EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

Axel Bolder / Rolf Dobischat (Hrsg.)
Eigen-Sinn und Widerstand
Kritische Beiträge zum Kompetenzentwicklungsdiskurs
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(285 S.; ISBN 978-3-53116028-3; 49,90 EUR)
Eigen-Sinn und Widerstand Der Band „Eigen-Sinn und Widerstand“ befasst sich mit dem beruflich relevanten Erfahrungslernen Erwachsener im Kontext seiner gegenwärtigen bildungspolitischen Rahmung. In Absetzung von Programmatiken der Kompetenzentwicklung, des informellen Lernens und des selbstorganisierten Lernens, die die betriebs- und volkswirtschaftliche Relevanz solcher Formen des Lernens in den Vordergrund stellen, befassen sich die hier zusammengeführten 17 Beiträge mit der Relevanz solcher Lernformen für die Lernenden selbst. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten werden sowohl historische und politische als auch didaktische Bezüge erfahrungsgebundener beruflicher Bildung aufgegriffen und in einer entschiedenen Parteilichkeit für Arbeitende und Arbeitssuchende ausgearbeitet. Wesentliche bildungspolitische Bezugspunkte von Kompetenzentwicklung werden dabei in Frage gestellt, einige scharf zurückgewiesen, andere relativiert, wieder andere aufgegriffen und rekontextualisiert. Mit dem Band wird die Reihe „Bildung und Arbeit“ eröffnet, mit der die Herausgeber an die Tradition des bei Leske und Budrich erschienenen Jahrbuchs „Arbeit und Bildung“ anknüpfen.

In der pointierten Einleitung stellen die Herausgeber Kompetenzentwicklung als bildungspolitisch motiviertes Projekt vor, in dem eine Verlagerung beruflicher Weiterbildung weg vom organisierten Qualifizierungssystem hin zur Institutionalisierung von Selbstlernerwartungen vorangetrieben wird. Die finanzielle, organisatorische und biographische Verantwortung für ihr (Nicht-)Lernen werde dabei zunehmend den Arbeitenden zugeschrieben, die als untereinander konkurrierende Anbieter am Arbeitsmarkt adressiert werden. Im Zuge dieses Übergangs vom Qualifikations- zum Kompetenzbegriff finde eine Ausweitung des ökonomischen Interesses an der Verwertung von Fähigkeiten auf den ganzen Menschen, „sein ganzes Leben und neben seiner somatischen mittlerweile auch um seine psychische Verfasstheit“ (8) statt. Damit verbunden sei ein zum Teil auch offen ausgesprochener Umerziehungsanspruch der „Optimierung des subjektiven Potentials des Einzelnen, seiner Amalgamierung gleichzeitig an die Betriebsziele“ (ebd.).

Als Ziel des Bandes formulieren die Herausgeber, scheinbare Selbstverständlichkeiten und Ausblendungen des Diskurses zur Kompetenzentwicklung aufzudecken, indem die darin verfolgten Ansätze daraufhin befragt werden, „was sie der anderen Seite des Arbeits(markt)geschehens bringen: den Anbietern von durch Kompetenzentwicklung und Erfahrung angereicherter Arbeitskraft“ (9).

Die einzelnen Beiträge verfolgen unterschiedliche Strategien, um das Ziel einer von der Perspektive der Berufstätigen ausgehenden Kritik am Kompetenzentwicklungsdiskurs zu realisieren. Dementsprechend werden sie in vier Blöcken zusammengeführt:

Im ersten Teil des Bandes „Die (Wieder-)Entdeckung der 'heimlichen Qualifikationen'“ stehen Beiträge im Vordergrund, die historische Vorläufer der aktuellen Konzepte zur Kompetenzentwicklung vorstellen und nach Kontinuitäten und Abbrüchen fragen. Im Beitrag von Karin Büchter werden beispielsweise die wechselnden Strategien des betrieblichen Umgangs mit Arbeitserfahrungen vom Handwerk über die beginnende Industrialisierung bis hin zu den taylorschen Versuchen einer wissenschaftlichen Betriebsführung und den unterschiedlichen Ansätzen zur Arbeitspädagogik in den 1920er Jahren nachgezeichnet. Die Autorin stellt dar, wie Arbeitserfahrungen mit wechselnden Schwerpunkten sowohl als Produktionsressourcen als auch als Unsicherheitsfaktoren im Betrieb wahrgenommen und dementsprechend behandelt wurden, und weist auf Parallelen in der aktuellen Diskussion hin. Die Aussichten auf Erfolg auch der neuerlichen Versuche des Managements von Arbeitserfahrungen schätzt Büchter als begrenzt ein, was sie mit dem Verweis auf die geringe Reichweite auch der vorgestellten historischen Vorläufer begründet.

Ebenfalls eine Strategie der historischen Kontextualisierung der Debatte verfolgen die Herausgeber des Bandes, indem sie unter der Überschrift „Klassiktext“ einen Aufsatz aus dem Jahre 1956 von Ralf Dahrendorf über extrafunktionale Qualifikationen in Auszügen wiederabdrucken. In seiner sehr präzise geführten Argumentation weist Dahrendorf eine Abhängigkeit berufsspezifischer Qualifikationserwartungen von historischen und sozialen Kontextbedingungen nach und analysiert die Umstände der Entstehung einer neuen „Abstufung der Arbeiterschaft nach extra-funktionalen Qualifikationen“ (100).

Eine zweite Strategie der Infragestellung verwertungsorientierter Kompetenzentwicklung wird in den Beiträgen verfolgt, die unter der Überschrift „Zur Kritik der Praxis“ zusammengeführt sind: Konzepte beruflicher Bildung werden auf ihre bildungspolitische Bedeutung hin befragt und vor dem Hintergrund des Interesses an einer Subjektentwicklung von Berufstätigen bewertet. Beispielsweise greift Peter Faulstich das mit dem Begriff der „Ich-AG“ verbundene Konzept des Arbeitskraftunternehmers auf und fragt unter Rückgriff auf Kants kategorischen Imperativ nach der Legitimität der damit verbundenen Erwartung, sich selbst als Mittel der Verfolgung ökonomischer Zwecke zu behandeln. Vor diesem Hintergrund votiert er für die Rückbesinnung auf einen Begriff von Bildung als „Prozess gelingender Identitätskonstruktion“ (145) im Umgang mit anderen, zu dem auch die Entwicklung einer „Gegenkompetenz“ gehört, die es erlaubt, Souveränität über das eigene Leben zu gewinnen.

Die dritte in den Beiträgen verfolgte Kritikstrategie besteht in der Entwicklung von Gegenentwürfen. Unter der Überschrift „Visionen gegen die Vision: Perspektiven“ werden erfahrungs- und handlungsdidaktische Konzepte vorgestellt, die „die Biographien der Arbeitenden und Arbeitssuchenden in den Mittelpunkt der Überlegungen“ (14) rücken.

Marisa Kaufhold befasst sich beispielsweise mit der steigenden Notwendigkeit für Erwerbstätige, „berufsbiographische Gestaltungskompetenzen“ zu entwickeln, um im Zuge einer steigenden Flexibilisierung beruflicher Karrieren handlungsfähig zu bleiben. Zur Förderung dieser Kompetenz schlägt sie vor, Verfahren der Erfassung informell erworbener und latenter Kompetenzen in einer Weise einzusetzen, die berufliche Möglichkeiten und Handlungsoptionen bewusst werden lässt. Im Zuge biographischer Reflexionen auf die eigenen beruflichen Erfahrungen und durch die gezielte Suche nach sinnvollen Anschlussmöglichkeiten im Lebenslauf könne so berufsbiographische Gestaltungsfähigkeit entstehen.

Dieser Band belegt eindrücklich die Leistungsfähigkeit eines an den Interessen der Berufstätigen orientierten Ansatzes beruflicher Bildung, aktuelle bildungspolitische Diskussionen aufzugreifen und ertragreich zu wenden. Die inhaltliche Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den Themenbereichen ist – von einigen wohl unvermeidlichen Unschärfen abgesehen – gelungen und erzeugt in Verbindung mit der argumentativ klaren Einleitung eine facetten- und ertragreiche Zusammenstellung von Diskussionsbeiträgen. Der eher defensiv formulierte Anspruch der Herausgeber, mit dem Band „die vielen Selbstverständlichkeiten des herrschenden Diskurses auch nur ein wenig mit Fragezeichen zu versehen“ (17), wird in diesem Band sicherlich eingelöst.

Allerdings ist auch bezogen auf diesen Band ein Fragezeichen zu setzen, denn die Bezugnahmen der einzelnen Beiträge auf das Konzept der Kompetenzentwicklung unterscheiden sich teilweise so stark – beispielsweise wird es einmal als Strategie der Bedeutungsreduktion, ein andermal als Strategie der Ausweitung organisierter Weiterbildung charakterisiert –, dass beim Lesen bisweilen der Eindruck entsteht, Kompetenzentwicklung werde in einer gewissen Beliebigkeit als Leerformel genutzt, auf die all das projiziert wird, was an der aktuellen bildungspolitischen Diskussion als kritikwürdig erscheint. Dadurch gewinnt die Diskussion an inhaltlicher Breite, die Möglichkeit einer präzisen und treffenden Entgegnung gegen den Kompetenzentwicklungsansatz wird dabei allerdings verspielt.

Ungeachtet dieser Unschärfe enthält der Band zweifellos zahlreiche wertvolle Anregungen zu historischen, politischen und didaktischen Dimensionen des Erfahrungslernens Erwachsener – auch über den Diskussionszusammenhang der beruflichen Bildung hinaus. Die für Sammelbände charakteristische Heterogenität der Beiträge erweist sich in diesem Fall als Stärke, da es gelungen ist, die vielfältigen Thematisierungsdimensionen konsistent auf den gemeinsamen Gegenstand zu beziehen.
Jörg Dinkelaker (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Dinkelaker: Rezension von: Bolder, Axel / Dobischat, Rolf (Hg.): Eigen-Sinn und Widerstand, Kritische Beiträge zum Kompetenzentwicklungsdiskurs. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/353116028.html