Erneut stehen die katastrophalen Zustände in vielen Kinder- und Jugendheimen der Bundesrepublik Deutschland, wie sie bis in die 1980er Jahre hinein herrschten, im Mittelpunkt einer Publikation. Ein wichtiges Thema, doch leider erfährt man in diesem Buch nicht viel Neues, denn im Grunde genommen wird lediglich zum einen die sog. Heimkampagne, die Ende der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der Studentenbewegung erstmals sehr öffentlichkeitswirksam auf die in den Heimen herrschenden Missstände hinwies, beschrieben, wobei fast ausschließlich und in sehr ausführlicher Form auf ältere Publikationen, u. a. von damals aktiv am Geschehen beteiligten Personen, Bezug genommen wird [1]. Zum anderen wird die Diskussion der letzten Jahre, die durch die Erinnerungen und Forderungen nach Wiedergutmachung durch die damaligen Opfer ausgelöst wurde, nachgezeichnet und in ihren Ergebnissen, Folgen und nach wie vor bestehenden Versäumnissen skizziert. Insofern ist das Buch in erster Linie eine Art Zusammenfassung der Ereignisse und für all diejenigen empfehlenswert, die sich einen schnellen Überblick über das Thema verschaffen möchten. Problematisch ist jedoch der im ersten Kapitel unternommene Versuch, die dramatischen Menschenrechtsverletzungen in den Heimen durch die zweifelsohne versäumte bzw. nur sehr oberflächlich vollzogene Entnazifizierung der Deutschen zu erklären. Diese monokausale Erklärung greift zu kurz, da ein autoritärer und zu drastischer Gewalt greifender Erziehungsstil wesentlich älter ist als der Nationalsozialismus und auch in katholischen Kreisen, die ja bekanntermaßen eine gewisse Distanz zum Nationalsozialismus pflegten, sehr verbreitet war.
[1] Besonders intensiv wird aus dem Buch „Fürsorgeerziehung. Heimterror und Gegenwehr. Frankfurt am Main / Hamburg 1971“ zitiert. Ein programmatischer Text von Ulrike Meinhof (Heimkinder in der Bundesrepublik - aufgehoben oder abgeschoben? In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Heft 9, 1966. S. 616ff) bleibt dagegen unerwähnt.
EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)
Das blinde Auge des Staates
Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder
Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2010
(159 S.; ISBN 978-3-7815-1710-3; 15,90 EUR)
RĂĽdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Annotation:
RĂĽdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Schölzel-Klamp, Martina / Köhler-Saretzki, Thomas: Das blinde Auge des Staates, Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978378151710.html
RĂĽdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Schölzel-Klamp, Martina / Köhler-Saretzki, Thomas: Das blinde Auge des Staates, Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978378151710.html