Die Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung widmete ihr Themenheft 2007 der Ökonomie der Lehrlingsausbildung und der Weiterbildung in Deutschland und der Schweiz, und somit einem Thema, das nicht nur von großer bildungs-, wirtschafts- und sozialpolitischer Aktualität ist, sondern auch mittlerweile in der internationalen Forschungsliteratur zur Berufs- und Weiterbildung stark beachtet wird. Letztere hat im Anschluss an die zentralen Texte von Finegold und Soskice die Eigenheiten dualer Berufsbildungssysteme in deutschsprachigen Ländern hervorgehoben. Das Themenheft stellt sich also einer doppelten Herausforderung, nämlich einerseits einen theoretischen und methodischen Beitrag zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu leisten und andererseits gleichzeitig Steuerungswissen als Grundlage politischer Entscheidungsprozesse zu generieren, und zwar in beiden Fällen für ein internationales Publikum, erscheint das Heft doch in englischer Sprache. Es weckt daher entsprechend hohe Erwartungen.
Das Themenheft besteht aus sechs Artikeln zur dualen Berufsbildung in der Schweiz und in Deutschland, drei Artikeln zur Weiterbildung in Deutschland und einem Artikel, welcher sich mit unterschiedlichen Ausbildungsgängen für die Informatikbranche in Großbritannien und Deutschland beschäftigt. Es wird von einem kurzen Editorial eingeleitet und schließt mit den Abstracts und den Zusammenfassungen der Artikel. Ziel aller Artikel ist es, mittels bildungsökonomischer Modelle das Aus- und Weiterbildungsverhalten von Firmen und Individuen zu erklären. Die in den Texten dargestellten zentralen unabhängigen Variabeln decken sich in vielen Fällen und schließen regionale Besonderheiten, Eigenschaften der Betriebsstruktur, Erwartungen an den Geschäftsgang usw. mit ein.
Während die den Untersuchungen zur Schweiz zu Grunde liegenden Daten sowohl aus amtlichen als auch aus spezifischen, für diese Forschungsprojekte erstellten Statistiken stammen, wurden die Daten zu Deutschland, mit der Ausnahme jener von Steedman und Wagner, in anderen Zusammenhängen generiert. Von zentraler Bedeutung sind dabei insbesondere die in mehreren Artikeln verwendeten Paneldaten des Deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit.
Im Folgenden soll dargestellt werden, ob das Heft den hohen Ansprüchen hinsichtlich Generierung von Steuerungswissen einerseits und wissenschaftlichem Grundlagenwissen andererseits gerecht wird.
In der Tat werden in den unterschiedlichen Artikeln Forschungsresultate dargestellt, welche für bildungs-, wirtschafts- und sozialpolitische Auseinandersetzungen relevant sind. Sie alle gehen dabei implizit von der Annahme aus, dass das Ausbildungs- und Weiterbildungsverhalten von Firmen und Individuen als Folge rationalen Handelns von homines oeconomici und nicht als Folge kultureller Dispositive zu verstehen sei: Arbeitgeber bieten keine Lehrstellen an, weil sie sich für das öffentliche Gut einsetzen wollen, sondern weil sich dieses Verhalten für sie selbst bezahlt macht.
Die beiden Beiträge aus der Schweiz (Mühlemann/Wolter und Schweri/Müller) stellen dar, dass sich die Berufsausbildung in der Schweiz tatsächlich schon während derselben für die Betriebe auszahlt und dass die anderen Betriebe es schaffen, die Investition in die Berufsausbildung durch Produktivitätsgewinne nach dieser Zeit zurückzugewinnen. Gleichzeitig weisen sie auch darauf hin, dass der Rückgang der Zahl der Ausbildungsplätze in absoluten Zahlen nicht auf eine sinkende Ausbildungsbereitschaft der Betriebe, sondern insbesondere auch auf angebotsseitige Faktoren zurückgeführt werden kann: So spielen demographische Entwicklungen wie die Population der 16jährigen ebenso eine Rolle wie Ausformungen und Entwicklungen des Bildungssystems, insbesondere die Konkurrenz, welche dem dualen Berufsbildungssystem aus anderen Angeboten auf der oberen Sekundarstufe erwächst (z.B. Gymnasien).
Die Ergebnisse für die berufliche Ausbildung in Deutschland sind weniger eindeutig, und einzelne Aussagen unterschiedlicher Beiträge stehen sich gar in offenem Widerspruch gegenüber. Während Zwick darstellt, dass den Arbeitgebern während der Ausbildungszeit keine Nettokosten entstehen, legen die anderen Beiträge zur deutschen Berufsausbildung nahe, dass ein wesentlicher Teil der ausbildenden Betriebe solche Kosten auf sich nehmen muss. Gemäß der Mehrheit der Autoren lohnt sich das Ausbilden von Jugendlichen für diese Betriebe jedoch, weil sie aufgrund eines nicht sehr kompetitiven, d.h. friktionalen Arbeitsmarktes nach dieser Periode mit dem Verbleib der Ausgebildeten im Betrieb rechnen können. Eine wichtige öffentliche Aufgabe sei es daher, Firmen von den längerfristigen Vorteilen der Investition in die Berufsausbildung zu überzeugen, argumentiert etwa Walden. Folgt man der Argumentation von Bellmann/Lutz, wird diese Überzeugungsarbeit von Veränderungen der Wirtschaftsstruktur erschwert, welche die Entscheidung für oder gegen die Investition in Ausbildungsplätze zunehmend in einem von zahlreichen Unsicherheitsfaktoren dominierten Kontext stattfinden lässt: Die immer zahlreicher werdenden Dienstleistungsbetriebe ziehen es etwa vor, externe Kandidaten zu rekrutieren, anstatt Jugendliche selbst auszubilden, da in diesem Sektor die Fluktuation von Arbeitskräften größer ist als etwa in der früher prominenter vertretenen verarbeitenden Industrie: Die Investition wird somit zum ökonomischen Risiko, dessen Beurteilung zusätzlich von den Erwartungen hinsichtlich des Geschäftsganges einzelbetrieblicher Geschäftserwartungen abhängt, wie Dietrich/Gerner darlegen.
Von stärker sozialpolitischer Relevanz sind die Artikel zur Weiterbildung in Deutschland: Der Beitrag von Krekel/Walden zur Weiterbildung in Deutschland stellt etwa dar, dass spezifische Cluster der erwerbstätigen Bevölkerung besonders bemerkenswertes Weiterbildungsverhalten aufweisen: Frauen mit niedrigen Einkommen, sowohl in Teilzeit- oder Vollzeitanstellungen, haben seltener als andere Erwerbstätige die Möglichkeit, sich an Weiterbildungen zu beteiligen und investieren selbst auch weniger, nicht zuletzt, weil sie mit wenig finanziellen Ressourcen ausgestattet sind. Dieser Cluster steht im Kontrast zu Männern mit höheren Bildungsabschlüssen und höheren Einkommen, welche nicht nur leichter Zugang zu für die Karriere förderlichen Angeboten der Weiterbildung haben, sondern auch selbst mehr in diese investieren, sodass sich Karriereoptionen entsprechend verbessern.
Ebenso wie das Themenheft steuerungsrelevante Resultate generiert, leistet es auch einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit beruflicher Aus- und Weiterbildung. Nicht nur werden theoretische Ergänzungen zur neueren bildungsökonomischen Ausbildungsliteratur gemacht und für die Forschung interessante, in der internationalen Literatur vergleichsweise wenig diskutierte Eigenheiten des schweizerischen Berufsbildungssystems diskutiert, sondern es werden auch methodische Innovationen vorgestellt, etwa indem regionale Arbeitsmärkte unter Bezugnahme von Reisezeiten neu definiert (Mühlemann/Wolter), zwei Länder hinsichtlich der Ausbildung in einer noch relativ jungen Industriebranche verglichen (Steedman/Wagner) oder indem Weiterbildungsstrategien von Firmen mit einem Doppelhürdenmodell untersucht werden (Neubäume/Kohaut).
Trotz dieser positiv zu verbuchenden Beiträge zur internationalen Literatur wird das Heft letztlich den auch diesbezüglich sehr hohen Erwartungen nicht ganz gerecht. Dies aus mehreren Gründen.
Erstens erscheint das Heft als eine Zusammenstellung voneinander losgelöster Texte, welche nicht in einem übergreifenden Artikel auf einen gemeinsamen möglichen Beitrag zur internationalen Literatur hin untersucht werden. Dies ist umso bedauernswerter, als sich eine Mehrheit der Autoren an zentralen Stellen auf mehrheitlich identische Artikel der Literatur bezieht. So ließen sich diese zum Teil wertvollen Ergebnisse zu einem spezifischen Modell der Berufsbildung, dem dualen Modell, überzeugender im Kontrast zu jenen Ergebnissen darstellen, welche sich mit anders gelagerten Berufsbildungssystemen beschäftigen.
Zweitens wird an keiner Stelle auf überzeugende Weise versucht, die strukturellen Eigenheiten der beiden Berufs- und Weiterbildungssysteme der Schweiz und Deutschlands und deren Folgen für das Aus- und Weiterbildungsverhalten von Firmen und Individuen einem systematischen Vergleich zu unterziehen, wie es von einem Themenheft dieser Art sicherlich erwartet werden könnte.
Diese beiden Schwächen gründen letztlich darin, dass eine Auseinandersetzung mit den institutionellen Eigenheiten der beiden political economies der Schweiz und Deutschlands in den Aufsätzen nicht systematisch angedacht ist. Insbesondere in den beiden Texten zur Berufsbildung in der Schweiz legen die Autoren der Leserschaft nahe, dass das Ausbildungs- und Weiterbildungsverhalten von Arbeitgebern durch unproblematische, betriebswirtschaftliche Entscheidungsprozesse determiniert ist, ein Argumentationsmuster, welches bezeichnenderweise durch den einzig systematisch vergleichenden Beitrag in Frage gestellt wird: Steedman und Wagner machen in ihrem Artikel zum Rekrutierungsverhalten von Firmen der Informatikbranche in Deutschland und in Großbritannien deutlich, dass Ausbildungsregime in spezifischen Ländern auch kulturell geprägt sind: Während die Betriebe in Großbritannien im Sinne eines „liberalen“ und „flexiblen“ Modells Studienabgänger unterschiedlicher Disziplinen rekrutieren, sind Betriebe in Deutschland stärker darauf bedacht, junge Leute mit fachspezifischen Abschlüssen von Fachhochschulen oder mit entsprechenden Berufsausbildungsabschlüssen anzustellen, was die Autorinnen mit der komplexen Institutionalisierung des Berufsmodells erklären.
Eine Auseinandersetzung mit den institutionellen Eigenheiten von political economies in diesem Sinne und mit deren Implikationen für Aus- und Weiterbildungsverhalten findet zurzeit insbesondere im Zusammenhang mit dem Ansatz von Varieties of Capitalism statt, auf welchen sich Steedman/Wagner explizit beziehen. Gerade für das Beispiel Deutschland haben Vertreter dieses Ansatzes darauf hingewiesen, dass nicht nur die Institutionen des Arbeitsmarktes, sondern auch die Arbeitgeberverbände eine wichtige Rolle für die einzelbetriebliche Entscheidung für oder gegen das Anbieten von Ausbildungsplätzen spielen können, indem sie die Unsicherheitsfaktoren der Entscheidung zumindest teilweise entschärfen. Ein Themenheft, in welchem die gerade in Deutschland unsicheren Ausgangsbedingungen für an Ausbildung grundsätzlich interessierte Firmen immer wieder zur Sprache kommen, hätte von einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem bereits klassischen Ansatz sicherlich gewonnen, was nicht nur theoretisch befruchtend, sondern auch aus berufsbildungsplanerischer Warte aufschlussreich gewesen wäre.
Literatur
Finegold, D.: Institutional Incentives and Skill Creation: Preconditions for a High Skill Equilibrium. In: Ryan, P. (Hrsg.): International Comparisons of Vocational Education and Training for Intermediate Skills. London/New York/Philadelphia: Falmer Press 1991, S. 95-116
Soskice, D.: Reconciling Markets and Institutions: The German Apprenticeship System. In: Lynch, L. M. (Hrsg.): Training and the private sector: international comparisons. Chicago: University of Chicago Press 1994, S. 25-60.
Hall, P.A./Soskice, D. (Hrsg.): Varieties of capitalism: the institutional foundations of comparative advantage. Oxford: Oxford University Press 2001.
Soskice, D.: Reconciling Markets and Institutions: The German Apprenticeship System. In: Lynch, L. M. (Hrsg.): Training and the private sector: international comparisons. Chicago: University of Chicago Press 1994, S. 25-60.
Culpepper, P.D.: Employer's Associations, Public Policy and The Politics of Decentralized Cooperation in Germany and France. In: Hall, P.A./Soskice, D. (Hrsg.): Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press 2001, S. 275-306.
EWR 7 (2008), Nr. 5 (September/Oktober)
The Economics of Apprenticeship and Further Training in Germany and Switzerland
(Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 40/2&3)
Stuttgart: Kohlhammer 2007
(188 S.; ISBN 1614-3485; 14,90 EUR)
Markus Maurer (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Maurer: Rezension von: Backes-Gellner, Uschi / Bellmann, Lutz (Hg.): The Economica of Apprenticeship and Further Training in Germany and Switzerland, (Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 40/2&3). Stuttgart: Kohlhammer 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 5 (Veröffentlicht am 09.10.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3485.html
Markus Maurer: Rezension von: Backes-Gellner, Uschi / Bellmann, Lutz (Hg.): The Economica of Apprenticeship and Further Training in Germany and Switzerland, (Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 40/2&3). Stuttgart: Kohlhammer 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 5 (Veröffentlicht am 09.10.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3485.html