EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)

Michael-Sebastian Honig
Ordnungen der Kindheit
Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung
Weinheim: Juventa 2009
(248 S.; ISBN 978-3779-91547-8; 19,50 EUR)
Ordnungen der Kindheit Wohin die Kindheitsforschung geht und wie sie die Ordnungen der Kindheit aufdeckt, aber auch selbst produziert, sind Fragen des vorliegenden Bandes. Dabei bekennt der Herausgeber, Michael-Sebastian Honig, dass es „insgeheim“ eine Leitfrage des Buches gegeben habe: „Welche anderen Fragen verbergen sich hinter der Frage nach dem Kind? Welchen Stellenwert wird das Konstrukt der generationalen Ordnung als Antwort auf diese Fragen haben?“ (12) Warum diese Fragen „insgeheim“ leitend gewesen sein sollen, hat sich der Rezensentin nicht erschlossen, schließlich begleitet dieses „Leitmotiv“ die deutschsprachige soziologische Kindheitsforschung spĂ€testens seit Honigs „Entwurf einer Theorie der Kindheit“ von 1999.

Die Reihe „Kindheiten – Neue Folge“ legt mit diesem Sammelband einen weiteren wichtigen Diskussionsbeitrag zur soziologischen Kindheitsforschung vor und wird dort Impulse setzen. Die Autorinnen und Autoren, Honig, Heinz Hengst, Helga Kelle, Helga Zeiher, Thomas Olk, Doris BĂŒhler-Niederberger und Heinz SĂŒnker sowie Andreas Lange und Johanna Mierendorff, prĂ€gen seit vielen Jahren den soziologischen ‚state of the art‘ der Forschungen zu Kindern und Kindheit.
Die insgesamt sieben BeitrĂ€ge sind – mit Ausnahme des Artikels von Helga Kelle – zunĂ€chst auf Englisch 2009 im „The Palgrave Handbook of Childhood Studies“ von Jens Qvortrup, William A. Corsaro und Michael-Sebastian Honig [1] erschienen. In diesem englischsprachigen Band stehen sie in einem deutlich grĂ¶ĂŸeren Zusammenhang. Aus diesem herausgelöst, werden sie im vorliegenden Buch der deutschen Community prĂ€sentiert und diese besteht aus der „Diskussionsgemeinschaft der deutschsprachigen interdisziplinĂ€ren Kindheitsforschung“, aus allen „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich mit Kindern und Kindheit beschĂ€ftigen und erfahren wollen, worĂŒber und auf welchem Niveau die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung diskutiert“ und aus fortgeschrittenen Studierenden (14). Ein Schelm, der fragt, fĂŒr welche Gruppe die Zusammenfassungen der BeitrĂ€ge gleich zweimal abgedruckt werden, einmal im Anschluss an die einleitende Zusammenfassung des Herausgebers als Überblick ĂŒber den Sammelband und ein weiteres Mal am Anfang eines jeden Einzelbeitrages. Soll sich die Position der deutschsprachigen eigenstĂ€ndigen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung etwa in die Leserinnen und Leser einschreiben? Erfolgt hier eine Ordnung der Kindheit ĂŒber Komprimierung und Wiederholung?

Die Autorinnen und Autoren im Band entfalten ihre Positionen alle innerhalb der soziologischen Kindheitsforschung. Hinter manchen Aussagen verbirgt sich eine grĂŒndliche Skepsis gegenĂŒber jedem pĂ€dagogischen Zugriff auf Kinder und der damit in Verbindung gebrachten PĂ€dagogik und Erziehungswissenschaft. Angesichts dessen scheint eine Verortung in der soziologischen Kindheitsforschung jedenfalls auch fĂŒr die hier vertretenen Erziehungswissenschaftler und Erziehungswissenschaftlerinnen unverdĂ€chtig. So muss man vielleicht auch die Position des Herausgebers verstehen, wenn er betont, es gehe im Kern nicht um eine Offenheit fĂŒr andere Positionen, „sondern um das Problem der Gegenstandskonstitution und damit um BegrĂŒndung und Zukunft einer eigenstĂ€ndigen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung“ (12). Was das EigenstĂ€ndige ist und wie es sich möglicherweise von einer eher erziehungswissenschaftlichen oder einer kulturwissenschaftlichen Kindheitsforschung unterscheidet, bedarf sicherlich der diskursiven sowie wissenschaftlich und intellektuell großzĂŒgigen und fĂŒr Kontroversen offenen Entfaltung.

Die BeitrĂ€ge im Band sind ausnahmslos lesenswert und von hoher QualitĂ€t. Honigs Beitrag ĂŒber „Das Kind der Kindheitsforschung. Gegenstandskonstitution in den childhood studies“ eröffnet das Buch. Darin vertritt er die These, dass sich die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung von den anderen Wissenschaften durch die systematische Differenzierung von Kindern und Kindheit unterscheide. Explizit beschĂ€ftige sie sich nicht mit Kindern, weshalb es auch nicht ihre Aufgabe sei, sich fĂŒr Rechte und Anerkennung einzusetzen, „ihr Thema ist vielmehr, was die Neulinge einer Gesellschaft zu ‚Kindern’ macht“ (26). Sehr aufschlussreich ist die daran anschließende dichte Diskussion der Entwicklung der Kindheitsforschung, ihrer VerĂ€stelungen und der Interpretation der als Klassiker der Kindheitssoziologie bezeichneten Autoren wie Matthew Speier. Honig erinnert mit guten GrĂŒnden an diese Traditionen und er offeriert sie den Leserinnen und Lesern gelehrt und stringent. Schließlich befasst sich der Autor mit der generationalen Ordnung und ihrer spezifischen Ordnungsfunktion von Kindheit und kommt abschließend zu der EinschĂ€tzung, dass eine „Ent-PĂ€dagogisierung der generationalen Ordnungen“ festzustellen sei, mit der sich auch die „alten MachtverhĂ€ltnisse“ auflösten (49). Abgesehen davon, ob diese Analyse historisch und empirisch ĂŒberzeugt, stellt sich hier die Frage, welche Macht an die Stelle der alten getreten ist und ob es theoriesystematisch genĂŒgt, auf die Praktiken der Unterscheidung und ihrer Objektivationen, wie Honig einklagt, zu setzen. Eines wird sehr deutlich, wenn Honig von der Kindheitsforschung spricht, dann versteht er darunter eine Kindheitssoziologie, die keinen Begriff vom Kind voraussetzt und die nicht „kinderfreundlich“, also normativ ist. Die Ineinssetzung von Kindheitsforschung und Kindheitssoziologie und die elegante ÜberfĂŒhrung in die childhood studies ist letztlich eine Setzung, die aber möglicherweise mehr blinde Flecken erzeugt, als sie aufzudecken verspricht.

Der Beitrag von Heinz Hengst „Generationale Ordnungen sind nicht alles. Über kollektive IdentitĂ€t und Erfahrungskonstitution heute“ greift die Frage nach der Reichweite der generationalen Systematik fruchtbar auf. Ihm geht es in Anlehnung an Karl Mannheim um die Genese von kollektiver IdentitĂ€t und um konjunktive ErfahrungsrĂ€ume heutiger Kinder. Hier werden neue ZugĂ€nge von Kindern zur Kultur thematisiert und dargelegt, wie Initiationen und Entgrenzungen in der durch Medien geprĂ€gten Welt funktionieren.
Auf diesen Artikel folgt der von Helga Kelle ĂŒber „Kindliche Entwicklung und die PrĂ€vention von Entwicklungsstörungen. Die frĂŒhe Kindheit im Fokus der childhood studies“. Den Ausgangspunkt bilden die Befunde zur historischen Herausbildung des Entwicklungsparadigmas und seiner Bedeutung fĂŒr medizinische und pĂ€dagogische Normierungen des Kinderkörpers. Die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung respektive die „auf die Gegenwart bezogene empirische Kindheitssoziologie“ hat sich bislang, so Kelle, nicht genĂŒgend mit dem Gegenstand der kindlichen Entwicklung und letztlich der Wirkung von Normierungen befasst. DarĂŒber hinaus zeigt sie auf, dass die Kindheitssoziologie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der frĂŒhen Kindheit bislang anderen Disziplinen ĂŒberlassen hat. Ihre eigenen Forschungen zur Normalisierung der Kindheit und der Ambivalenz von HeterogenitĂ€t und Standardisierung erklĂ€rt sie deshalb zu einem aktuellen Forschungsschwerpunkt der „early childhood studies“.

Helga Zeiher analysiert im Beitrag „Ambivalenzen und WidersprĂŒche der Institutionalisierung von Kindheit“ die Kategorien Zeit und Raum als Mittel der Organisation. Dabei wird insbesondere deutlich, dass hier noch viele Fragen von Kindheit offen sind, so wie insgesamt Zeit eine noch zu wenig systematisch berĂŒcksichtigte Kategorie kindheitstheoretischer BezĂŒge darstellt. Wie etwa Zeitstrukturen und Ökonomisierungszumutungen Kindheit prĂ€gen, hilft aktuelle Reformprozesse im pĂ€dagogischen Bereich zu verstehen.

Ein in seiner analytischen Stringenz herausragender Beitrag ist der von Thomas Olk zu „Ungleichheit und Gerechtigkeit im GenerationenverhĂ€ltnis. Sind Kindheit und Kinder die Verlierer der Sozialreform?“ Olks Überlegungen enthalten die Problematik, wer im GenerationenverhĂ€ltnis eine eingeschrĂ€nkte Autonomie hat und partielle AbhĂ€ngigkeiten erlebt. Systematisch werden die unterschiedlichen Konzepte von generationaler Ungleichheit und Gerechtigkeit dargelegt und diskutiert. Er macht darauf aufmerksam, dass in der internationalen Sozialpolitik und Sozialtheorie vier verschiedene VerstĂ€ndnisse von Generationen diskutiert werden und diese jeweils Implikationen fĂŒr die Frage nach Kindheit, Ungleichheit und Gerechtigkeit haben. Sind Kinder im System intergenerationaler Verteilung von Ressourcen eine marginale Gruppe, ist die Frage, die Olk prĂ€zise und fundiert beantwortet. Er zeigt auf, dass und wie der deutsche Sozialstaat in synchroner und diachroner Weise eine die einzelnen Generationen prĂ€gende Wirkung erzeugt. Der auch gerechtigkeitstheoretische Zugang sowie der systematische internationale Vergleich von Wohlfahrtsstaatstypen ermöglicht eine Diskussion, die nicht – wie so oft – die Interessen von Kindern gegen die der Ă€lteren Menschen ausspielt. Wesentlich ist in seiner Argumentation, dass die produktiven Leistungen von Kindern anerkannt werden mĂŒssen, denn so wĂŒrde das Bild, sozialstaatliche Leistungen fĂŒr Kinder und Familien seien mehr oder weniger verdiente Wohltaten, grundlegend revidiert.

An Olks Analyse schließt der Beitrag von Doris BĂŒhler-Niederberger und Heinz SĂŒnker zur „Gesellschaftlichen Organisation von Kindheit und Kindheitspolitik“ an. Der Konsens, Kinder als Zukunft einer Gesellschaft anzusehen, habe keine Einigkeit darĂŒber ermöglicht, wie mit ihnen umzugehen sei, ist die AusgangsĂŒberlegung der beiden Wuppertaler. In dem Artikel werden die Interessen der Gesellschaft an Kindern und ihre Zugriffsweisen eloquent rekonstruiert und auch die Anteile der Wissenschaften nicht ausgespart. Im Mittelpunkt stehen dann die Entwicklung der Sozialpolitik im 20. Jahrhundert und die Überhöhung von Unschuld und Macht. Hier wird ĂŒberzeugend aufgezeigt, wie gesellschaftliche Marginalisierung und moralische Überhöhung einander bedingen und verstĂ€rken.

Der Sammelband schließt mit einem sehr lesenswerten und Ordnung ermöglichenden Aufriss ĂŒber „Methoden der Kindheitsforschung. Überlegungen zur kindheitssoziologischen Perspektive“ von Andreas Lange und Johanna Mierendorff. Geboten wird von den beiden ein nicht nur fĂŒr Studierende hilfreicher Überblick ĂŒber die Standards sozialwissenschaftlicher Forschung und methodischer Angelpunkte. Es gelingt ihnen dabei, sowohl die StĂ€rken der einzelnen ZugĂ€nge als auch die SchwĂ€chen zu benennen und somit immer auch die Grenzen aufzuzeigen. So endet dieser Band ĂŒber Ordnungen der Kindheit, indem er seinen Leserinnen und Lesern die „Werkzeugkiste des Kindheitsforschers“ anbietet und zur Kindheitsforschung einlĂ€dt. Das dĂŒrfte auch diejenigen interessieren, die nicht automatisch Kindheitsforschung mit Kindheitssoziologie gleichsetzen.

Alles in allem: Ein lesenswerter Zugang zu den „Ordnungen der Kindheit“ auf höchstem Niveau, der mit einem deutlichen Besitzanspruch die Kindheitsforschung betrachtet.

[1] Qvortrup, Jens / Corsaro, William A. / Honig, Michael-Sebastian (Eds.). The Palgrave Handbook of Childhood Studies. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009.
Sabine Andresen (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Andresen: Rezension von: Honig, Michael-Sebastian: Ordnungen der Kindheit, Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung. Weinheim: Juventa 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/377991547.html