Die Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV), die als Maßnahme der Nationalsozialisten nahezu eine Million Kinder und Jugendliche aus so genannten ‚luftgefährdeten’ Gebieten in sichere Regionen des Reichs transportierte, wird nach wie vor in Publikationen thematisiert. Dabei fällt auf, dass es überwiegend die damals Verschickten sind, die eine Auseinandersetzung mit der Thematik suchen, indem sie ihre Erinnerungen niederschreiben oder zeitgenössische Tagebücher, Briefe oder sonstige Aufzeichnungen publizieren. Die hier zur Annotation vorliegenden Bücher machen da keine Ausnahme, weisen aber gleichzeitig einige Besonderheiten auf.
Georg Braumann, der bereits zuvor in der von der Dokumentations-Arbeitsgemeinschaft KLV e.V. herausgegebenen Reihe publizierte [1], hat nun zwei überaus umfangreiche Quellenbände vorgelegt. Dabei verdient der Band 8 der Reihe schon deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil er erstmals eine Fülle von Materialien unterschiedlicher Provenienz vorlegt, die ausschließlich die verschiedenen Formen der mit fürsorgerischer Absicht vollzogenen Verschickung von Kindern aufs Land illustriert, wie sie in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts stattfand. Am Beispiel der Stadt Bochum präsentiert er zunächst einige wenige Materialien zu den Ferienkolonien, die von verschiedenen Institutionen organisiert wurden und bedürftigen, d.h. sozial schwachen und in Folge von Krankheiten erholungsbedürftigen Kindern eine kurze Ferienfahrt ermöglichten. Anschließend wird die Kinderlandverschickung thematisiert, die in den Hungerjahren des Ersten Weltkriegs wiederum in Zusammenarbeit von Kirche, Kommunen und Vereinen die Kinder aus der Stadt auf das mit Lebensmitteln zumeist besser versorgte Land schickten. Dabei lagen die Zielorte auch in den neutral gebliebenen oder verbündeten Nachbarländern, wobei die Niederlande und die Schweiz die meisten Kinder aufnahmen. Da die wirtschaftliche Not besonders in den ersten Nachkriegsjahren gerade für Kinder aus sozial schwachen Familien bedrohlich blieb, wurde diese Form der Verschickung bis 1932 beibehalten, worüber weitere Quellen chronologisch geordnet Auskunft geben. So entsteht ein Quellenband, der beinahe alle Facetten dieser Fürsorgemaßnahme abdeckt, indem Materialien zur Organisation der Verschickung, zum Verlauf, zu auftauchenden Problemen, zu Erfolgen oder zur Finanzierung präsentiert werden. Der Autor selbst hält sich mit Kommentierungen sehr zurück, findet höchstens einmal einleitende Worte oder stellt Verbindungen her. In erster Linie sprechen die Quellen für sich und bieten sich für eine weiterführende Erforschung der Thematik hervorragend an.
Dieses Verfahren setzt Braumann in Band 9 der Reihe – erneut mit Bezug auf die Ruhrgebietsstadt Bochum – fort, nun aber in Bezug auf die Jahre 1933-1946 und vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen mit der KLV. Die Jahre bis 1940, in denen die Verschickung noch von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) organisiert und durchgeführt wurde, nehmen nur wenige Seiten ein. Im Vordergrund steht die Zeit seit September 1940, als die Hitler-Jugend die Federführung für die Verschickungsmaßnahmen innehatte. Erneut ist die Vielfalt der abgedruckten Quellen erstaunlich, und zu den offiziellen Schreiben, den Zeitungsartikeln und den zeitgenössischen Aussagen der verschickten Kinder und Jugendlichen (Briefe, Tagebucheinträge) kommen nun noch Erinnerungsberichte hinzu, die mit mehr oder weniger großem zeitlichem Abstand geschrieben wurden. Diese lassen vor allem Rückschlüsse auf die Wirkung der KLV-Zeit zu und fallen – abhängig von den tatsächlichen Erlebnissen und dem Reflexionsvermögen des Zeitzeugen – sehr unterschiedlich aus. Auch hier muss der Wert dieser Quellensammlung für weitere Forschungen festgestellt werden, wobei man sich an manchen Stellen eine stärkere Kommentierung des Autors gewünscht hätte. Gleichzeitig muss auch darauf hingewiesen werden, dass ein wenig mehr Systematik dem Buch gut getan hätte. Der erste Blick ins Inhaltsverzeichnis wirkt verwirrend, denn neben einer chronologischen Ordnung steht eine andere, die sich an den Verlegungsorten und den Namen der verlegten Schulen orientiert, so dass das Inhaltsverzeichnis mehr den Charakter eines Registers hat. Doch dieses unkonventionelle Vorgehen sollte nicht davon abhalten, sich mit den durch zahlreiche Fotografien ergänzten Quellen auseinanderzusetzen.
Peter Lindemann wurde 1943 mit seiner Schule von Stettin aus verschickt. Diese Erfahrungen sowie die Tätigkeit seines Vaters (oder Onkels?) als in der KLV eingesetztem Lehrer motivierten ihn offensichtlich zu einer näheren Beschäftigung mit der Thematik, die zur Publikation des Buches zur Kinderlandverschickung in Pommern führte. Das Buch besteht aus einem einführenden Teil, in dem Lindemann die Gesamtthematik umreißt. Dazu gibt er einen kurzen Überblick über die historischen Hintergründe der KLV sowie über die Forschungslage und beschreibt anschließend auf der Basis von Archivalien und Erinnerungsberichten kurz den Verlauf der Verschickung westfälischer und Stettiner Schulen nach Pommern. Der Hauptteil des Buches besteht aus chronologisch geordneten Erinnerungsberichten, die einige der damals Verschickten aus einem mehr oder weniger großen zeitlichen Abstand heraus verfasst haben. Ein eigenes Kapitel ist den Erinnerungen an Lehrkräfte vorbehalten, ein weiteres denen an die Zeit nach der Auflösung der Lager und die Rückkehr in die Heimat. Zusätzlich finden sich noch Tagebuchaufzeichnungen, die den Zeitraum Mai bis Oktober 1942 abdecken. Die Lektüre dieser Erinnerungen vermittelt einen Einblick in das Alltagsleben im Lager und in die Erlebnisse der Schülerinnen und Schüler, wobei freilich individuelle Deutungen, Verklärungen und Dramatisierungen dazu beitragen, dass die Darstellungen nicht unhinterfragt wahrgenommen werden können. Besonders interessant sind die Erinnerungen von damals aktiv handelnden Hitler-Jungen, die Funktionen im KLV-Lager übernommen hatten. Hier wird das Bedürfnis nach Rechtfertigung deutlich, wenn ein Lagerführer die fragwürdige Praxis der sog. Hordenkeile – die Gruppe verprügelt einen unordentlichen Mitschüler kollektiv – verteidigt, da „der stinkige Dreckfink ‚geheilt’“ worden sei und anschließend „ein netter sauberer Schüler wie die anderen auch“ wurde (143). Noch deutlicher wird ein damals als Feldscher tätiger Lagermannschaftsführer, der die vorgetäuschte Fußoperation eines vermeintlichen Simulanten wie folgt kommentiert: „Sozialromantische Alt-68er mögen ihre Nasen über die Verletzung der Persönlichkeitsrechte eines Kindes durch eine vorgetäuschte Operation rümpfen. Aber mit Eiapopeia ging da nichts“ (154). Die Ambivalenz solcher Erinnerungsberichte wird ebenso offensichtlich wie die Notwendigkeit eines behutsamen, die historischen Fakten berücksichtigenden Umgangs mit ihnen. Für einen solchen bietet auch diese Publikation geeignetes Material an.
EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)
Sammelannotation: Kinderlandverschickung
Kinderlandverschickung 1900-1932
Von der Hungerbekämpfung über Kinderlandverschickung zur Kindererholungsfürsorge mit Bochum als Beispiel
(Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 8 Sonderband)
(Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 8 Sonderband)
Bochum/Freiburg: projekt verlag 2008
(404 S.; ISBN 978-3-89733-174-7; 24,50 EUR)
Bochum – kinderlandverschickt und umquartiert 1933-1946
Bochumer Zeitungen, Schul- und andere Berichte, amtliche Dokumente
(Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 9).
(Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 9).
Bochum/Freiburg: projekt verlag 2009
(570 S.; ISBN 978-3-89733-195-2; 24,00 EUR)
Kinderlandverschickung in Pommern
Schwerin: Thomas Helms Verlag 2009
(310 S.; ISBN 978-3-935749-75-6; 29,80 EUR)
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Annotation:
Rüdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Braumann, Georg: Kinderlandverschickung 1900-1932, Von der Hungerbekämpfung über Kinderlandverschickung zur Kindererholungsfürsorge mit Bochum als Beispiel (Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 8 Sonderband). Bochum/Freiburg: projekt verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978389733174.html
Rüdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Braumann, Georg: Kinderlandverschickung 1900-1932, Von der Hungerbekämpfung über Kinderlandverschickung zur Kindererholungsfürsorge mit Bochum als Beispiel (Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Band 8 Sonderband). Bochum/Freiburg: projekt verlag 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978389733174.html