Die vorliegende Arbeit eröffnet nicht nur neue Zugänge zu Werk und Wirkungsgeschichte Pestalozzis, sondern auch die analytische und historische Behandlung pädagogischer Diskurse dürfte von hier aus wesentlich neue Impulse erhalten.
Die wirkungshistorische Forschung zeigte, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts nach dem Misserfolg des Methodenkonzepts, der entsprechenden Lehrerausbildung und der Anstalt in Yverdon im Ausbau des öffentlichen Schulsystems, die Auseinandersetzung mit dem vielfältigen Werk und den zum Teil widersprüchlichen Konzepten Pestalozzis ausblieb. Stattdessen entwickelte sich die Pestalozzi-Legende um eine aus dem historischen Kontext herausgelöste, weitgehend inhaltslose Stifterfigur, auf die beliebig jeder Diskurs zurückgeführt werden konnte, um pädagogische Dignität einzufordern und zu erlangen.
Die Untersuchungen zu Pestalozzis Kontext zeigten nicht den solitären pädagogischen Experimentator, wie er sich gern selber darstellte und in die Legende eingegangen ist, sondern einen an unterschiedlichen Diskursen seiner Zeit und teilweise auch der Zeit seiner Lehrer partizipierenden und wenig systematisch kompilierenden Autor.
Petra Kortes These und ihre überzeugenden Darlegungen, die sich auf pädagogische, rhetorik-historische und literaturhistorische Befunde stützen, eröffnen demgegenüber eine grundsätzlich neue Dimension. Nachdem alle Versuche Pestalozzis Texte systematisch, als theoretisch kohärente Konstruktion zu interpretieren, meist bei der Systematik des Forschers endeten – so entstand der herbartianische Pestalozzi der Herbartianer wie Wiget u.a., der neu-kantianische Pestalozzi Natorps und der lebensphilosophisch-konservative Pestalozzi Sprangers –, weist Korte auf eine ganz andere Dimension der Kohärenz des Werkes hin.
Das Werk Pestalozzis ist – so Kortes These – nicht konzeptuell-theoretisch, sondern rhetorisch konstruiert. Dabei steht die Konstruktion des Pädagogen-Akteurs im Zentrum, der mit seinen Lesern rhetorisch in ein Verhältnis tritt, das von unmittelbaren Erziehungsansprüchen ausgeht. Diese Konstruktion wird im Kontext der Rhetoriktradition in Pestalozzis Umfeld, insbesondere in der Schule Bodmers und Breitingers überzeugend verortet und analysiert.
In einem ersten Schritt wird nachgewiesen, wie Pestalozzi Schreiben als pädagogische Praxis konstruiert. Grundlage sind dabei die "fingierte Mündlichkeit" und die literarische Konstruktion eines pädagogisch intentionierten Sprechers bzw. Ichs oder Erzählers. Dabei stehen erzählerisch meist Situationen im Zentrum, oft Dialoge, in denen bereits ein eindeutiges Hierarchieverhältnis gegeben ist, ein erziehender Sprecher und ein zu erziehender oder zu belehrender Sprecher/in.
Bereits in seinen ersten schriftstellerischen Versuchen, in "Agis" oder in den "Wünschen", schließt er damit an die rhetorisch-republikanischen Traditionen im Umfeld seiner Ausbildung an und radikalisiert sie zusehends in seinem Werk pädagogisch. Der Selbstausstellungsgestus des Schriftstellers Pestalozzi markiert den Anspruch, eine universale Perspektive zu vermitteln, die auch keine Toleranz oder Pluralität zulässt, sondern von der unausweichlichen autoritativen Disposition des Schriftstellers über den fiktiven Leser ausgeht. Die Option Pestalozzis für die Schriftstellerei ist dementsprechend grundlegend pädagogisch konstruiert. Seine literarischen Pläne, die Romane, die Zeitschrift folgen alle dem gleichen rhetorisch-pädagogischen Impetus.
In zweiten Schritt wird die Rhetorik der Pädagogik, die Pestalozzis Werk zugrunde liegt, entfaltet. Ausgangspunkt ist dabei die Poetik, die auf tugendhafte Wirkung ausgelegt von Pestalozzis Lehrern am Carolinum, Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, gelehrt wurde.
Von hier aus wählt Korte einen Zugang zu Pestalozzis Rhetorik, der zeigt, wie die Wahl der literarischen Gattung – Roman, moralischer Zeitschriftentext, die Fabel oder auch die Flugschrift – unterschiedlichen pädagogischen Optionen Pestalozzis entspricht. Die Romanpädagogik von "Lienhard und Gertrud" wird dabei überzeugend auf dem Hintergrund einer rhetorischen Lesart des Empfindsamkeitsdiskurses interpretiert. Erzählt wird zur Rührung, wer gerührt ist, zeigt, dass er gelernt hat. Im Zentrum dieser Empfindsamkeits-Rhetorik und -Pädagogik steht dann der "Unsagbarkeitscode". Der eigentliche Lerngegenstand ist weder in der Rede noch in der Erzählung selbst enthalten, sondern er entsteht erst durch die Einfühlung, durch innige Rührung (267).
Auf dem Hintergrund dieser Poetik des Unsagbaren wird im letzten Teil der Arbeit die Konfiguration der Weiblichkeit bei Pestalozzi rekonstruiert. Aus der Poetik der Empfindsamkeit und des Unsagbaren wird auch in Pestalozzis Rhetorik – wie in der Empfindsamkeitsliteratur generell – die Rede abundant, wenn es um die Frau beziehungsweise um die Mutter geht (384). Der pädagogische Sprecher/Erzähler wird zum Deklamator einer Hymne.
Die sinnliche Frau, in der Tradition der Ursprung des Bösen, wird hier durch die Rede mit Sprache begabt beziehungsweise ihre Sprache geweckt, damit sie selbst das Kind erziehen kann.
Der rhetorischen Analyse, die Korte in Bezug auf das Werk Pestalozzis vorlegt, kommt aber Bedeutung weit darüber hinaus zu – und in dem Sinne ist es auch wünschenswert, dass die Impulse und Fragestellungen ihrer Forschung aufgenommen werden. In der Geschichte der Pädagogik wird der Take-Off der modernen Pädagogik in Deutschland mit Vorliebe im Umfeld Kants und der idealistischen Systemphilosophie gesehen. Rousseau und Pestalozzi werden dann quasi zu Wegbereitern. In dieser Perspektive erscheint das 19. Jahrhundert und ein großer Teil der auf die sich etablierende staatliche Volksschule ausgerichteten Pädagogik als Rückfall.
Kortes Analyse des Pestalozzischen Werkes im Kontext der Tradition der Rhetorik als pädagogisches Sprechen, das neu entstehende Diskursformationen und literarische Gattungen erfasst, könnte gleichfalls an den Lehrdiskursen der Seminarpädagogik und an den Professionsdiskursen der Lehrerverbände ausgetestet werden. Auch hier kann kaum von einer systematischen oder konzeptionellen Kohärenz gesprochen werden, der Anschluss an die idealistischen und anderen Systeme ist eher ephemer, doch der rhetorische Anspruch, wie ihn Korte im Werk Pestalozzis nachweist, ohne Zweifel überbordend.
In dieser Beziehung ist Pestalozzis Rhetorik-Pädagogik auch kaum der Initiator. Vielmehr handelt es sich dabei um eine langandauernde Tradition, die sich quasi seit der Wiederbelebung der pädagogischen Rhetoriktradition im Humanismus fortgesetzt hat. Die humanistische Pädagogik- und Rhetoriktradition zielte nicht nur im Sinne ihres antiken Ursprungs auf den ‚cives’ ab, sondern in ihr konkurrierte damit auch immer der ‚homo interior’, der innere Mensch der paulinisch-augustinischen Frömmigkeit, der durch die Lebendigkeit des Wortes im christlichen Sinne ausging. Pädagogisches Reden war in dem Sinne verkündigen und erwecken.
Korte weist darauf hin, dass Pestalozzis Rhetorik-Pädagogik gewissermassen auch in dieser religiösen Tradition steht (277). Ob aber Pädagogik, indem sie diesen Diskurs für sich beansprucht, diesen auch notwendigerweise säkularisiert und der Rationalität erschliesst oder ob nicht vielmehr damit gegen die rationalen Tendenzen in der zeitgenössischen Pädagogik ein zwar sakraler aber durch und durch pädagogischer Gegendiskurs sich etabliert, das zu untersuchen, dürfte auf Kortes Grundlage lohnend werden.
EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)
Pädagogisches Schreiben um 1800
Der Status von Schriftlichkeit, Rhetorik und Poetik bei Johann Heinrich Pestalozzi
Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2003
(451 Seiten; ISBN 3-258-06559-4; 36,00 EUR)
Fritz Osterwalder (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Fritz Osterwalder: Rezension von: Korte, Petra: Pädagogisches Schreiben um 1800, Der Status von Schriftlichkeit, Rhetorik und Poetik bei Johann Heinrich Pestalozzi, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/25806559.html
Fritz Osterwalder: Rezension von: Korte, Petra: Pädagogisches Schreiben um 1800, Der Status von Schriftlichkeit, Rhetorik und Poetik bei Johann Heinrich Pestalozzi, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/25806559.html