Trotz zahlreicher bereits vorliegender Publikationen zur Berliner Schulgeschichte scheint es auch weiterhin viele Forschungsdesiderate zu geben, wie die hier zu annotierenden Neuerscheinungen der letzten Jahre andeuten.
Agnes Winter geht am weitesten in die Geschichte zurück und fragt in ihrer Dissertation, wie die sich im 16. und 17. Jahrhundert in Berlin etablierenden Gelehrtenschulen in einer „mehrkonfessionellen Bildungslandschaft“ (11) entwickelten. Dem Konzept von H. Schilling und W. Reinhard folgend, möchte sie die Auswirkungen der Konfessionalisierung auf das Berliner Gelehrtenschulwesen, repräsentiert durch das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster, das Cöllnische Gymnasium, das Joachimsthalsche Gymnasium, das Friedrichswerdersche Gymnasium und das Collège François (Französisches Gymnasium), sowie die Einbindung dieser Schulen in die damit verbundenen Prozesse herausarbeiten. Nach einer kompakten Beschreibung der historischen Rahmenbedingungen wendet sie sich unter Heranziehung eines sehr umfangreichen Quellenmaterials verschiedenen Aspekten dieser Schulen zu. Auf die Skizzierung der Anfänge der Schulen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts folgt eine prosopographische Analyse der Lehrenden wie der Schülerschaft, um deren regionale Herkunft, Konfession und sozialen Stand bestimmen zu können. Eine Untersuchung des Lehrprofils der Schulen sowie ihrer Stellung im religiösen und gesellschaftlichen Leben der Stadt folgen, bevor eine umfangreiche Ergebniszusammenfassung die Arbeit beschließt. Die hier getroffenen Feststellungen überraschen nicht, wenn sie einerseits betonen, dass „seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Berlin mit seinen fünf Gelehrtenschulen der bedeutendste Ort gymnasialer Bildung in Brandenburg-Preußen war“, und andererseits die lange Zeit feststellbare klare konfessionelle Abgrenzung der Anstalten untereinander sowie deren Bestreben hervorheben, den Nachwuchs der jeweiligen Konfessionskultur heranzubilden. Den vielfältigen Unterschieden standen jedoch auch Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Lehrinhalte und –methoden sowie der Offenheit für den Pietismus gegenüber, die bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts deutlich wurden. Eine Anlage mit statistischen Angaben zu den Lehrkräften der fünf Schulen sowie einem Orts- und Personenregister beschließt die sehr fundierte und überzeugende Arbeit.
In dem Buch von Ingrid Littmann-Hotopp findet man eine Wiedergabe der auf amtlicher und öffentlicher Ebene ausgetragenen Auseinandersetzung um die Frage, ob und wie jüdische Lehrerinnen und Lehrer im niederen Schulwesen zu beschäftigen sind. Dazu werden in erster Linie längere, teilweise über mehrere Seiten gehende Zitate aus Erlassen, Stellungnahmen, Presseartikeln, Briefen u.a. angeführt, die durch Aussagen der Autorin nicht immer überzeugend miteinander verknüpft werden. Ein ca. 60-seitiger Anhang versammelt weitere Dokumente, so dass das Buch als eine Mischung aus Darstellung und Quellensammlung zu bezeichnen ist. Zwar lässt sich bei der Lektüre durchaus erkennen, dass konfessioneller Starrsinn und Antisemitismus der an den Diskussionen beteiligten Amtsträger, Journalisten, Eltern oder politischen Gruppierungen dafür sorgten, dass nur sehr wenige jüdische Lehrkräfte an öffentlichen Gemeindeschulen eine Anstellung fanden. Die durch den Titel des Buches erwartbare, an Fallbeispielen aus dem Schulalltag orientierte Darstellung der Berufssituation jüdischer Lehrkräfte liegt jedoch nicht vor. Die Entscheidung für eine klare Trennung eines Quellen- von einem Darstellungsteil wäre zweifellos sinnvoll, die Berücksichtigung der vorliegenden, thematisch einschlägigen Literatur – das Literaturverzeichnis fällt mit sechzehn zeitgenössischen und elf aktuellen Titeln sehr spärlich aus – ratsam gewesen.
Franziska Roosen möchte in ihrer Dissertation am Beispiel der Berliner Hugenotten den Beweis antreten, dass deren Streben nach einer zügigen Integration in die deutsche Aufnahmegesellschaft keineswegs sehr ausgeprägt war und dass es ihnen im 18. Jahrhundert „zunehmend darum ging, ihre gruppenausweisenden und identitätsstiftenden Merkmale wie gemeinsame Herkunft, konfessionelles Brauchtum und französische Sprache durch eine entsprechende Anleitung ihrer Kinder zu bewahren“ (15). Nach einer Auseinandersetzung mit der Frage nach den Einflüssen der Pädagogik Jean Calvins auf die Erziehungsvorstellungen der Hugenotten sowohl in Frankreich als auch in Brandenburg-Preußen sowie der ereignisgeschichtlichen Beschreibung der Gründe und des Verlaufs der Flucht aus Frankreich wendet sie sich den von den Hugenotten in Berlin gegründeten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen zu. Dabei geht es zum einen um das zahlreiche Kinder erfassende Elementarschulwesen und zum anderen um zwei bislang weitgehend unerforschte Anstalten, nämlich das hugenottische Waisenhaus (Maison des Orphelins) und die Armenschule (École de Charité). Während sie dem erstaunlich gut entwickelten hugenottischen Elementarschulwesen, für dessen Lehrernachwuchs durch eine eigene Ausbildung gesorgt wurde, große Erfolge bei der „Festigung von Rang und Ansehen der französischen Sprache“ (201) bescheinigt, wodurch ein deutlicher Beitrag „zur Aufrechterhaltung ihres Minderheitenstatus“ (ebd.) geleistet worden sei, bewertet sie den Erfolg der beiden anderen Einrichtungen im Hinblick auf die Identitätsbewahrung noch höher. Durch die starke Bindung der Zöglinge an das Waisenhaus und durch den Internatscharakter der Armenschule hätten diese erzogen und sozialisiert und somit geradezu „Gegenassimilation“ betrieben (290). Dass Roosen ihre Untersuchung auf der gründlichen Auseinandersetzung mit zum Teil bislang nicht berücksichtigtem Quellenmaterial aufbaut und nachvollziehbar argumentiert, verleiht ihren Ergebnissen Überzeugungskraft. Da sie damit vorliegenden Meinungen von einer geräuschlosen und bereitwilligen Assimilation der Hugenotten widerspricht, darf man auf die folgenden Diskussionen gespannt sein. Lobenswert auch hier: das Personen- und Ortsregister.
Michael-Sören Schuppan geht es in seiner Habilitationsschrift darum, durch die Analyse einschlägiger Akten die Steuerung des Berliner Schulwesens in den Jahren der Weimarer Republik zu analysieren. Diese ist deshalb von besonderem Interesse, weil mit den staatlichen Behörden – repräsentiert durch Ministerium, Oberpräsident und Provinzial-Schulkollegium – und dem sehr selbstbewusst auftretenden städtischen Behörden zwei Kompetenzstrukturen aufeinander trafen, die – wie Schuppan an verschiedenen Beispielen zeigt – nicht immer einer Meinung waren. Das sich aufbauende Spannungsfeld hatte seine Ursachen einerseits in der von Polarisierung geprägten politischen Kultur der Zeit, andererseits aber vor allem in den Verwaltungsstrukturen und zum Teil unklaren Kompetenzverteilungen, zwei für das Funktionieren von Schulsteuerung wichtigen Faktoren, die Schuppan zu Beginn der Arbeit beschreibt. An Beispielen wie der Schulgelderhebung, der Verfassungsfeier, den Elternbeiratswahlen u.a.m. zeigt er dann auf, wie sich Konflikte entwickelten und wie diese gelöst bzw. ausgesessen wurden, wobei die wichtige Rolle, die die gerade an Schulangelegenheiten sehr interessierte Berliner Öffentlichkeit spielte, stets berücksichtigt wird. An die Diskussion weiterer Konfliktfelder, wie sie sich in der Phase der Konsolidierung der Republik und ihrer Krise zu Beginn der 1930er Jahre zeigten, schließt sich ein Fazit an, dass die Motive des Berliner Magistrats für das Ringen um mehr Einfluss auf innere Aspekte des Schulbetriebs noch einmal betont, gleichzeitig aber auch seine Machtlosigkeit hervorhebt. Der Grundansicht, dass „die Regelung, Führung und Beaufsichtigung des inneren Schulbetriebs ausschließlich eine Angelegenheit des Staates“ ist (180), musste auch Berlin folgen. Dass der etwas spröde Schreibstil des Autors die Lektüre nicht immer zum Vergnügen macht, soll ebenso erwähnt werden wie das vorbildliche Sach- und Personenregister. Der Erkenntnisgewinn zu Fragen der Schulverwaltungsstrukturen in Berlin und zur Funktion der Schule als Austragungsort eines Machtgerangels von Behörden macht die Untersuchung nichtsdestotrotz lesenswert.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass es offensichtlich immer wieder neue Quellen oder neue Fragestellungen gibt, die zu einer weiteren Auseinandersetzung mit der Berliner Schulgeschichte anregen und diese rechtfertigen. Es werden sicher nicht die letzten Publikationen zu diesem Themenkomplex gewesen sein.
EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)
Sammelannotation Berliner Schulgeschichte
Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574-1740)
(Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Bd. 34)
Berlin: Duncker und Humblot 2008
(476 S.; ISBN 978-3-428-12439-8; 86,00 EUR)
„Soutenir notre Église“
Hugenottische Erziehungskonzepte und Bildungseinrichtungen im Berlin des 18. Jahrhunderts
(Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V. Band 42)
(Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V. Band 42)
Bad Karlshafen: Verlag der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V. 2008
(388 S.; ISBN 978-3-930481-24-8; 22,80 EUR)
Jüdische Lehrkräfte an den Berliner Gemeindeschulen zwischen 1875 und 1914
Berlin: Metropol 2008
(222 S.; ISBN 978-3-938690-95-6; 22,00 EUR)
Hauptstadtegoismus und preußische Schulverwaltung
Die Berliner Schulentwicklung im Spannungsfeld bildungspolitischer Kompetenzen 1919–1933
Paderborn u.a.: Schöningh 2007
(207 S.; ISBN 978-3-506-76334-1; 29,90 EUR)
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Annotation:
Rüdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Winter, Agnes: Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574-1740), (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Bd. 34). Berlin: Duncker und Humblot 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978342812439.html
Rüdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Winter, Agnes: Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574-1740), (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Bd. 34). Berlin: Duncker und Humblot 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978342812439.html