Stattdessen legen insgesamt neun Autorinnen und Autoren aus vorwiegend Schweizer Perspektive den Fokus der Betrachtung auf (eine weit definierte) Leistungsbeurteilung insgesamt. Der Herausgeber versteht das Buch als "Übersicht über das aktuelle und teilweise heftig diskutierte Thema der Beurteilung", wobei die Einteilung in die Themenfelder
- Beurteilung von Kindern und Jugendlichen,
- Beurteilung von Schule
- Beurteilung von Schulsystemen sowie
- Beurteilung von Beurteilungen
Barbara Sörensen Criblez skizziert in ihrem Beitrag den Wandel entwicklungspsychologischer Einschätzungen, wann ein Kind einzuschulen sei und die Folgen daraus. Ist ein Kind irgendwann "reif" für die Schule? Muss es auf seinem Weg zur "Schulfähigkeit" unterstützt werden? Hat eine solche Unterstützung vor allem an der kognitiven Entwicklung oder eher ganzheitlich ausgerichtet zu sein? Ist es vielleicht gar unsinnig, überhaupt von einer allgemeinen, für alle gleichen Schulfähigkeit auszugehen und sollte nicht eher die Schule versuchen, sich "schülerfähig" zu machen, also Raum für unterschiedlichste Lernbiografien zu bieten? Anhand solcher Fragen diskutiert die Autorin Aufgaben von Kindergarten und Primarstufe und plädiert für eine zunehmende Aufweichung institutioneller und pädagogischer Grenzen zwischen ihnen. Ein anregender Beitrag zu dieser auch im Kontext von PISA vieldiskutierten Lebensphase. Heinz Rhyn und Urs Moser thematisieren die gängigen Gütekriterien der Leistungsmessung sowie die Problematik ihrer Einhaltung. Bezugsnormen der Leistungsbeurteilung werden dabei ebenso wie ausgesuchte Erhebungsverfahren (Prüfungen und Tests) und Formen der Beurteilung (Noten, Verbale Beurteilung, Selbstbeurteilung) angesprochen.
Regula Kyburz-Graber wechselt die Perspektive und wendet sich der Beurteilung von Lehrpersonen zu. Die Vielschichtigkeit der Auswahl von Kriterien erfolgreicher Lehrtätigkeit wird plastisch. Ihr Appell für einen aktiven Einbezug der zu Beurteilenden leitet zu Markus Roos über, der einen Überblick über die Möglichkeiten und Ansatzpunkte der Beurteilung von Unterricht anbietet. Schritte einer Unterrichtsbeurteilung werden aufgeführt und an Beispielen veranschaulicht. Der Text regt die Phantasie an, welche Möglichkeiten für die zumindest in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckende Praxis der Unterrichtsevaluation liegen könnten. Philipp Gonon konzentriert sich auf die Perspektive der "Qualitätssicherung" in der Schule. Die Verlagerung eines internen Maßstabs ("Wird Schule ihren eigenen Zielen gerecht?") hin zu externen Vergleichsankern ("Was erwarten unsere Kunden?") im Kontext von Qualitätssicherung und -entwicklung, insbesondere vor dem Hintergrund ökonomisch orientierter Globalisierungstendenzen, wird dargestellt. So begründet Gonon, warum eine dauerhafte Einführung von Qualitätssicherung in Schulen so schwierig ist und plädiert abschließend für die Ausweitung von Freiheiten als entscheidenden Maßstab.
In einem ersten Beitrag zur Beurteilung von Schulsystemen stellt Lucien Criblez die historische Herkunft sowie aktuelle Funktionen des Schulsystems dar und konzentriert sich dabei insbesondere auf gesellschaftliche Grundfunktionen der Leistungsbeurteilung wie die der Selektion und Berechtigung (Allokation). Urs Moser ist der einzige, der die PISA-Studie aufgreift und deren (schweizer) Ergebnisse diskutiert. Dies geschieht differenziert, kreativ und teilweise fernab gängiger Erklärungsmuster. So findet sich hier ein fundierter Beitrag zur PISA-Analyse für die Schweiz ohne erhobenen Zeigefinger, die in der Art der Fragen auch auf andere Länder übertragbar sein dürfte. Margit Stamm richtet ihre Aufmerksamkeit auf die (leistungs-)steuernde Wirkung bzw. Nicht-Wirkung von Lehrplänen. Um die von ihr konstatierte Wirkungslosigkeit von Lehrplänen zu überwinden bzw. zu kompensieren, plädiert sie für eine Einigung auf Mindeststandards (in der Schweiz). Eine Entwicklung, die auch für Deutschland ansteht bzw. auf Kultusministerkonferenz-Ebene bereits in vollem Gange ist.
Der letzte Teil des Buches wendet sich der Metaperspektive, also der "Beurteilungsbeurteilung" zu. Christina Allemann-Ghionda nimmt, ähnlich wie Rhyn und Moser im vorderen Teil des Buches Gütekriterien, Funktionen und Verfahren der Leistungsbeurteilung im internationalen Vergleich in den Blick. Da sich dies fast ausschließlich auf die Beurteilung von Schülerinnen und Schülern bezieht, wäre der Beitrag inhaltlich wohl besser in Teil 1 aufgehoben. Aus dem letzten Beitrag von Heinz Rhyn bleibt besonders die Erläuterung des Begriffs der Leistung in Erinnerung. Er arbeitet heraus, dass "Leistung" ein besonders voraussetzungsreicher Terminus ist und eigentlich nur im Plural gedacht werden kann. Phrasen wie "Unsere Schule muss leistungsbetonter werden" klingen vor dem Hintergrund der dargestellten Vielschichtigkeit nur noch platt.
Dem Anspruch, einen (ersten) Überblick über Beurteilung im schulischen Kontext zu geben, wird das Buch zusammenfassend gerecht. Es werden Schlaglichter auf ein breites Spektrum relevanter Themen im Kontext von Leistungsbeurteilung geworfen. Der Leser, insbesondere wenn es sich nicht um einen Experten handelt, wird umfassend mit der Materie vertraut gemacht. Der Einbezug aktueller Fakten, eine gute Leserlichkeit sowie ein hoher Anregungsgehalt erleichtern die Lektüre zudem. Gerade durch die Breite des thematischen Zugriffs wird deutlich, wie sehr (Leistungs-)Beurteilung Schule insgesamt und eben nicht nur den Alltag von Lehrpersonen (als Beurteilende) sowie Schülerinnen und Schülern (als Beurteilte) bereits prägt und wohl zukünftig verstärkt prägen wird. Diese Tendenz, die u.a. im Erstarken empirischer Bildungsforschung, aber auch in der bildungspolitischen Ausrichtung auf Leistungsbeurteilung abzulesen ist, wird von den Autoren insgesamt begrüßt, aber durchaus kritisch begleitet. So könnte es ein Verdienst dieses Buches werden, Anregungen für eine konstruktive Weiterentwicklung von Leistungsbeurteilung gegeben sowie auf Fallstricke und Fehlerquellen hingewiesen zu haben.