Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten liegt nunmehr fast zwei Jahrzehnte zurück und die Verarbeitung der gesellschaftlichen und individuellen Folgen dauert an. Die Pädagogik – und insbesondere die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung – bildet hier keine Ausnahme, da nach der Wende im Laufe der 1990er Jahre die „Geistigbehindertenpädagogik“ in den neuen Bundesländern inhaltliche und institutionelle Umstrukturierungen erfahren hat, die sowohl die Disziplin, als auch die Profession betreffen. Analog zu den kaum noch auffindbaren Resten der Berliner Mauer gilt aber andererseits, dass schon jetzt die DDR-Vergangenheit und somit auch ein Stück deutscher Bildungsgeschichte in Vergessenheit zu geraten droht: Die Theorie und Praxis der Erziehung, Bildung und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR war bislang nur vereinzelt und ansatzweise Gegenstand einer historisch-kritischen Analyse.
Vor diesem Hintergrund fokussiert Sebastian Barsch in der ersten Monographie zum Thema „eine umfassende Darstellung der rechtlichen, ideologischen und institutionellen Rahmenbedingungen für die Lebenssituation geistig behinderter Menschen in der DDR“ (10) sowie eine Auseinandersetzung mit der Theoriebildung der Rehabilitationspädagogik und „ihrer historischen Entfaltung im Wissenschaftsbetrieb“ (ebd.). Der Anspruch liegt somit nicht zuletzt in einer umfassenden Bestandsaufnahme der Lebens- und Bildungssituation von Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR.
Neben den für eine Dissertation üblichen Angaben zu Forschungsstand, Quellenlage und Methodik benennt der Autor folgende inhaltliche Schwerpunktsetzungen, die in unterschiedlicher Intensität behandelt werden: Politisch-ideologische Leitlinien der „Volksbildung“ und des Gesundheitswesens, sozialistische Bildung und Erziehung „geschädigter“ Menschen, Rechtsvorschriften für Schulen, Förderungs- und Betreuungseinrichtungen, Sozialgesetze und ihre Auswirkungen auf die Familien- und Jugendhilfe, institutionelle Betreuung und Unterbringung geistig behinderter Menschen und das Alltagsleben inklusive einer exemplarischen Darstellung der „Wirklichkeitsebene“ (163).
Während die meisten Punkte methodisch im Sinne einer hermeneutischen Analyse zeitgenössischer (Fach)Literatur der DDR – ergänzt durch Interviewauszüge und die Sichtung von Archivbeständen realisiert werden, nutzt der Autor zur Annäherung an die Lebenswirklichkeit – neben der Auswertung zweier Privatarchive – vor allem die Interviews mit insgesamt elf Zeitzeugen (darunter Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung, Psychiater, Lehrerinnen und Wissenschaftler, z.B. ehemalige Mitarbeiter der Sektion Rehabilitationspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin). Besonders intensiv wird dieser qualitativ-biographische Zugang bei der Darstellung der Alltagswirklichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung in dem Kapitel „Christine und Hermine Fraas: Leben mit Down-Syndrom in der DDR“ genutzt (163). Die zuvor primär auf Textquellen basierende Analyse wird hier durch ein Stück gelungener „Oral History“ ergänzt.
Als ein Ergebnis seiner historischen Arbeit betont Sebastian Barsch, dass sich einseitige Sichtweisen der Rehabilitationspädagogik und der Lebenswirklichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR verbieten. Der Autor reproduziert somit nicht die Dichotomie der im Alltag häufig anzutreffenden pauschalen Verurteilung einerseits und der Verteidigung der in diesem Zusammenhang relevanten Verhältnisse andererseits. Sebastian Barsch macht hingegen auf diskontinuierliche Verläufe innerhalb der DDR und im Vergleich zur Entwicklung der Disziplin und Profession in der BRD aufmerksam.
So wird z.B. auf die dreizügige Gliederung der Hilfsschule (A, B und C) in der DDR hingewiesen, welche die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung bereits in den 1960er Jahren ermöglichte. In der weiteren Entwicklung der Rehabilitationspädagogik der DDR wurde aber der Personenkreis, der in der BRD in den 1970er Jahren durchgängig die Schule für Geistigbehinderte besuchte, fast vollständig dem Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Volksbildung entzogen und dem Gesundheitswesen zugeordnet, so dass die so genannten „schulbildungsunfähigen förderungsfähigen Intelligenzgeschädigten“ rehabilitationspädagogischen Fördereinrichtungen zugewiesen wurden. Unter der Leitung von Sigmar Eßbach wurden ab den 1970er Jahren in der Fachrichtung „Pädagogik der schulbildungsunfähigen förderungsfähigen Intelligenzgeschädigten“ Richtlinien für die Förderung erarbeitet, die später als „Grundlagenmaterial zur Gestaltung der rehabilitativen Bildung und Erziehung in Rehabilitationspädagogischen Förderungseinrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens der DDR“ veröffentlicht wurden. Neben der Aufteilung des Bildungsbegriffs in „Schulbildungsfähigkeit“ und der Bildungsfähigkeit im Rahmen von Fördereinrichtungen blieb aber als weiteres zentrales Problem, dass die „förderungsunfähigen“ Kinder und Jugendlichen, d.h. Kinder mit schweren und mehrfachen Behinderungen weiterhin keine Bildungs- und Förderangebote erhielten, sondern entweder bei den Eltern blieben oder in Großeinrichtungen untergebracht wurden, wo sie oftmals zu einer menschenunwürdigen Anstaltsbiographie verurteilt waren. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein rein historisches Problem, Deinstitutionalisierung und Enthospitalisierung bleiben weiterhin in Ost wie West notwendige Leitgedanken. Insbesondere Menschen mit Komplexer Behinderung laufen Gefahr, sich auch im wiedervereinigten Deutschland am Rand oder gar außerhalb des aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurses wieder zu finden. Somit kann die hier vorgelegte historische Analyse dazu beitragen, auch im aktuellen bildungspolitischen Kontext die Sensibilität für Exklusionsprozesse wach zu halten.
Zahlreiche Archive von Großeinrichtungen (Psychiatrien) blieben dem Autor nach eigenen Angaben verschlossen und er weist ferner darauf hin, dass die genutzten Quellen, mit deren Hilfe die Alltagswirklichkeit eingefangen wurde, aufgrund ihrer privilegierten Stellung (Familie, Reformeinrichtung) nur bedingt repräsentativ seien. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, inwieweit enger formulierte Fragestellungen in Verbindung mit dem „Vetorecht der Quellen“ in Zukunft noch weitere Lesarten und alternative Rekonstruktionen dieses Teils der DDR-Geschichte zulassen.
Sebastian Barsch hat mit dieser ersten Monographie zur Bildung, Erziehung und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR ein durchgängig lesenswertes und auch dringend notwendiges Buch geschrieben, das sich durch eine vorsichtige Bewertung auszeichnet, ohne auf notwendige Kritik zu verzichten. Wer sich über einen Teil rehabilitationspädagogischer Theorie und Praxis aufklären will, der seit der Wende im Fachdiskurs nur äußerst selten sichtbar geworden ist, findet hier die entsprechende Lektüre.
EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)
Geistig behinderte Menschen in der DDR
Erziehung – Bildung – Betreuung
Oberhausen: ATHENA 2007
(240 S.; ISBN 978-3-8989-6302-2; 34,50 EUR)
Oliver Musenberg (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver Musenberg: Rezension von: Barsch, Sebastian: Geistig behinderte Menschen in der DDR, Erziehung – Bildung – Betreuung. Oberhausen: ATHENA 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3898963022.html
Oliver Musenberg: Rezension von: Barsch, Sebastian: Geistig behinderte Menschen in der DDR, Erziehung – Bildung – Betreuung. Oberhausen: ATHENA 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3898963022.html