sprache gebracht und dann in den folgenden Beiträgen entfaltet und näher bestimmt werden. Dabei sollte man die Verortung Giroux‘ ernst nehmen. Er schreibt als öffentlicher Intellektueller, nicht als Wissenschaftler. Die Argumentation wird häufig mit einem polemischen Gestus vorgetragen.

Um einen Einblick zu vermitteln, werde ich den gemeinsam mit Susan Searls Giroux verfassten Beitrag „Democracy and the Crisis of Public Education“ vorstellen und an zentralen Stellen mit den anderen Beiträgen verbinden. Die Verfassenden beklagen zunächst die weit verbreitete Tendenz, Staatsbürgerschaft nicht länger mit Freiheit, Solidarität und Partizipation zu verbinden, sondern als An- und Verkauf von Waren aufzufassen (44). Ein allgemeiner Rückzug aus der Sphäre des Politischen sei die Folge.

Diese Tendenz finde ihren Gegenpart in einer Politik, die sich nicht mehr damit befasse, mit welchen Maßnahmen Chancengleichheit begünstigt werden könne, sondern sich auf punitive und sicherheitsorientierte Handlungen beschränke. Dieses Thema wird im vierten Teil nochmals dezidiert aufgenommen. Neben diesem Trend sei ein weiterer zu verzeichnen: eine allgemeine Geringschätzung gegenüber Bildung und Erziehung. Dies führt Henry Giroux darauf zurück, dass mit dem auf Steigerung von Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit für Minderheiten zielenden Engagement ein Backslash eingesetzt habe, in dessen Verlauf ein auf individuellen Rechten begründetes Erziehungsverständnis Fuß fasse. Die Programme freier elterlicher Schulwahl und Privatisierung spiegelten diese veränderte Auffassung wider. Mit der Publikation von „A Nation at Risk“ unter der Reagan-Administration sei dieser Trend noch weiter verstärkt worden. In dieser Beschreibung galten Schulen als „big government monopoly“ (vgl. 44), ineffizient und ineffektiv, nicht in der Lage, Amerikas Schülerpopulation für die Erfordernisse der globalisierten Welt zu qualifizieren. Ähnlich wie die Schulen sei auch der tertiäre Bildungssektor unter Privatisierungsdruck geraten – auch dieses Thema wird an anderer Stelle nochmals aufgenommen. Seien die Schulen auf das Beschäftigungssystem hin orientiert, so seien die Universitäten nach dem unternehmerischen Modell gestaltet. Nicht mehr die vielfältigen – nicht zuletzt auch öffentlichen – Aufgaben der Professorenschaft ständen im Mittelpunkt, sondern die Höhe der eingeworbenen Mittel. Beide Institutionen, die Schulen und die Hochschulen, würden damit ihres öffentlichen Charakters verlustig gehen.

Die beiden angesprochenen Entwicklungen – ein breiter Rückzug aus der politischen Beteiligung und die Missachtung der Erziehung – seien zwar nicht neu, würden aber selten in einem Zusammenhang gesehen. So komme es, dass auch die mit Erziehung befassten Aktivisten selten die Brücke zur demokratischen Funktion der Erziehung schlügen und sich stattdessen der allgemeinen Orientierung direkt anschlössen: Erziehung diene in erster Linie der Qualifikation und der Vorbereitung für den Arbeitsmarkt. Als Beleg für die kombinierte Krise des Erzieherischen und des Politischen führen sie die weitgehend unhinterfragte Aneignung der offiziellen Darstellung zum Hintergrund des Irakkrieges an und fragen rhetorisch: What does this represent, if not a crisis of pedagogy – both formally and informally – in the public sphere? (45).

Besonders hart geht das Autorenteam mit den Medien ins Gericht, die entweder parteilich oder unfähig seien, ihre Rolle als kritische Instanzen wahrzunehmen. Die Kombination aus Komplizität und Unfähigkeit führe dann dazu, dass die enormen Summen, die der Irakkrieg verschlinge, ebenso selbstverständlich bereit gestellt wie die vergleichsweise sehr bescheidenen Summen zur Investition in die Erziehung besonders bedürftiger Schüler und Schülerinnen verwehrt würden. Hinzu komme dann noch eine moralisch-ethische Krise, deren Inbegriff die mit dem Namen Abu Ghraib verbundenen Ereignisse seien. Das komplexe Beziehungsgeflecht aus Wirtschaftsinteressen, einer tendenziell antidemokratischen Politik und Medieneinfluss gekoppelt mit einer Entwertung von Erziehung, die nur auf ihre allokativen Aufgaben orientiert werde, führe, so Henry und Susan Giroux, zu einer Fehlentwicklung im amerikanischen Demokratieverständnis. Als Kronzeuge wird unter anderem John Dewey angerufen, der, ebenso wie bereits Thomas Jefferson, immer auf den engen Zusammenhang von Demokratie und dem Bildungsniveau der Bevölkerung aufmerksam gemacht habe. – Diese Perspektive gälte es einzufordern und zurück zu gewinnen, so die abschließende Forderung der Autoren.

Sicher wäre hier unter ideologiekritischer Perspektive viel zu kommentieren, nicht zuletzt auch in Bezug auf unterschiedliche Traditionen im Verhältnis von Wissenschaftsverständnis und politischen Bezügen. All dies möchte ich hier nicht zum Thema machen, aber eines sollte bedacht werden. Erziehung und Bildung sind immer gesellschaftlich umkämpfte Begriffe. Die Verschiebung in der Bedeutung, von der Giroux spricht, ist jenseits aller Ideologiekritik auch außerhalb der USA zu beobachten, und die Frage, wie sich die Vorstellung von Bildung und Erziehung als individuellem Recht zum Konstrukt des Gesellschaftsvertrags verhalten und welche Rechte darin die der Minderheiten spielen, ist durchaus zu diskutieren. Dahinter steht die grundlegende Frage, zu der sich die Pädagogik verhält und die Erziehungswissenschaft reflektiert nach dem Verhältnis zwischen individuellen und Gruppenrechten, nach individuellen und kollektiven Identitäten.
S. Karin Amos (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
S. Karin Amos: Rezension von: Giroux, Henry A.: America on the Edge, Henry Giroux on Politics, Culture, and Education. New York: Palgrave Macmillan 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40397160.html