Angeregt durch die Publikation „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski, die kürzlich auf das Schicksal von Heimkindern aufmerksam machte, führte die Autorin ein Forschungsprojekt durch, in dem sie sowohl ehemalige Heimkinder als auch frühere Heimerzieherinnen interviewte, um die „Realität der Heimerziehung zwischen 1950 und 1970“ (36) zu ergründen. Dabei werden in einem ersten Schritt die Gesprächspartnerinnen und -partner kurz vorgestellt und die thematischen Schwerpunkte des jeweiligen Interviews unter Wiedergabe von z.T. längeren Gesprächsausschnitten zusammengefasst. Es schließt sich eine Auswertung an, die darum bemüht ist, die Erinnerungen beider Gruppen unter den Überschriften ‚Alltagserfahrungen im Heim’, Erziehungsziele’ und ‚Erziehungsmethoden’ in ihrer Ambivalenz zunächst darzustellen und anschließend zu diskutieren. Die Autorin folgt damit einem interessanten Ansatz, der jedoch unter ihren zum Teil widersprüchlichen, ja auch irritierenden Interpretationen leidet. So belegen die Interviewauszüge, dass psychische und physische Misshandlungen in den Heimen an der Tagesordnung waren, doch versteigt sich die Autorin zu der nicht belegten Behauptung, dass erlittene Traumatisierungen „die meisten“ nicht daran gehindert habe, „ein normales und glückliches Leben zu führen“ (188). Hilflos steht sie vor der Tatsache, dass einzelne Gesprächspartner die im Heim erlebte Gewalt – die angeführten Beispiele gehen über einzelne Ohrfeigen deutlich hinaus – heute „nicht als dramatisch“ (153) bewerten und stellt die Behauptung auf, dass sich die positiven und negativen Erfahrungen aller Heimkinder ungefähr die Waage halten dürften, obwohl „vier Fünftel der befragten ehemaligen Kinder aus dem Heim“ (178) sich der These anschließen, es habe sich um eine „menschenunwürdige Erziehung“ gehandelt (177). Auch im letzten Kapitel, in dem „Folgerungen für die heutige Praxis“ thematisiert werden, bleiben viele Fragen offen, und es erstaunt, wenn im Hinblick auf Entschädigungsforderungen traumatisierter Heimkinder der Vergleich zu Entschädigungsforderungen der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gezogen wird (191f.) So bleibt der Eindruck einer etwas überhasteten Auswertung von interessantem Material.
EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)
„So erzieht man keinen Menschen!“
Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008
(201 S.; ISBN 978-3-531-15814-3; 24,90 EUR)
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Annotation:
Rüdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Kuhlmann, Carola: „So erzieht man keinen Menschen!“, Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre . Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978353115814.html
Rüdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Kuhlmann, Carola: „So erzieht man keinen Menschen!“, Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre . Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978353115814.html