Im Herausgeberband von Karim Fereidooni mit dem Titel „Das interkulturelle Lehrerzimmer – Perspektiven neuer deutscher Lehrkräfte auf den Bildungs- und Integrationsdiskurs“ befinden sich zahlreiche Beiträge, die weit über das Lehrerzimmer hinausreichen. Ja, man könnte fast sagen, dass es ein wenig bedauerlich ist, dass die umfassende Sammlung von wissenschaftlichen Beiträgen und persönlichen Erfahrungsberichten, die alle von Autorinnen und Autoren verfasst wurden, die als sogenannte „neue“ deutsche Lehrkräfte tätig sind, unter diesen Titel gefasst wird. Nichtsdestotrotz tragen die 27 Beiträge dieses Buches zu einem deutlich erweiterten Blick auf die Auseinandersetzung mit den Folgen von Migrationsprozessen und Integrationseinforderungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene sowie für den schulischen Bereich bei.
Bevor genauer auf Inhalte des Bandes eingegangen wird, gilt es zunächst zu klären, wer in diesem Buch überhaupt als „neue“ deutsche Lehrkraft bezeichnet wird. Gemäß Fereidooni sind es in Anlehnung an Foroutan [1] insbesondere drei Merkmale, die diese Personengruppe kennzeichnen. Allerdings lassen diese einen deutlichen Interpretationsraum offen – gewollt oder ungewollt –, sowohl bezüglich der Bezeichnung „neu“, als auch „deutsch“ und „Lehrkräfte“. So spielt erstens die nationale, ethnische und religiöse Herkunft für die Definition „neue deutsche Lehrkräfte“ absichtlich keine Rolle, hingegen ist, so der Autor in der Einleitung der Publikation, „ihre (positive oder negative) Einstellung zur gesellschaftlichen Pluralität“ (15) das entscheidende Kriterium. Diese eingeschränkte Fokussierung auf die Einstellung ist nicht einfach zu verstehen und würde wahrscheinlich eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Foroutan erfordern. Eine ausführlichere Erläuterung durch Fereidooni zu dieser unerwarteten, wenn nicht sogar irritierenden Festlegung zu Beginn des Buches, wäre daher sicher wünschenswert. Zweitens sollen sich die Beitragenden im Sinne „neuer deutscher Lehrkräfte“ der deutschen Gesellschaft zugehörig fühlen, die deutsche Sprache beherrschen und einen sozialen Aufstieg durch Bildung erreicht haben. Und drittens ist in der vorliegenden Publikation mit der Bezeichnung „neue Lehrkräfte“ eine weite pädagogische Berufsgruppe angesprochen, die von Lehrkräften, die an der obligatorischen Schule unterrichten bis hin zu wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Lehrstuhlinhaberinnen und -inhabern reicht. Aufgrund der Offenheit des vorliegenden Konzepts dieser „neuen“ Lehrpersonen bleibt in diesem Band allerdings ungeklärt, wie die Suche und Auswahl der Beitragenden zustande kam und inwiefern sie die Gruppe „neuer Lehrpersonen“ tatsächlich repräsentieren.
Interessant ist, dass der Herausgeber den Autorinnen und Autoren fünf Fragen vorgelegte, die sie beim Verfassen ihres Beitrages leiten sollten. Diese beziehen sich auf Ansichten zum gesellschaftlichen Umgang mit Migrations- und Integrationsdiskursen, auf Meinungen hinsichtlich der Ungleichverteilung von Schulerfolgen im deutschen Bildungssystem, auf mögliche Reformvorschläge, auf die eigene Bildungsbiografie sowie auf Erfahrungen als Lehrkraft. Leider bleibt es seitens des Herausgebers offen, worin die Begründung für die Auswahl dieser Fragen lag, respektive wie sie zustande kam: waren es seine Ideen oder hat er sie gemeinsam mit den Beitragenden entwickelt? Weiterhin wäre es interessant zu wissen, weshalb doch nicht alle Beitragenden auf diese Fragen eingegangen sind. Wünschenswert wäre es zudem – dies könnte vielleicht in einer möglichen weiteren Auflage ergänzt werden – dass die heterogenen Perspektiven der Beitragenden abschließend durch den Herausgeber diskutiert, strukturiert oder reflektiert würden, was insbesondere unter Einbezug der eingangs gestellten Fragen interessant sein könnte.
Gegliedert ist die Publikation in zwei Teile, die Perspektiven aus der Wissenschaft (Teil I) sowie Perspektiven aus der Schule/Praxis (Teil II) umfassen, die beide wiederum in mehrere Unterkapitel eingeteilt sind. Die Titelbezeichnungen und die Logik der zugeordneten Beiträge sind nicht immer ganz überzeugend. Vielleicht widerspiegeln sie in gewisser Weise die Heterogenität der Beitragenden: ihre Themenwahl und ihren Schreibstil, der von wissenschaftlichen Texten bis hin zu persönlichen Erfahrungsberichten im Aufsatzstil reicht. Dass die Publikation in der Reihe „Research“ des Springerverlags erscheint, ist daher einerseits etwas erstaunlich, andererseits verweist dies auf die Relevanz, die der Thematik berechtigterweise zugesprochen wird.
Zu den Beiträgen des Bandes: Im Teil I (= Perspektiven aus der Wissenschaft) erfolgen einleitend vier Beiträge, die sich mit dem Migrations- und Integrationsdiskurs auseinandersetzen. Karim Fereidooni zeigt Einblicke in Entwicklungen der bundesdeutschen Migrations- und Integrationspolitik seit 1945 auf, Arian Schiffer-Nasserie befasst sich mit den Auseinandersetzungen zur Chancengerechtigkeit in schulischer sowie sozialer Hinsicht und Yalcin Yildiz thematisiert die Rückkehrprozesse von „bildungserfolgreichen Deutsch-TürkInnen“ in die Türkei. Klaus-Peter Hufer schlägt ergänzend ein „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ vor.
Mit der Thematik von Lehrkräften mit Migrationshintergrund setzen sich die nachfolgenden drei Beiträge auseinander, die von Drorit Lengyel und Lisa Rosen, Magdalena Knappik und Inci Dirim sowie Yüksel Ekinci-Kocks verfasst wurden. Die Autorinnen stützen ihre Beiträge auf empirische Erkenntnisse und tragen dazu bei, das manchmal bildungspolitisch etwas verkürzt formulierte Postulat, dass mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund zur Lösung von Herausforderungen im Kontext anhaltender Migrationsprozesse beitragen würden, differenziert zu klären. Dabei kommt insbesondere zum Ausdruck, dass einzig die Tatsache, dass eine Lehrperson über einen eigenen Migrationshintergrund verfügt, noch nicht per se bedeuten muss, dass sich diese als Lehrperson mit besonderen Kompetenzen im Umgang mit Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern mit Migrationshintergrund versteht. Darüber hinaus wird durch eine Überbetonung des Migrationshintergrunds durch Außenstehende die Selbstbestimmung der Identität der betroffenen Lehrpersonen deutlich eingeschränkt, was bis hin zu einer Stigmatisierung reichen kann.
Bildungspolitische Auseinandersetzungen zur Situation von Schülerinnen und Schülern mit einem sogenannten Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem und in den Schulen folgen von Coskun Canan, der sich mit „Einheimischen mit türkischem Hintergrund“ befasst sowie von Kemal Bozay, Ebru Tepecik und Nausikaa Schirilla, die sich mit Potenzialen und Herausforderungen beschäftigen, die in Programmen und didaktischen Konzepten zum Umgang mit kultureller Vielfalt liegen können.
Abgeschlossen wird der erste Teil dieses Bandes mit Reformvorschlägen für ein gerechtes deutsches Bildungssystem. Karim Hassan befasst sich mit dem Konzept der „Hybridität“ im Kontext interkultureller Bildung, Erol Yildiz thematisiert das Ziel einer „diversitätsbewussten Bildung“ anstelle von „Selektionsprozessen“ und Antonietta P. Zeoli richtet den Blick auf eine Schule mit „Menschen“ anstelle von „Zuwanderern“. Inwiefern Vielfalt in der Schule ein Potenzial für „wirksame Lernprozesse“ darstellen kann, wird im Beitrag von Anne Sliwka aufgezeigt und Hamid Reza Yousefi befasst sich mit „Interkulturalität als akademischer Lehrdisziplin“.
Im Teil II (= Perspektiven aus der Schule) geht es zunächst erneut um den „Migrations- und Integrationsdiskurs“, wobei hier die Thematisierung aus der Perspektive von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund erfolgt. Shahriar Parvizi plädiert in ihrem Beitrag für eine anders gedachte Integration, die viel mehr auf gegenseitiges Verständnis als auf einseitige Anpassungserwartungen basiert. Eine weitere Lehrkraft, die unbekannt bleiben möchte, bedankt sich für ihre Bildungsmöglichkeiten in Deutschland. In beiden Beiträgen dominiert die lebensgeschichtlich geprägte Auseinandersetzung mit der Anerkennung als Flüchtling.
Persönliche Bildungsbiografien werden ebenso von den nachfolgenden vier Autorinnen und Autoren geschildert. Während eine Pendelmigration zwischen Deutschland und der TĂĽrkei die Kindheit von NilgĂĽn Isfendiyar prägte, schildert Jelena Antonijevic, dass sie beschloss, Lehrerin zu werden, weil sie fĂĽr ihre SchĂĽlerinnen und SchĂĽler mit Migrationshintergrund eine Vorbildrolle ĂĽbernehmen möchte. Dabei betont sie, dass sie es sich als Kind gewĂĽnscht hätte, auf eine Lehrperson mit Migrationshintergrund im Sinne eines Vorbilds zu treffen. Mechanismen der „Fremd- und Selbstethnisierung“ in der Schulzeit beschreibt eine weitere Lehrperson, die unbekannt bleiben möchte. Ḉağatay GĂĽrgen schreibt ĂĽber seine behĂĽtete Kindheit und den positiven Einfluss, den die Personen in seinem Umfeld auf ihn ausĂĽbten, weil sie an seinen Bildungserfolg glaubten.
Andrzej Bojarski, Muhammed Giraz, Tagrid Yousef und Halis Kirdis schildern ihre erfreulichen und/oder weniger erfreulichen beruflichen Erfahrungen, die sie als Lehrpersonen an deutschen Schulen machten. Ebenso berichten sie von Erwartungen, die von deutschen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern an sie gerichtet wurden. Abgeschlossen wird die Publikation mit einem bildungspolitischen Beitrag von Andreas Prieb, der aus der Perspektive eines Berufschullehrers verschiedene Reformen entwirft, die zu einer interkulturellen Öffnung des deutschen Schulsystems beitragen könnten.
Die Intention des Buches, die Perspektive auf Migrations- und Integrationsdiskurse in Deutschland respektive im deutschen Bildungssystem durch Erfahrungen und Ansichten von Lehrpersonen zu erweitern, die persönlich von der Thematik betroffen sind, ist gelungen. Die Vielzahl unterschiedlicher Autorinnen und Autorinnen, die dafür gewonnen werden konnte, ist beachtlich und ihre Beiträge können sicher als bereichernde Quellen in die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen einbezogen werden, nicht zuletzt wenn es darum geht, Erwartungen und Haltungen zu thematisieren.
Die Publikation gibt darüber hinaus einen erneuten Anstoß, in zukünftigen Studien – seien sie erziehungswissenschaftlich oder bildungspolitisch ausgerichtet – das Desiderat noch verbindlicher einzulösen, Erfahrungen und Ansichten von Personen mit Migrationshintergrund einzubeziehen und dabei auch die bildungserfolgreichen Gruppen zu berücksichtigen, damit wegweisende Erkenntnisse über unterstützende Faktoren und Gelingensbedingungen im Kontext von Bildung und Integration gewonnen und fruchtbar gemacht werden können.
[1] Foroutan, Naika (2010). Neue Deutsche Postmigranten und Bindungsidentitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland? In: APuZ, 46-47, S. 9-15.
http://www.bpb.de/apuz/32367/neue-deutsche-postmigranten-und-bindungs-identitaeten-wer-gehoert-zum-neuen-deutschland?p=all (Stand: 17. Juli 2012).
EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)
Das interkulturelle Lehrerzimmer
Perspektiven neuer deutscher Lehrkräfte auf den Bildungs- und Integrationsdiskurs
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012
(262 S.; ISBN 978-3531184678; 39,95 EUR)
Doris Edelmann (St. Gallen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Doris Edelmann: Rezension von: Fereidooni, Karim (Hg.): Das interkulturelle Lehrerzimmer, Perspektiven neuer deutscher Lehrkräfte auf den Bildungs- und Integrationsdiskurs. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3531184678.html
Doris Edelmann: Rezension von: Fereidooni, Karim (Hg.): Das interkulturelle Lehrerzimmer, Perspektiven neuer deutscher Lehrkräfte auf den Bildungs- und Integrationsdiskurs. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3531184678.html