Das Thema Ganztagsschule hat zurzeit Konjunktur. Dies zeigt sich nicht nur in der öffentlichen Diskussion um die Ganztagsschule, sondern auch in der Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zum Thema. Recherchiert man etwa in der Datenbank des Fachinformationssystems Bildung (FIS-Bildung), so zeigt sich, dass in den Jahren 2003 und 2004 so viele Artikel, Beiträge und Bücher zum Thema Ganztagsschule (Schlagwortsuche „Ganztagsschule“) erschienen sind wie niemals zuvor in den letzten 20 Jahren.
Mit der Ganztagsschule verbindet sich eine Reihe von Hoffnungen zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Problemstellungen [1]. So soll die Ganztagsschule durch eine veränderte Lehr- und Lernkultur die Schulleistungen der Kinder und Jugendlichen fördern, aber auch dazu beitragen, dass bildungsrelevante Rahmenkompetenzen wie selbstständiges Lernen gefördert werden. Jugendpolitische Argumente zielen auf die allgemeine Verbesserung und Optimierung der Bedingungen für eine gelingende psychosoziale Entwicklung der Heranwachsenden und deren Integration in die Welt der Erwachsenen, die durch das Mehr an Zeit in der Ganztagsschule besser unterstützt werden sollen. Schließlich ist nicht zu vernachlässigen, so das familien- und arbeitsmarktpolitische Argument, dass durch die ganztägige Betreuung der Kinder und Jugendlichen beiden Elternteilen zunehmend die Möglichkeit zur Erwerbstätigkeit offen steht.
Im Jahr 2003 hat die Bundesregierung deshalb das „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ aufgelegt. Im Rahmen dieses Programms werden zwischen 2003 und 2007 insgesamt 4 Milliarden Euro für den Auf- und den Ausbau von Ganztagsschulen. Weitere Förderung erhalten die Ganztagsschulen seitens der einzelnen Bundesländer. Zweifelsohne hat dieses Programm zu einem Aufschwung in der Entwicklung der Ganztagsschulen in Deutschland geführt. Derzeit besuchen etwa 11 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine ganztägig geführte Schule. Auf ihre Wirkungen zielt auch die „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG), welche auf der Basis einer bundesweiten repräsentativen Stichprobe von annähernd 50.000 Schülerinnen und Schülern und knapp 400 Ganztagsschulen wesentliche Aufschlüsse über die zahlreich offen stehenden Fragen zur Arbeit und Wirkung von Ganztagsschulen beantworten soll.
Die Prominenz des Themas Ganztagsschule drückt sich auch in einer Vielzahl neuer wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus. So auch in den sieben Publikationen, die im Folgenden besprochen werden. Unzweifelhaft ist dabei, dass die Diskussion um die Förderung und den Ausbau der Ganztagsschulen nicht nur zu einer lebhaften Auseinandersetzung in Bezug auf praktische Fragen der Schul- und Lernorganisation führte (davon wird weiter unten noch ausführlich zu berichten sein), sondern auch zu einer grundlegenden Beschäftigung mit dem Begriff der Bildung:
(I) Grundbegriffe der Ganztagsbildung
Ausgangspunkt des Buches ist die Überzeugung, dass Bildung unter den Bedingungen moderner Gegenwartsgesellschaften kein Prozess ist, der sich auf das Lernen in schulischen oder ähnlichen institutionellen Kontexten beschränkt, sondern, wenn man so will, immer und überall stattfindet. Programmatisch drücken dies die beiden Herausgeber in ihrem einleitenden Beitrag aus: Es gilt, „über den tradierten leistungsthematischen Bereich der Unterrichtsschule hinaus, ein Bildungsverständnis (weiter) zu entwickeln, das auf die Stärkung der gesamten Persönlichkeit zielt. Dabei geht es sowohl um formelle als auch um nicht-formelle Anteile, die sich in unterschiedlichen Angebotsstrukturen und Organisationsformen realisieren können. Personale Bezugsebenen sind hierfür ebenso relevant, wie gesellschaftlich definierte engere und weitere Handlungskontexte, in denen sich Bildungsprozesse abspielen: sei es z. B. die Familie, die Nachbarschaft, die Gleichaltrigengruppe, die Medien, die Jugendarbeit oder andere Bereiche der Jugendhilfe und Sozialpädagogik sowie öffentliche Foren des gesellschaftlichen Diskurses“ (8).
Damit umfasst das Konzept der Ganztagsbildung grundsätzlich alle jene Formen von Bildung, die in der Forschungsliteratur gewöhnlich unter den Begriffen formale, nicht-formale und informelle Bildung diskutiert werden – und ist damit m. E. die folgerichtige Konsequenz aus der in den letzten Jahren zunehmend zu hörenden Forderung, schulisches und außerschulisches Lernen bei der Untersuchung des Bildungserwerbs und -erfolgs von Kindern und Jugendlichen stärker aufeinander zu beziehen und in ihrem möglichen Wechselbezug zu betrachten [2].
Zwei Fragen stehen dabei in dem Band von Otto und Coelen im Mittelpunkt. Was ist unter Bildung aus der Perspektive der Ganztagsbildung zu verstehen bzw. was ist das verbindende Element zwischen formalem, nicht-formalem und informellem Lernen? Und – der Band ist aus einer Konferenz zur Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule 2003 an der Universität Bielefeld hervorgegangen; ein kurzer Bericht über diese Tagung findet sich im Jahrbuch Ganztagsschule 2005 (VII, 205-209) – wie lässt sich aus dem aus dieser Diskussion gewonnenen Bildungsverständnis das Verhältnis zwischen Schule und Jugendhilfe bzw. zwischen Schulpädagogik und Sozialpädagogik (neu) bestimmen?
Nachdem es in vier historisierend vergleichenden Beiträgen zu Beginn zunächst um eine grundlegende Verständigung über den Bildungsbegriff und seiner im Zeitverlauf veränderlichen Bedeutung geht, birgt der Band daraufhin eine Überraschung. Dies deshalb, weil die unter der Rubrik „Bildung des Sozialen“ folgenden Beiträge stark den Eindruck schüren, dass es – entgegen dem programmatischen Titel der Tagung – der Sozialpädagogik gar nicht so sehr um die Formulierung eines gemeinsamen verbindenden Bildungsverständnisses mit der Schulpädagogik zu tun ist, sondern sie selbstbewusst und geradezu ‚eigensinnig’ eine eigene originäre Bildungsidee für sich in Anspruch nimmt.
Beispielhaft ist hierfür der Beitrag von Albert Scheer. Er rekurriert darin auf eine Bildungsidee, die er als Subjekt-Bildung bezeichnet. (Subjekt-)Bildung versteht er als Eigenleistung des Subjekts, die sich auf die Entfaltung der Subjektivität im Sinne von „Selbstbewusstseins- und Selbstbestimmungsfähigkeit“ richtet, wobei Subjektivität „nicht als eine selbstverständliche Eigenschaft der Individuen unterstellt, sondern als ein Potenzial begriffen wird, dessen Entwicklung und Realisierung an angebbare Voraussetzungen und Bedingungen gebunden ist“ (89). Bildungsprozesse sind aus dieser Perspektive danach zu bewerten, inwieweit sie die Entfaltung dieses Potenzials ermöglichen und „zu solchen Prozessen [beitragen] [...], in denen Individuen zur bewussten Auseinandersetzung mit demokratischen und menschenrechtlichen Prinzipien, mit fremdenfeindlichen und rassistischen Ideologemen und Ideologien sowie mit den Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Entwicklung eines verantwortlichen Lebensentwurfs unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft befähigt werden“ (88). Zu unterscheiden sind derart ausgerichtete Bildungsprozesse von Lernprozessen, die auf den „Erwerb eines funktional abrufbaren Wissens und Könnens“ zielen, die „für das identitätsstiftende Selbst- und Weltverständnis von Individuen jedoch [...] irrelvant sind“ (91).
Ähnlich pointiert dies auch Heinz Sünker, indem er schreibt, dass „angesichts der Erfahrungen mit dem katastrophalen 20. Jahrhundert und der Frage nach humanen Perspektiven für das 21. Jahrhundert nicht ökonomisch ausgerichtete, sondern gesellschaftlich-politische Problemstellungen die entscheidenden Grundlagen für eine Debatte um Ansprüche an Bildung und Bildungspolitik sowie Kinderpolitik darstellen. Das bedeutet [...] eine Abgrenzung von bildungsökonomischen Positionen, die im Humankapitalansatz, der Verwertungslogik des Kapitals folgend, enden“ (153).
Eine solchermaßen formulierte einseitige Landnahme des Bildungsbegriffs zeigt sich in den Begriffspaaren Bildung vs. Lernen (Scherr) und Bildung vs. Wissensökonomie bzw. Wissenskapitalismus (Sünker) eher konfliktträchtig als kooperationswillig gegenüber der Schulpädagogik. Die Sprengkraft eines solchen Bildungsverständnisses liegt ja mitunter darin, dass der Einzelne zu autonomen Entscheidungen befähigt werden soll, was letztlich aber auch in der Ablehnung gegenüber den ‚Zumutungen der Wissensgesellschaft’ – das heißt den Zumutungen der Schule als deren Vertreter während der Kindheits- und Jugendphase – kulminieren kann.
Ein anderes Bild von Bildung evozieren dagegen nachfolgende Beiträge, die sich auf den Begriff der Wissensgesellschaft beziehen – dem Begriff, der von Otto und Coelen in ihrem Band als Hintergrund für die notwendige Auseinandersetzung mit einem neuen Bildungsverständnis genannt wird. Hier finden wir Vorstellungen, die sich stärker auf den Erwerb von (im weitesten Sinn) verwertbaren Kompetenzen beziehen. Wenn z. B. Thomas Höhne von der multifunktionalen Subjektivität als Grundlage des Bildungsbegriffs in der Wissensgesellschaft spricht, konstatiert er zwar, dass es hierbei nicht um die „Subsumtion des Subjekts unter die funktionalen Erfordernisse eines Subsystems“ wie der Ökonomie geht, behält aber mit dem Begriff der Funktionalität, die sich für ihn in der Vorstellung maximaler individueller Flexibilität verdichtet, den Blick auf den Nutzen spezifischer Kompetenzen bei. Solche Kompetenzen sind „u. a. Kreativtechniken, Fähigkeit zur Selektion von Information, Handlungskompetenz, Selbstmanagement, Reflexionsfähigkeit, Teamfähigkeit, Moderation, Selbstdarstellung.“ (143) Die Verwertbarkeit bleibt zentraler Fokus dieser Idee. Vergleichen wir beide Bildungskonzepte – das der Sozialpädagogik und das der Wissensgesellschaft – so lässt sich kurz resümieren: Das pädagogisches Anschlusskonzept an die Wissensgesellschaft ist der Begriff der Kompetenz (Höhne), das der Subjekt-Bildung im Sinne Scherrs der Begriff der Autonomie. Die sichtbare Kluft zwischen beiden Bildungsverständnissen bleibt für den Leser in den meisten Beiträgen (die diese Thematik bearbeiten, was nicht für alle Beiträge gleichermaßen zutrifft) unüberwunden. Letztlich finden sich aber zwei sehr zu empfehlende Arbeiten, die auf eine tatsächliche Verbindung beider Perspektiven hinarbeiten.
Neben einem Beitrag von Rainer Treptow findet sich der umfassendste und theoretisch weit reichendste integrative Beitrag (erst) am Schluss des Bandes. Thomas Coelen, der in einer früheren Arbeit den Begriff der Ganztagsbildung einführte, versucht dort, Ganztagsbildung im Bereich Jugendhilfe und Schule als Integration von Aus- und Identitätsbildung zu formulieren. Dabei kritisiert er: „Vielmehr scheinen große Teile der Sozialpädagogik ihr ‚Selbstbewusstsein’ allein aus der kritischen Abgrenzung von der Schule und nicht aus eigenen Qualitäten zu beziehen, währenddessen – nicht minder problematisch – die Schuldiskussion allein um sich selber kreist“ (249). Jenseits einer flachen Programmatik versucht Coelen in dem Beitrag, konkrete Verbindungslinien, Analogien und Gemeinsamkeiten (Stichworte: Gerechtigkeit, Chancengleichheit), aber auch Trennendes (Stichworte: Pflicht vs. Freiwilligkeit; Verbindlichkeit vs. Unverbindlichkeit) zwischen den unterschiedlichen Bildungsverständnissen, die er hinter dem Begriffspaar Ausbildung vs. Identitätsbildung sortiert, aufzuzeigen. Grundlegend ist für ihn dabei die Vorstellung, dass die Differenzen zwischen den beiden Bildungszugängen erhalten bleiben müssen, so sie als komplementäre Perspektiven aufeinander bezogen werden. Dies ist eine wesentliche Aufgabe der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schulpädagogik.
Wenn man etwas an dem Band von Otto und Coelen kritisieren möchte (neben der Tatsache, dass der auf integrative Konzepte geeichte Leser erst am Ende erleichtert aufatmen kann), dann vielleicht dies, dass das Konzept der Ganztagsbildung wie einleitend skizziert formales, nicht formales und informelles Lernen gemeinsam umfasst, formales und informelles Lernen aber in den Beiträgen nur wenig Berücksichtigung finden. Einzige Ausnahme ist ein Beitrag von Overwien, der den Begriff des informellen Lernens aus international vergleichender Perspektive bearbeitet.
(II) Ganztägige Bildungssysteme
Aus der Konferenz zur Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule in Bielefeld ist ein zweites Buch, ebenfalls von Otto und Coelen herausgegeben, hervorgegangen. Die Perspektive in diesem Band mit dem Titel „Ganztägige Bildungssysteme“ ist eine international und interkulturell vergleichende.
Nach einem einleitenden Beitrag über die Wissensökonomie, der das Thema des ersten Konferenzbandes fortsetzt, ist der Rest des Bandes stärker an einer systematisch-vergleichenden Perspektive orientiert und lässt die etwas schweratmige Bildungsbegriffdiskussion hinter sich. Dabei ergeben sich aus der Darstellung der Bildungssysteme der einzelnen Länder – wie Japan, Finnland Italien, Niederlande, Frankreich, Russland – interessante Anhaltspunkte für die deutsche Ganztagsschuldebatte. So zum Beispiel im Hinblick auf die Ausbildung der am Ganztag beteiligten Professionen. Während in Niederlande die Ausbildung für die entsprechenden Berufsgruppen – ähnlich wie in Deutschland – weitgehend separat und voneinander unberührt verläuft, hat sich in Russland aus der Pädagogik heraus ein spezielles neues Berufsbild entwickelt, das des „Pädagogen für ergänzende Bildung“ (117). Wenngleich die Ausbildung noch nicht dem Hochschulstandard der Lehrerausbildung in Russland entspricht, und diese Ausbildung inhaltlich im Detail erst zu prüfen wäre, ist dies auf jeden Fall eine auch für Deutschland diskussionswürdige Entwicklung.
Andererseits existieren im niederländischen Bildungssystem, so Manuela du Bois-Reymond (102), kaum Berührungsängste in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, auch nicht im Bereich der Ganztagsangebote. Hier kann man diskutieren, inwieweit das oben beschriebene Bildungsverständnis der Sozialpädagogik in Deutschland nicht dazu beiträgt, eine solche, in mancher Hinsicht sicher nützliche, Zusammenarbeit zu behindern.
Interessant ist auch das Konzept des Bildungsraumes in Russland als Kooperationsform zwischen schulischer und außerschulischer Bildung. Die Bildungspolitik Russlands folgt seit den 1990 er Jahren diesem Konzept. Es verschränkt die grundlegende schulische Bildung, die an nationalen Bildungsstandards ausgerichtet ist, mit einem System so genannter ergänzender Bildung, in der außerschulische Arbeit und außerschulische Erziehung miteinander verknüpft werden. Grundlegende und ergänzende Bildung arbeiten dabei im Sinne eines Kooperations- und Koordinationsmodell zusammen, nicht aber auf der Basis strikter Lenkung durch staatliche Institutionen (110f.; vgl. hierzu auch die Rolle der Kommunalpädagogik in Coelens Integrationsansatz I, 253). Innerhalb des Begriffs der Ganztagsbildung finden sich in Russland dadurch eben so viele unterschiedliche alternative Formen wie dies ähnlich in Deutschland zu beobachten ist. In diesem Sinne ist Ganztagsbildung in Russland nicht mit einer einheitlichen Form von Ganztagsschule gleichzusetzen, sondern umfasst unterschiedlichste Modelle und pädagogische Konzepte.
Der besondere Reiz dieses Bandes ist m. E. aber nicht in der Einzeldarstellung der Länder zu sehen, sondern darin, dass die verschiedenen ganztätigen Bildungssysteme im zweiten Drittel des Bandes vergleichend aus bildungstheoretischer Perspektive diskutiert werden.
Ein gutes Beispiel ist der Beitrag von Karl-Heinz Braun, der die Ganztagsorganisation in Frankreich und den Niederlanden miteinander vergleicht. Sein Vergleich stützt sich dabei auf einige zentrale pädagogische Kategorien wie zum Beispiel das Lehr-Lern-Verständnis in beiden Bildungssystemen. Braun beginnt mit der allgemeinen Feststellung, dass das traditionelle Lernverständnis der Schule durch vier, wie er es nennt, Lern-Lehr-Kurzschlüsse, charakterisiert ist. Zum einen geht das traditionelle Verständnis davon aus, dass Lernen nur in der Schule stattfindet und außerschulisches Lernen im Vergleich zum schulischen Lernen nur von minderer Qualität ist (siehe hier als Gegenentwurf das Konzept der Ganztagsbildung). Zweitens wird davon ausgegangen, dass die „entscheidenden Kompetenzen zur Lebensbewältigung im Unterricht und nicht im Schulleben erworben werden“. Drittens, die Lernenden müssen immer durch einen Lehrer angeleitet werden (Instruktionsprinzip). Viertens, Curricula und Prüfungen entscheiden allein über die Schullaufbahn (157f.).
Braun zeigt nun, wie diese Lern-Lehr-Kurzschlüsse – er nennt sie zusammen genommen ‚pädagogisch-soziale Lernpathologie’ (158) – in den beiden Bildungssystemen verankert sind bzw. bearbeitet und verändert werden. Dabei zeigt er etwa, dass im Bereich des informellen Lernens, welches er als eine der zentralen Möglichkeiten von Ganztagsschulen zur Auflösung der genannten Lernpathologien ansieht, in den Niederlanden – auf Grund des größeren Frei- und Spielraumes für von den Kindern und Jugendlichen selbst bestimmte Lern- und Bildungsprozesse und geringerer sozialer Kontrolle in der Schule – die vier Lehr-Lern-Kurzschlüsse deutlich weniger virulent sind als dies im französischen System der Fall ist, das stark auf den schulischen Unterricht (und soziale Kontrolle) ausgerichtet ist.
Solche Vergleiche sind in der Ganztagsschuledebatte insgesamt sehr hilfreich, weil sie in der Lage sind, getrennt für verschiedene pädagogische Problemfelder, die Leistungsstärken aber auch Schwächen der einzelnen nationalen Bildungssysteme zu identifizieren. Nur eine solche Diskussion, die die unterschiedlichen Strukturen nicht nur beschreibt, sondern auch in ihrer pädagogischen Wirkung bewertet, bietet eine sinnvolle Basis für die gezielte Adaption einzelner Bildungselemente in das deutsche Ganztagsschulsystem.
Den Abschluss dieses Bandes bildet (wieder) ein Beitrag von Thomas Coelen. Er stellt summarisch anhand zentraler Merkmale – u. a. Trägerschaft der Systeme, Finanzierung- und Bildungsformen, Funktion des Außerschulischen, Ausbildung des im Ganztag tätigen Personals, zeitliche Ausdehnung der Bildungssysteme, Elternbeiträge – die im Band beschriebenen Schulsysteme einander gegenüber. Dabei zeigt sich, dass in den meisten dargestellten Ländern sich ähnliche Problematiken finden wie in Deutschland. Beispielsweise besteht in den meisten Ländern ein starkes Ausbildungsgefälle zwischen den in den Ganztagseinrichtungen arbeitenden Berufsgruppen. Dazu gibt es in den einzelnen Ausbildungsgängen der jeweiligen Professionen kaum eine Vernetzung – beispielhaft stehen hierfür die Lehrerbildung und die Ausbildung der Sozialpädagogen.
Im internationalen Vergleich lässt sich darüber hinaus feststellen, dass in Bezug auf den Verpflichtungsgrad der Teilnahme der Schülerinnen und Schüler offene Ganztagsmodelle vorherrschen. In der Regel unterliegen diese Ganztagsschulen und ihr Angebot kommunalen Trägern und werden nationalstaatlich finanziert. Wichtig ist auch der Hinweis, dass in den meisten Ganztagsschulsystemen die formale Schulbildung gegenüber den Formen nicht-formellen und informellen Lernens deutlich stärker gewichtet wird – wobei allerdings eine leichte Zunahme der Anteile nicht-formeller und informeller Angebote festzustellen ist.
(III) Die Ganztagsschule
Der von Volker Ladenthin und Jürgen Rekus herausgegebene Band „Die Ganztagsschule ist auf Grund seiner Nähe zur Praxis für Leserinnen und Leser gut geeignet, die sich einführend mit dem Thema Ganztagsschule beschäftigen wollen (er ist erschienen in der Reihe „Grundlagentexte Pädagogik“ im Juventa-Verlag) – während die beiden vorgenannten Bände doch nur eher Fortgeschrittenen zu empfehlen sind.
Dementsprechend ist der Band als ein buntes Potpourri unterschiedlichster Perspektiven und Zugänge gestaltet. Den Einstieg bilden fünf ausführliche Schuldarstellungen, die den Leser auf dem Weg über konkrete Praxismodelle zum Thema führen – für mich zweifelsohne ein Lesevergnügen. (Zu den Falldarstellungen gehören auch die letzten beiden Kapitel des Buches, die den Weg zweier Schulen zur Ganztagsschule beschreiben.) Daraufhin folgen einige Abhandlungen zu Ganztagsformen im internationalen Vergleich (Frankreich, Großbritannien, Finnland und die Schweiz). Im Vergleich zum Band von Otto und Coelen (II) fallen diese Darstellungen jedoch eher blass aus. Die Schulsysteme werden lediglich deskriptiv vorgestellt, es fehlt in den meisten Fällen eine kritische pädagogische Auseinandersetzung in Bezug auf Vor- und Nachteile der jeweiligen Organisationsformen, die ich an dem Band von Otto und Coelen (II) so aufschlussreich empfand. Aber eine differenzielle Perspektive dieser Art mag für einen Grundlagentext nicht unbedingt die Messlatte sein.
Im selben Stil – man könnte ihn Berichtsstil nennen – folgen zwei Kapitel zur deutschen Situation. Im Beitrag von Konrad Fees werden die grundsätzlichen politischen Vorgaben beschrieben, wie zum Beispiel das Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung, in dessen Rahmen zwischen 2003 und 2007 insgesamt vier Milliarden Euro für den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen vom Bund für die Länder zur Verfügung gestellt wird und von dem zweifellos ein wesentlicher Impuls für die Entwicklung der Ganztagsschulen ausgegangen ist. Im selben Beitrag werden die Äußerungen und Definitionen der Kultusministerkonferenz und die einzelnen in den Bundesländern geltenden Regelungen zu Ganztagsschulen referiert.
Eine Bewertung der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Regelungen im Hinblick auf pädagogische Ziele der Ganztagsschule fehlt (Hier lohnt sich eher ein Blick auf die Veröffentlichung des Deutschen Jugendinstituts zu den Ganztagsangeboten in der Schule, auf die wir weiter unten noch näher eingehen werden; V). Dies hinterlässt den Leser relativ ratlos angesichts der vielen unterschiedlichen Konzepte und Regelungen. Dass dies auch etwa anders geht, zeigt der Beitrag von Ottwilm Ottweiler, der die Stellungnahmen der Parteien, Verbände und Kirchen zur Ganztagsschule zwar ebenso berichtartig referiert, dem Leser aber einen Bezugsrahmen für die verschiedenen Argumentationslinien bietet, der auch noch anhand einer übersichtlichen Grafik verdeutlicht wird, und der es erlaubt, die verschiedenen verbandlichen Verlautbarungen einzuordnen und zu sortieren. Eine solche Funktion hätte in dem Beitrag von Fees eine Synopse (ähnlich wie die von Coelen am Ende von Band II) erfüllt.
Einen völlig anderen Ton schlägt der Beitrag von Fitzek und Ley an. Hier wird aus der Perspektive der Psychologie – genauer der morphologischen Kulturpsychologie – die Frage bearbeitet, welche Vorstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen Eltern mit der Schule allgemein und mit der Ganztagsschule im Speziellen verbinden. Dieser Text sticht in mehrfacher Hinsicht aus dem Konzept des Bandes. Er ist zum einen 32 Seiten lang und beinhaltet eine über dreiseitige Auseinandersetzung mit den Methoden der morphologischen Kulturpsychologie. In Aufbau und Stil ist dieser Text eher für eine Fachzeitschrift geeignet (vielleicht war er dafür ursprünglich auch einmal geplant?), sicher aber nicht für einen ‚Grundlagentext’. Interessant ist die Perspektive aber auf jeden Fall. Es zeigt sich auf der Basis der Befunde einer empirischen Studie, dass sich in den Erwartungen der Eltern an die Ganztagsschule „auch die Hoffnungen und Sehnsüchte der Gegenwartskultur“ abbilden, einer Kultur, in der auf Grund der zahlreichen Erfahrungen des modernen Menschen mit „Disparatem und Richtungslosem“ als Gegengewicht der Wunsch zur Ganzheitlichkeit entstanden ist, in deren „Heilsverheißungen [...] sich die Versprechungen der Ganztagsschule nahtlos [einreihen] [...] Tatsächlich verweist der ‚Boom’ der Ganztagsschule darauf, dass hier über pädagogische Konzepte hinaus der Geschmack der Zeit getroffen ist. Unter dem Siegel der Ganzheitlichkeit wird eine Lösung der Kultivierungsaufgabe ‚im Ganzen’ und zur allseitigen Zufriedenheit versprochen, die weit über die Reformierung der Schule hinausgeht und unter parteiübergreifender Zustimmung den Neubeginn einer Wertorientierung in Familie und Gesellschaft verheißt“ (228).
Gleichzeitig ist mit der Hoffnung der Eltern auf „perfekte Rundumversorgung“ auch die Sorge um die „Aufgabe von Verantwortlichkeit und Kontrolle“ verbunden, die sich bei den Eltern in dem Gefühl äußert, „von einer gesichts- und namenlosen unbekannten Macht ausgehöhlt und unterwandert zu werden.“ – Was letztlich in der Angst vor totalitären Entwicklungen kulminiert (228f.).
Das Verhältnis der Eltern zur Ganztagsschule ist also durchaus als ambivalent einzustufen und wird auch von Volker Ladenthin in seinem Beitrag „Zum Verhältnis von Familienbildung und Schulbildung“ bearbeitet. Aus einer historisch systematischen Perspektive beschreibt er zunächst den zunehmenden Funktionsverlust der Familie in Bezug auf die Ausbildung der Familienkinder und die zunehmende Bedeutung der Schule, welche sich aus der rasanten Zunahme des relevanten Wissens in der modernen Gesellschaft herleitet. Während das schulische Lernen dabei vor allem ein systematisierend abstraktes Lernen ist, kommt es, ohne einen konkreten lebensweltlichen Bezug nicht aus. Diesen Bezug, den Ladenthin letztlich als basalen Wertbezug definiert, herzustellen – der sich u. a. darauf bezieht, was des Lernens aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen würdig ist – ist Aufgabe der Familie: „Das Elternhaus ist notwendig, weil es die Voraussetzungen für das Lernen schaffen muss: Erfahrungen, Welterfahrungen, Umgangswissen, Alltagswissen, der Erwerb einer gewissen Lebensklugheit, einer Überlebensschlauheit, ein Gefühl von Zeitgemäßheit, von Zeitgeistteilhabe, von Wirklichkeitsnähe, Tatsachensinn“ (252).
Als letzten Beitrag des Bandes möchte ich die Arbeit von Jürgen Rekus hervorheben. Mit dem Titel „Theorie der Ganztagsschule – praktische Orientierungen“ weckt er hohe Erwartungen. Ausgangspunkt ist, dass die gegenwärtige Debatte um die Ganztagsschulen nicht unabhängig von allgemeinen gegenwärtigen Modernisierungsprozessen zu betrachten ist, wobei er die fortschreitende Globalisierung als zentralen Motor dieses Prozesses identifiziert. Die Leitideen, die mit der Globalisierung, dem ersten Element seiner Theorie, verbunden sind, sind „die Deregulierung der bisher durch den Staat gesetzten Ordnungsrahmen einerseits und die Begrenzung seiner Ordnungspolitik auf die Aufgabe der Sicher von Mindeststandards im Güter- und Dienstleistungssektor andererseits“ (279). Dabei schlagen sich beide Leitideen in Bezug auf die Schule in der Forderung nach der Stärkung der Schulautonomie nieder und in der Formulierung von Bildungsstandards. Ganztagsschulen erfüllen in besonderem Maß das Deregulierungsparadigma: „Erstens können Schulen ein zeitlich flexibles, den regionalen Wünschen der Nachfrage angepasstes Schulprogramm anbieten (‚Kundenorientierung’), zweitens kann ein ganztägiges Angebot eine Nachfrage erzeugen und bildungsferne Schichten an die eigene Schule heranführen (‚Wettbewerbsorientierung’) und drittens ermöglicht das Angebot von Ganztagsschulen auch eine Deregulierung des Familienlebens, um es an die ökonomischen Anforderungen der Gesellschaft wie der persönlichen Finanzlage anzupassen, ohne durch Kindererziehung allzu sehr eingeschränkt zu sein (Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie)“ (281).
Zweites Element in Rekus’ Theorie der Ganztagsschule ist, dass Schule eine Bildungsanstalt ist (und bleibt), deren „vorrangiges Geschäft [...] in der didaktischen, methodischen und organisatorischen Sicherstellung der für die Bildung nötigen Lernprozesse“ besteht (285) – wenngleich, und dies betont Rekus ebenso wie wir das bei dem ersten besprochenen Band von Otto und Coelen diskutierten, schulische Bildung nur einen Teil der notwendigen Bildung abdeckt. Während den restlichen Teil der Bildung, der – ähnlich wie oben Ladenthin – als Wertbezug expliziert wird, in den (intakten) Familien geleistet wird, ist es Aufgabe der Ganztagsschule vor allem dort zu wirken, wo dieser Wertbezug von den Familien nicht geleistet werden kann oder nicht geleistet werden will. Allerdings, in dem Maße wie Rekus fordert, dass die Ganztagsschule dabei im Kern Schule bleiben soll (287), kommt bereits der zentrale Ansatz von Rekus zum Vorschein, nämlich dass das Primat der Familie in Bezug auf (wertbezogene) Bildungsprozesse erhalten bleiben soll. Ganztagsschule muss, so Rekus später, eine „familienergänzende Bildungsanstalt und keine familienersetzende Betreuungsanstalt“ sein, deren „Hauptzweck der Unterricht“ ist. Diese Funktion der Familienergänzung sieht er nur gewährleistet, wenn die Ganztagsschule neben dem Unterricht genügend Zeit für die Familie lässt (siehe hierzu auch die Elternperspektive aus den Fallstudien des Deutschen Jugendinstituts in V, 79). Deshalb erscheint ihm eine Tagesaufteilung in einen Vormittagsunterricht von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr und einen Nachmittagsunterricht von 14:30 bis 16:00 sinnvoll. Die Zeit davor, dazwischen und danach verbringt das Kinder in der Familie.
Wie auch immer man diesen praktischen Vorschlag bewerten will, grundsätzlich hat Rekus zumindest damit Recht, dass der ‚Zerfall der Familie’ bei weitem keine so besorgniserregenden Ausmaße angenommen hat, wie er gerne von denen kolportiert wird, die die Ganztagsschule als Konsequenz auf die zunehmenden erzieherischen Defizite der Familie sehen. Ob Rekus Ausführungen tatsächlich rechtfertigen, von einer Theorie der Ganztagsschule zu sprechen, möchte ich an dieser Stelle offen lassen.
Der Band von Ladenthin und Rekus bietet dem Leser insgesamt eine Reihe wichtiger Informationen zu Ganztagsschulen. Diese Informationen wirken in der ersten Hälfte des Buches relativ summarisch und unvermittelt. Ein pädagogische Diskussion bzw. Perspektive entwickeln erst einige Beiträge in der zweiten Hälfte des Bandes. Insgesamt gesehen ist das Buch modularisiert aufgebaut, was positiv gewendet heißt, dass die einzelnen Beiträge ohne Vorkenntnisse und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, was negativ gewendet heißt, dass die einzelnen Kapitel für sich stehen, ohne dass sie miteinander in einen konzeptionellen Zusammenhang gebracht werden.
(IV) Ganztagsschule - Ganztagsbildung
Von ähnlichem Zuschnitt in Bezug auf die Textgattung und den Adressatenkreis wie das eben beschriebene Buch ist der von Fitzner, Schlag und Lallinger herausgegebene Band „Ganztagsschule – Ganztagsbildung“. Auch ihn können wir als eine Art Grundlagentext verstehen, in dem die Praxis, die Politik wie ebenso die Theorie zu Wort kommt. Was den Leser jedoch sofort überfordert, ist die ungegliederte, keinem erkennbaren Konzept folgende Reihung der Beiträge. Wissenschaftliche Beiträge wie der von Holtappels über Forschungsbefunde zu Ganztagsschulen wechseln sich unvermittelt mit politischen und verbandlichen Stellungnahmen ab, oder auf die Darstellung eines Praxisbeispiels folgt eine Arbeit über den Beitrag der Neurowissenschaft für die Ganztagsschuldebatte. So bleibt einem nichts anders über, als sich – je nach den Absichten – selbst eine Schneise durch die 43 mal kürzeren mal längeren Beiträge zu schlagen.
Ich möchte im Folgenden sowohl die politischen Statements – obwohl die in dem Buch versammelten Autoren sicher zu den einflussreichen Protagonisten der Ganztagsschulbewegung gehören – als auch die Praxisbeispiele – sie sind zu vielgestaltig, um sie auf kurzem Raum zusammenzufassen – aussparen und mich auf zwei Beiträge beschränken, die Themen ansprechen, die in den bisher beschriebenen Bänden entweder gar nicht oder nur verkürzt angesprochen worden sind. Das betrifft zum Beispiel die Frage der Lehrer und der Lehrerbildung in der Ganztagsschule (Hempe-Wankerl) und die Auswirkungen der Einführung von Ganztagsschulen auf den Sozialraum – hier auf die Sportvereine (Markl):
Die Einführung einer Ganztagsschule hat nicht nur Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen, die sie besuchen oder deren Eltern, sondern beeinflusst auch die Arbeit der Lehrenden – vor allem deren Arbeitszeit. Christel Hempe-Wankerl beschreibt anhand eines Bremer Modellversuchs zu Präsenzzeiten (Ganztagsgrundschule Borchshöhe, Bremen) wie die Arbeitszeit von Lehrerinnen und Lehrern in Ganztagsschulen anhand eines Jahreszeitenarbeitsmodells neu geregelt und an die Situation der Ganztagsschulen besser angepasst werden kann. In diesem Modell werden für die Lehrer 35 Stunden Anwesenheit in der Schule (ca. 21 Stunden für Unterricht und 14 Stunden für Arbeiten wie „Planung und Dokumentation der Lernentwicklung der Kinder, Teambesprechungen, Kooperation, Elterngespräche, Arbeit im Schulprogramm, Verwaltungsaufgaben, Pausenaufsichten und gemeinsame Essenszeiten mit den Kindern“ (234) und etwa 10 weitere Stunden als individuell planbare Arbeitszeit in der Woche festgelegt. Die wöchentliche Gesamtarbeitszeit ergibt sich aus einer Arbeitszeitberechnung, die für das ganze Jahr einen Erholungsurlaubsanspruch von 30 Tagen vorsieht.
Wie Hempe-Wankerl schreibt, lässt sich bei diesem Modellversuch ähnlich wie in anderen Versuchen eine große Akzeptanz seitens des Lehrerkollegiums mit der neuen Arbeitszeitregelung feststellen. „Die Zufriedenheit gründet sich auf ein positives Lernklima und angenehme Lernatmosphäre und die als entlastend erlebte Arbeitsform im Team, sowie gemeinsame Arbeiten mit Erzieherinnen in der Schule“. (235) Allerdings muss hier hinzugefügt werden, dass der Modellversuch beziehungsweise die Bereitschaft, sich an diesem Modellversuch zu beteiligen von allen Lehrern des Kollegiums abgestimmt und mitgetragen wurde. Ob also die positive Reaktion der Lehrerinnen und Lehrer auf das neue Arbeitszeitmodell dieser Ganztagsschule verallgemeinerbar ist, müssen wir an dieser Stelle dahingestellt bleiben lassen.
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass in den bisher referierten Bänden zur Ganztagsschule die Perspektive der Lehrerinnen und Lehrer auf die Ganztagsschule seltsam unterbelichtet bleibt. Lediglich im Handbuch Ganztagsschule, über das wir gleich weiter unten sprechen werden, finden sich Hinweise auf die Chancen aber auch die Probleme, die sich für die Lehrkräfte in Ganztagsschulen ergeben. Dennoch lässt sich auch hier feststellen, dass empirische Forschungsarbeiten in diesem Bereich Mangelware sind und dringend Not tun.
In der Ganztagsschuldebatte spielt – wie wir oben auf der Basis der ersten beiden Bücher von Otto und Coelen kurz anrissen – der Begriff des Bildungsraumes bzw. der kommunalen Pädagogik eine wichtige Rolle. Während aus pädagogischer Sicht dabei die Aufgaben der Ganztagsschule im Hinblick auf deren Anteil an diesem Bildungsraum formuliert werden, richtet eine eher soziologisch orientierte Perspektive den Blick auf die Frage, wie sich die Ausweitung der Ganztagsbeschulung bzw. -angebote auf den Sozialraum zurückwirkt. So schreiben beispielsweise Wahler, Preiß und Schaub, dass die „Schulen [...] heute mit zahlreichen außerschulischen Angeboten in den Bereichen Freizeit und Bildung konkurrieren.“ (78) Was bedeutet es für den Sozialraum, wenn die Schulen diesen Wettbewerb gewinnen?
Dass in dieser Hinsicht nicht nur von positiven Wirkungen der Ganztagsschule auf den Sozialraum gerechnet werden kann, zeigt die Stellungnahme des Deutschen Sportbundes zum Verhältnis von Ganztagsschulen und Vereinssport. Während dabei zunächst die positiven Effekte der Kooperation zwischen den Ganztagsschulen und den Sportvereinen hervorgehoben werden, wird andererseits darauf verwiesen, dass davon auszugehen ist, dass „das angestrebte flächendeckende Netz von Ganztagsschulen zu einer Veränderung der Schullandschaft führen und nicht ohne Auswirkungen auf den organisierten Sport bleiben wird“ (413).
Die Befürchtungen in dieser Hinsicht lassen sich auf vier Ebenen beschreiben. Zum einen auf der Motivationsebene. Hier kann man davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche, die das Sportangebot der Ganztagsschule nutzen, weniger motiviert sein werden, nach dem Besuch der Schule am späten Nachmittag beziehungsweise frühen Abend noch Vereins Angebote wahrzunehmen. Ein zweiter Punkt bezieht sich auf die mangelnde Hallen-Kapazität. Die Zeiten, die die Ganztagsschule in den Turnhallen für ihr Angebot braucht, gehen andererseits den Sportvereinen an den Nachmittagen verloren – vor allem wenn man bedenkt, dass eine Vielzahl der zur Verfügung stehenden Hallen den Schulen gehören. Auf einer dritten Ebene, der Ebene der Übungsleiter, ist zu befürchten, dass diese dem Vereinssport auf Grund der besseren Vergütung im Bereich der Ganztagsschularbeit zunehmend verlorenen gehen. Dies ist in dem Maße für die Sportvereine problematisch, als gerade sie diejenigen sind, die für die Ausbildung der Übungsleiter aufkommen. Darüber hinaus wird auf einer vierten Ebene darauf verwiesen, dass die Arbeit im Bereich der Ganztagsschule für die Übungsleiter mit einem erhöhten Qualifikationsbedarf verbunden ist.
Wie sich in einzelnen Beispielen zeigt, so Markel, treffen die Übungsleiter aufgrund der Tatsache, dass der nachmittägliche Sportunterricht von den Kindern und Jugendlichen im Sinne von Unterricht, und damit im Sinne eines ‚Muss’ interpretiert wird, auf Probleme im motivationalen Bereich, worauf die Übungsleiter im Rahmen ihrer Ausbildung vorbereitet sein müssen. Auch ist sicher zu stellen, dass der im Rahmen des Nachmittagsangebotes angebotene Sportunterricht nicht das curriculare Sportangebot ersetzen darf. „Die Sicherstellung des Schulsports und insbesondere des Sportunterrichts ist und bleibt ein staatlicher Auftrag“ (Positionspapier des Deutschen Sportbundes zu den Ergebnissen der PISA-Studie; VII, 183).
Allerdings werden neben diesen Risiken von den Sportvereinen vor allem positive Möglichkeiten der Zusammenarbeit gesehen. So zum Beispiel, dass über die Ganztagsangebote die Sportvereine vermehrt in Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen kommen und auf diese Art und Weise auch Schülerinnen und Schüler erreichen, die sich ansonsten dem Vereinssport entziehen. In Bezug auf die Hallenzeiten, kann ein gutes Verhältnis zur Schule auch dazu führen, dass Kapazitäten für die Sportvereine entsprechend gesichert, unter Umständen sogar ausgebaut werden können. Auch eine stärkere Einbeziehung pädagogischer Elemente in die Ausbildung der Übungsleiter, wie sie deren Einsatz in der Ganztagsschule notwendig macht, ist aus der Sicht der Sportvereine durchaus zu begrüßen. Ein weiterer positiver Effekt des Einsatzes von Übungsleitern an den Schulen ist darin zu sehen, dass auf diese Art und Weise der Kontakt zwischen den Sportvereinen und den Schulen verbessert und die Übungsleiter über die Mitarbeit an schulischen Gremien entsprechende Kontakte aufbauen können und sich daraus eine für beide Seiten positive Kommunikationskultur ergibt. Zu beiden Aspekten, also sowohl zu den Chancen als auch den Risiken der Zusammenarbeit zwischen Ganztagsschule und Sozialraum, hier am Beispiel der Sportvereine gezeigt, liegen bislang keine gesicherten Forschungsergebnisse vor. Hier ist – wie ich das schon in Bezug auf andere Aspekte der Ganztagsschulforschung hervorhob – dringender Forschungsbedarf gegeben (s. u.).
Hinweisen möchte ich in diesem Band auch noch auf den Beitrag von Hans Rudolf Leu, der über die Vorarbeiten zu einem nationalen Bildungsbericht im Bereich nicht-formaler und informeller Bildung berichtet. Hier werden – und dabei ließe sich der Beitrag gut in den als ersten beschriebenen Band von Otto und Coelen zur Ganztagsbildung einfügen – zentrale Dimensionen des Bildungsbegriffs herausgearbeitet, wie zum Beispiel Teilhabe und Verantwortung, Aneignung und Gestaltung von Räumen, kulturelle Praxis und Lebensbewältigung. Ebenso werden formale, nicht-formale und informelle Bildungsorte und Modalitäten beschrieben und als Grundlage eines künftigen Bildungsberichts aufgearbeitet (Diese Ansätze sind in der Expertise des Deutschen Jugendinstituts zu den konzeptionellen Grundlagen eines Bildungsberichts für Deutschland detailliert beschrieben [3]).
Eine abschließende Bewertung des Bandes seitens des Rezensenten fällt schwer. Zu heterogen sind die in den Beiträgen angesprochenen Aspekte und zu wenig lassen sie sich in einen pädagogisch gerichteten konzeptionellen Zusammenhang bringen. Der Band, der aus einer Tagung der evangelischen Akademie Bad Boll hervorgegangen ist, lässt den Leser, um hier an die Diskussion um die Begriffe Wissen und Bildung (s. o.) anzuknüpfen, mit sehr viel Information und Wissen zurück, aber letztlich ungebildet.
(V) Ganztagsangebote an der Schule
In einer Situation, in der in Bezug auf die Ganztagsschule empirisch gesicherte Forschungserkenntnisse fehlen, kommt der Beitrag des Deutschen Jugendinstitut „Ganztagsangebote an der Schule“ von Wahler, Preis und Schaub gerade richtig. Auf der Basis der Unterscheidung der Kultusministerkonferenz in voll gebundene, teilweise gebundene und offene Ganztagsformen werden im vorliegenden Band 16 Fallstudien vorgestellt. Als Datengrundlage dienen qualitative, Leitfaden gestützte Expertengesprächen, mit den unterschiedlichsten Funktionsträgern der Schulen: der Schulleitung und mit dem Zusatz Angebot beauftragten Lehrkräften und außerschulischen Kooperationspartnern. Interviews wurden auch mit den Eltern sowie Gruppendiskussionen mit Schülern geführt. Die Ergebnisse der Datenerhebung wurden in so genannten Schul-Profilen zusammengefasst. Die querschnittliche Analyse, die in dem Band vorgestellt wird, gliedert sich entsprechend dreier wichtiger Ebenen: Zum einen werden die einzelnen Schulen in Bezug auf ihre strukturellen Rahmenbedingungen beschrieben. In einem zweiten Rahmen werden unterschiedliche Ganztags-Organisationsmodelle in Bezug auf die Mittagsbetreuung, die Hausaufgabenbetreuung sowie die außerunterrichtlichen Aktivitäten dargestellt. Ein dritter Teil befasst sich mit Problembereichen die in den einzelnen Schulen identifiziert werden konnten.
Der Band ist damit aus meiner Sicht besonders empfehlenswert, da Probleme, die mit der Ganztagsschule verbunden sind, in den bisher referierten Bänden eindeutig zu wenig Gewicht erhalten. Wenn dort, dann in Beschreibungen einzelner Praxisfälle, nicht aber systematisch vergleichend wie in der Studie des Deutschen Jugendinstituts. So wird der Sozialraumbezug, den wir weiter oben kurz aus der Sicht des Deutschen Sportbundes ansprachen, durchaus auch als problematischer Rahmen seitens der (offenen) Ganztagsschule interpretiert. So äußern Schulleiter die Sorge, dass „Schulen [...] heute mit zahlreichen außerschulischen Angeboten in den Bereichen Freizeit und Bildung konkurrieren“ müssen (78). „In der Praxis hat die Durchführung eines freiwilligen Nachmittagsangebots allerdings ihre Tücken [...] Abbröckelnde Teilnehmerzahlen und Motivationsverlust bei den Schülern sowie entsprechende Probleme bei den Lehrern, die Jugendlichen in Arbeitsgemeinschaften zu halten, werden in den Interviews immer wieder angesprochen“ (84f.). (Solcherart Probleme zeigen sich in gebundenen Schulmodellen in dieser Form nicht.) Es zeigt sich also, dass das Verhältnis zwischen etablierten außerschulischen Nachmittagsangeboten und die Arbeit der (offenen) Ganztagsschule von letzterer durchaus nicht immer im Sinne einer Kooperation verstanden bzw. gestaltet wird. Dies kann schwerwiegende Konsequenzen sowohl für die Schule als auch für den Sozialraum als Bildungsraum haben.
Darüber hinaus zeigt sich – und dies spricht wie oben dafür, sich empirisch stärker mit der Rolle der Lehrkräfte auseinander zu setzen –, dass zahlreiche Lehrkräfte, obwohl sie grundsätzlich die Ganztagsschule befürworten, äußerst skeptisch gegenüber den aus der Ganztagsschularbeit zu erwartenden kompensatorischen Wirkungen sind – sei es in Bezug auf die Leistungssteigerung der Schülerinnen und Schüler, oder sei es in Bezug auf deren soziale Integration. In Bezug auf die soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen wird u. a. betont, dass eine solche Arbeit nicht von LehrerInnen zu leisten ist, sondern allenfalls von Sozialpädagogen – die häufig genug an den Schulen fehlen (82f.). Dies zeigt sich vor allem dort, wo die Schulen in sozialen Brennpunkten liegen (89).
Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem Probleme auftreten können, ist das Verhältnis zwischen Lehrkräften und dem weiteren pädagogisch tätigen Personal. Während sich in einigen Beispielen die wechselseitige Zusammenarbeit zwischen beiden Berufsgruppen bewährt hat, sehen einige Schulleiter deutliche Probleme in Bezug auf das Personal am Nachmittag. So werden in einem Fall beispielsweise Arbeitskräfte vom Arbeitsamt bezahlt, das aber nur zeitlich stark befristete Verträge ausstellt, was die Planungssicherheit für die Schule erschwert. Andererseits sehen manche Schulleiter auch Schwierigkeiten hinsichtlich der Ausbildung der Nachmittagskräfte und deren Zusammenarbeit mit dem Lehrpersonal: „Diejenigen, die die Nachmittagsangebote machen, sind nicht mit den Lehrern gleichgestellt ... darunter leidet die Qualität. Die Aufteilung in einen ‚harten’ [Vormittag] und einen ‚weichen’ Bereich [Nachmittag] verhindert verlässliche Angebote, personelle Kontinuität, qualifiziertes Personal, verlässliche Ansprechpartner und vor allem die Verflechtung mit den Personen, die die Schule hauptamtlich [am Vormittag] tragen.“ – So ein Schulleiter (111).
Den Abschluss des Bandes bilden einige bildungspolitische Empfehlungen. Hierzu zählt zum Beispiel die Forderung nach mehr gebundenen Ganztagsschulen, „weil die Argumente der Befürworter auf die Kompensation von Lerndefiziten überzeugend erscheinen“ (120), wobei dies allerdings nicht ohne weitere Forschung über die Wirksamkeit gebundener Ganztagsschulmodelle erfolgen soll. Darüber hinaus wird zwar eine zunehmende Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule betont, aber auch eine Reihe von Schwierigkeiten für diese Kooperation gesehen, die zum Beispiel darin liegen, dass die „vorhandene[n] rechtliche[n] und organisatorische[n] Strukturen“ nicht in jedem Fall als zweckmäßig für die Zusammenarbeit zu sehen sind (121). Weitere Anregungen betreffen die Verbesserung der Hausaufgabenbetreuung, den Förderunterricht oder die Rhythmisierung der Angebotsgestaltung.
Der Band von Wahler, Preiß und Schaub ist m. E. in besonderer Weise zu empfehlen. Hier werden theoretische und rechtliche Hintergründe der Ganztagsschulmodelle als Ausgangspunkt genommen und einige Praxisbeispiele kontrastierend dagegen gesetzt. Daraus ergibt sich ein Bild zwischen Anspruch und Wirklichkeit, das am Ende dazu dient, spezifische Problemfelder der Ganztagsschule zu identifizieren und daraus – empirisch begründete! – Empfehlungen für die Gestaltung von Ganztagsschulen zu gewinnen. Diese Verknüpfung zwischen Theorie, Praxis und Perspektive gelingt in diesem – mit 130 Seiten auch noch angenehm schmalen Band – auf eindrucksvolle Weise.
(VI) Handbuch Ganztagsschule (VII) Investitionen in die Zukunft
Zum Schluss möchte ich noch zwei Bücher vorstellen. Zum einen das „Handbuch Ganztagsschule“ von Stefan Appel (in Zusammenarbeit mit Georg Rutz) und zum anderen das „Jahrbuch Ganztagsschule 2005“. Wenn wir in der Reihung der Bände bisher von den abstrakten Fragestellungen – wie dem Begriff der Ganztagsbildung – mehr und mehr zu den stärker praxisorientierten Themen fortschritten, so sind wir jetzt sehr konkret in der Praxis angekommen. Im Handbuch, das mit der Ausgabe 2004 in der 4. Auflage vorliegt, findet der Praktiker (zum Beispiel Schulleitung, Lehrer, interessierte Eltern), der sich für die konkrete Umsetzung von Ganztagsschulkonzepten interessiert, zahlreiche hilfreiche Hinweise.
Wenn wir dabei weiter oben monierten, dass dem Personal zu wenig Beachtung in der Diskussion geschenkt wird – zum Beispiel den Lehrern – so findet sich im Handbuch hervorhebenswerter Weise ein knapp 50-seitiges Kapitel, das sich genau dieser Problematik annimmt. Dabei wird sowohl das Verhältnis der einzelnen am Ganztagsangebot beteiligten Berufsgruppen – Lehrer, Sozialpädagogen/Erzieherinnen, Eltern – thematisiert als auch die Folgen, die sich für die Ausbildung ergeben. Auch Probleme der Zusammenarbeit werden nicht ausgespart (147). Darüber hinaus finden sich sehr konkrete Vorschläge wie die Raum- und Sachausstattung für eine gelingende Ganztagsschule aussehen oder wie der Mittagstisch gestaltet werden kann, ebenso wie darin natürlich auch ein Kapitel zu den pädagogischen Grundkonzepten, die der Ganztagsschule zu Grunde liegen, enthalten ist.
Während in der fundierten Praxisorientierung deutlich die Stärken dieses Bandes zu sehen sind, befriedigen die einleitenden Abschnitte zur Begründung der Ganztagsschule den Leser, der sich gerade durch die oben beschriebenen fünf Bände zur Ganztagsschule gearbeitet hat, in wissenschaftlicher Hinsicht nicht. Vor allem dort nicht, wo als Begründung für die Ganztagsschule auf ein modernisierungstheoretisches Defizitmodell der Familien – so zum Beispiel dass die Eltern den Anforderungen der Erziehung nicht mehr gewachsen sind (25) und die Kinder und Jugendlichen unter Rekreations-, Kompensations-, Edukations-, Kontemplations-, Kommunikations-, Integrations-, Partizipations- und Enkulturationsdefiziten leiden (66f.) – aufbaut.
Im Bereich der Begründung der Ganztagsschule zeigt sich, dass dieser Band aus der Feder eines Ganztagsschullobbyisten stammt – Stefan Appel ist Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes. Da wundert es auch nicht, dass bei der Begründung für die Einführung der Ganztagsschulen – neben der Vielzahl von Defiziten der nachwachsenden Generation (siehe kritisch hierzu den oben erwähnten Beitrag von Rekus in III) – das ein oder andere Faktum etwas ungenau dargestellt wird. So zum Beispiel begründet Appel die Notwendigkeit der Ganztagsschule unter anderem damit, dass die Kinder und Jugendlichen heutzutage kaum mehr Geschwister hätten und die Schule dieses Defizit notweniger Weise als „Ort der sozialen Geschwister“ aufzufangen hätte. Als Hintergrund benennt Appel: „Die Familien sind kleiner geworden (mehr Einkindfamilien, wenig Zweikindfamilien, selten Mehrkindfamilien)“ (25). Jedoch zeigt ein etwas tiefer gehender Blick in die Forschungsliteratur, dass der Anteil der dauerhaft als Einzelkinder aufwachsenden Kinder und Jugendlichen sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat und bei etwa 10 bis 15 Prozent liegt. Die häufigste Familienform ist die Zweikindfamilie [4]. – Damit will ich die Bedeutung dieses Buches insgesamt nicht schmälern. Es ist sicher kein vergleichbares Buch für Praktiker auf dem Markt.
Das gilt auch für das „Jahrbuch Ganztagsschule 2005“. Dieses in der zweiten Ausgabe erschienene Jahrbuch versammelt eine Reihe von Beiträgen zu den aktuellsten Entwicklungen im Bereich der Ganztagsschule. So zum Beispiel Berichte zur Entwicklung in einzelnen Bundesländern. Ohne hier auf die unterschiedlichen Beiträge eingehen zu wollen, scheint mir einer im Hinblick auf bisherige Forschungslücken, die wie schon mehrfach zu einzelnen Bereichen feststellen mussten, der Beitrag von Olaf Köller hervorhebenswert. Köller zeigt darin am Beispiel von zwei hessischen Ganztagsschulen wie Schulleistungstests – wie etwa solche aus TIMSS – fruchtbar auf die Evaluation von einzelnen Schulen angewandt und im Rahmen des Schulentwicklungsprozess genutzt werden können.
Weitere interessante Beiträge berichten über den Stand der Ganztagsschulentwicklung in der Deutschschweiz und in Österreich. Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere – u. a. vom Deutschen Sportbund, von der Arbeitsgemeinsacht Evangelischer Schülerinnen und Schülerarbeit (AES) oder dem Bund Deutscher Katholischer Jugend eröffnen neue Perspektiven und Standpunkte. Allerdings hat man einiges von dem, was im Jahrbuch 2005 versammelt ist, an anderer Stelle schon einmal gelesen. So zum Beispiel den Beitrag von Thomas Coelen zur Synopse ganztägiger Bildungssysteme (auch in II). Störend bei manchen Beiträgen ist deren Enthaltsamkeit gegenüber Quellenangaben. So ist beispielsweise im Beitrag von Winfried Schlaffke unklar, woher er die Zahl bezieht, dass gegenwärtig „nur rund 1.000 allgemein bildende Schulen (ohne Sonderschulen) in Deutschland Ganztagsunterricht“ anbieten (92) bzw. dass amtliche Statistiken zum Ganztagsangebot der Länder fehlen. (Dies wäre deshalb interessant, weil die Zahlen falsch sind – im Schuljahr 2002/03, dem aktuellsten Berichtsjahr waren knapp 5.000 allgemein bildende Schulen in öffentlicher und privater Trägerschaft [ohne die ca. 1.200 Sonderschulen] als Ganztagsschulen geführt [5]) – und zudem entsprechende Statistiken seitens des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kulturminister vorliegen.) Hier wäre nachzutragen, dass auch das Handbuch von Appel (VI) ohne Quellenangaben auskommt. Das ist für einen wissenschaftlich orientierten Leser nur schwer zu akzeptieren.
ResĂĽmee
Was können wir nach der Lektüre der sieben aktuellen Veröffentlichungen zur Ganztagsschuldebatte festhalten. Zum einen ist offensichtlich, dass das Thema Ganztagsschule – berechtigterweise – Konjunktur hat. Dies zeigen beispielsweise auch Literaturrecherche in den einschlägigen Datenbanken. Im Vergleich zu den letzten etwa 20 Jahren hat es noch nie so viele Veröffentlichungen gegeben wie im Jahr 2004 [6]. Trotz dieser Publikationsfülle muss man feststellen, dass einige Leerstellen sich durch die meisten Veröffentlichungen – zumal auch die hier rezensierten – ziehen.
Zum einen herrscht eine organisationsbezogene Sicht auf die Ganztagsschule vor, in der die Protagonisten an der Basis nur selten eingehend zu Wort kommen. Das gilt für die Lehrer wie für das weitere pädagogisch tätige Personal und auch für die Eltern, in besonderem Maß aber für die ‚Endverbraucher’ der Ganztagsschule: die Schülerinnen und Schüler. In keinem der hier vorgestellten Bände finden sich nennenswerte Spuren einer Auseinandersetzung mit den Schülerinnen und Schülern. Das muss umso mehr verwundern als es sich hier ja um eine originär pädagogische Diskussion handelt. Aber wie Martin Fromm zeigte, hat die Pädagogik ja durchaus eine gewisse Neigung ihre Adressaten nicht in die Diskussion einzubeziehen und deren Sicht nicht ernst zu nehmen [7].
Ein weiterer Punkt, der ins Auge springt, ist dass zu vielen Aspekten der Ganztagsschule gesicherte empirische repräsentative Daten fehlen. Nur wenig der Beiträge in den rezensierten Bänden stützen sich auf solche Daten. Wesentliche Ausnahme sind die Arbeiten von Heinz-Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund. Während er über einige Befunde von Ganztagsschulbefragungen berichtet, räumt aber auch Holtappels ein, dass wichtige Erkenntnisse noch ausstehen. So ist die Diskussion um die Ausbildung von Sozialpädagogen an Ganztagsschulen die eine Sache, die Frage, ob Sozialpädagogen aber überhaupt in nennenswerter Zahl im realen Ganztagsbetrieb vertreten sind, eine andere. Abhilfe kann hier die „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG) schaffen. Auf der Basis einer standardisierten Befragung von Schülerinnen und Schülern, deren Eltern, deren Lehrern sowie der Schulleitungen, dem weiteren in der Schule pädagogisch tätigen Personal und darüber hinaus auch noch mit den außerschulischen Kooperationspartnern wird die Studie zu einer Vielzahl der angesprochenen Forschungslücken erste repräsentative Ergebnisse liefern und damit die Diskussion um die Ganztagsschulen erstmals auf ein empirisch gesichertes umfassendes Fundament stellen. Mit ersten Ergebnissen muss allerdings noch bis voraussichtlich Frühsommer 2006 gewartet werden.
[1] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
[2] Büchner, Peter/Krüger, Heinz-Hermann (1996): Soziale Ungleichheiten beim Bildungserwerb und außerhalb der Schule. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/96 März 96, S. 21-30.
[3] Rauschenbach, Thomas/Leu, Hans Rudolf/Lingenauber, Sabine/Mack, Wolfgang/Schilling, Matthias/Schneider, Kornelia/ZĂĽchner, Ivo (2004): Konzeptionelle Grundlagen fĂĽr einen Nationalen Bildungsbericht: Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Bundesministerium fĂĽr Bildung und Forschung.
[4] Stecher, Ludwig (2001): Geschwister-Los. vom Aufwachsen mit und ohne Geschwister. In: SCHĂśLER. Seelze: Friedrich, S. 63-65.
[5] Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2005): Bericht über die allgemein bildenden Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland – 2002 und 2003. Bonn: Sekretariat der Kultusministerkonferenz [Online-Dokument; verfügbar unter http://www.kmk.org/statist/GTS_Bericht_2003.pdf; Stand 22.8.2005]
[6] Klieme, Eckhard/Kühnbach, Olga/Radisch, Falk/Stecher, Ludwig (in Vorbereitung). All-day Learning: Cognitive, Emotional and Social Learning. Eine wissenschaftliche Expertise zur Entwicklung und zu den Wirkungen von Ganztagsschulen im Auftrag der Jacobs Foundation. Frankfurt: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung.
[7] Fromm, Martin (1987): Die Sicht der Schüler in der Pädagogik. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)
Ganztagsbildung in der Ganztagsschule - Eine Sammelbesprechung
Grundbegriffe der Ganztagsbildung
Beiträge zu einem neuen Bildungsverständnis in der Wissensgesellschaft
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2004
(270 S.; ISBN 3-8100-4209-9; 22,90 EUR)
Ganztägige Bildungssysteme
Innovation durch Vergleich
MĂĽnster: Waxmann 2005
(220 S.; ISBN 3-8309-1483-0; 28,00 EUR)
Die Ganztagsschule
Alltag, Reform, Geschichte, Theorie
Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2005
(376 S.; ISBN 3-7799-1527-8; 24,00 EUR)
Ganztagsschule – Ganztagsbildung
Politik – Pädagogik – Kooperationen
Bad Boll: Evangelische Akademie 2005
(498 S.; ISBN 3-936369-14-3; 18,00 EUR)
Ganztagsangebote an der Schule
Erfahrungen – Probleme – Perspektiven
MĂĽnchen: Verlag Deutsches Jugendinstitut 2005
(130 S.; ISBN 3-87966-435-8; 9,50 EUR)
Handbuch Ganztagsschule
Praxis – Konzepte – Handreichungen
Schwalbach: Wochenschau Verlag 2004
(367 S.; ISBN 3-89974083-1; 24,80 EUR)
Investitionen in die Zukunft
(Jahrbuch Ganztagsschule 2005)
Schwalbach: Wochenschau Verlag 2004
(247 S.; ISBN 3-89974114-5; 24,80 EUR)
Ludwig Stecher (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ludwig Stecher: Rezension von: Ganztagsbildung in der Ganztagsschule - Eine Sammelbesprechung In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/ueberblick2003-6.html
Ludwig Stecher: Rezension von: Ganztagsbildung in der Ganztagsschule - Eine Sammelbesprechung In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/ueberblick2003-6.html