Dietrich Geyer – dem Fachpublikum eher bekannt als Osteuropahistoriker – legt in diesem Werk ein sehr lesenswertes Buch über die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland vor, wie es im Untertitel heißt. Gleich vorweg: wer eine historisch-systematische Darlegung der Disziplin erwartet, wird enttäuscht werden. Wer sich indes mit dem Autor auf die biographischen Spuren ausgewählter Personen und „Gedächtnisorte“ der Psychiatrie begibt, kann anhand dieser Protagonisten die Entstehung und Konstruktion eines Feldes mitvollziehen, das als Kontrastfolie einer heute hochprofessionalisierten und hochgradig spezialisierten psychiatrischen Realität genutzt werden kann.
Zeitlich bewegt sich Geyers Geschichte zwischen den symbolischen Jahren 1789 und 1848. In dieser Zeitspanne verortet er wesentliche Weichenstellung der institutionellen Herausbildung psychiatrischer Anstalten und erste Ansätze der Professionalisierung eines bis dato sehr vagen Berufsstandes. Gegliedert ist das Buch in sieben Kapitel. Im ersten Kapitel skizziert der Autor philosophische und anthropologische Annahmen der Zeit, um die Konstruktion des „Irrseins“ und die damit verbundene Behandlung zu illustrieren. Im zweiten Kapitel wird anhand herausragender medizinischer Persönlichkeiten rekonstruiert, wie sich ein neues Fach im akademischen Betrieb – langsam und nicht ohne Rückschläge – etabliert, um im dritten Kapitel den Blick auf das Innenleben staatlicher Anstaltspsychiatrien (Neuruppin, Bayreuth, Berlin, Waldheim) zu lenken, die sich zwar vom Gefängniswesen emanzipiert hatten, jedoch noch als Teil der Armenfürsorge figurierten. Das mit Abstand umfangreichste Kapitel folgt mit dem Titel „Karrieremuster und Musteranstalten“. Es zeichnet an drei „Anstalten“ die Herausbildung eines psychiatrischen Feldes nach; anhand der Reiseaufzeichnungen von Albert Zeller – in sehr detaillierte Skizzierung – wird der Blick auch auf Entwicklungen innerhalb und außerhalb Deutschlands (England, Frankreich) gelenkt. Es zeigt sich, dass die Entwicklung der deutschen Psychiatrie – wenn überhaupt von einer einheitlichen deutschen Entwicklung gesprochen werden kann – durchaus im europäischen Trend lag. Das nächste Kapitel widmet sich Strategien zur Professionalisierung des Feldes: Fachperiodika, die Gründung einer Sektion für Psychiatrie innerhalb der Gesellschaft Deutscher Naturforscher sowie die Publikation von Lehrbüchern. Kapitel sechs beleuchtet die Beziehung zwischen Revolution (1848)und Psychiatrie. Abgeschlossen wird das Buch mit einigen Bemerkungen zur Gegenwart.
Leserinnen und Leser, die sich jenseits von akademischen und hochspezialisierten Einzelstudien ĂĽber die Herausbildung der Psychiatrie in Deutschland informieren wollen, werden an diesem gelehrten und zugleich sehr lesbar geschriebenen Buch ihre Freude haben.
EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)
TrĂĽbsinn und Raserei
Die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland
MĂĽnchen: C.H. Beck 2014
(352 S.; ISBN 978-3-406-66790-9; 29,95 EUR)
Jan Böhm (Linz)
Zur Zitierweise der Annotation:
Jan Böhm: Annotation zu: Geyer, Dietrich: TrĂĽbsinn und Raserei, Die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland. MĂĽnchen: C.H. Beck 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978340666790.html
Jan Böhm: Annotation zu: Geyer, Dietrich: TrĂĽbsinn und Raserei, Die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland. MĂĽnchen: C.H. Beck 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/978340666790.html