Zunächst zu den rezensierenden Passagen:
- Tenorth bemängelt, dass ich zwischen den Bio-Wissenschaften und der Eugenik "nicht präzise" (2) unterscheide. Aber wie sollte eine präzise Unterscheidung denn aussehen? Dass die Bio-Wissenschaften eine Sache sind und Eugenik eine ganz andere ist? Das freilich hätten um das Image ihres Forschungsfeldes besorgte Bio-Wissenschaftlerinnen und Bio-Wissenschaftler allzu gern. Aber jeder auch nur oberflächlich in die Debatten der letzten zwanzig Jahre Eingelesene weiß, dass die Bio-Wissenschaften auf eine eugenische Praxis zusteuern. Natürlich ist das Feld der Bio-Wissenschaften viel zu weit und ihre praktischen Anwendungsmöglichkeiten zu breit gestreut, als dass man sie auf Eugenik verengen dürfte. Das aber lässt sich meinem Buch auch nicht entnehmen. Es geht ganz einfach nur darum, dass Eugenik eine Anwendungsperspektive der Bio-Wissenschaften darstellt. Das ist völlig unbestritten und wenn Tenorth eine andere Sichtweise nahe legen will, dann wäre das etwa so unsinnig, wie wenn jemand in Abrede stellen wollte, dass die friedliche oder kriegerische Nutzung der Kernenergie eine Anwendungsperspektive der Atomphysik war.
- Interessanter aber ist ein anderes Monitum. Für Tenorth besteht ein "zentrale(r) Fehler" (3) meiner Argumentation darin, dass ich die moderne Pädagogik in einem anwaltschaftlichen Verhältnis zur biologischen Natur des Kindes stehen sehe, während es doch immer nur und bis heute um "die ‚zweite’, die soziale und moralische Natur des Menschen" gegangen sei. Mal ganz abgesehen davon, dass Tenorth hier in einem schlichten Dualismus verharrt, der gegenwärtig in der pädobiologischen Pädagogik und in der internationalen biosozialen Kindheitsforschung rapide veraltet (vgl. dazu meine Abhandlung "Integrative Perspektiven zwischen sozialwissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und biowissenschaftlicher Kindheitsforschung?" in: ZSE, 24. Jg., H. 4, 2004, S. 339-362, im Druck), so steht sein Argument auch historisch auf schwachen Beinen. Wahr ist wohl, dass es der Pädagogik nach der grandiosen Dekonstruktion der Natur des Menschen und Kindes aus ihrer ständischen Gefangenschaft um die Frage des Umgangs mit der moralisch ambivalenten Natur des Kindes ging und gehen musste! Aber ging es der pädagogischen Reflexion denn nicht auch immer um die Rezeptivität, um Veranlagungen und Talente? Denn das naturale Gegenstück zu den ethischen Bestimmungen der Moralität, der Zukunftsoffenheit und Selbsttätigkeit war die leiblich-sinnliche Organisation des Kindes, mit der sich die pädagogische Theoriearbeit auseinander zu setzen hatte (vgl. dazu meine Abhandlung "Die ‚Grenzen der Erziehung’ – Ihre Ursprünge im pädagogischen Liberalismus und ihre Kodifizierung im Herbartianismus". In: Neue Sammlung, 44. Jg., H. 4, 2004, im Druck). Wenn heute aus evolutionstheoretischer Perspektive von der "Natur der Moral" die Rede ist, dann sei daran erinnert, dass im Denken jener frühen Theoretiker der Pädagogik (biologische) Natur und Moralität noch eng beieinander lagen, enger jedenfalls als im Denken des Erziehungshistorikers Tenorth. Und nebenbei noch: Die "zweite Natur" des Menschen ist pure Potentialität und der Weg zu ihrer Entfaltung geht immer, mit Tenorths Dualismus gesprochen, durch die erste Natur. Es gibt eine kleine Abhandlung von Herbart, an der man das gut studieren kann: "Die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung". Die erste Natur des Kindes tritt den Eltern und den PädagogInnen in den Einrichtungen veranstalteter Erziehung als Gesamtheit seiner leiblich-sinnlichen Organisation gegenüber, und ohne Auseinandersetzung mit ihr kann man auf die zweite Natur lange warten. Tenorth fällt mit seinem Dualismus in die Welt der transzendentalen Sittlichkeit zurück.
- Entscheidend ist nun, dass Tenorth in seiner dualistischen Befangenheit nicht begreifen kann, wovon eigentlich die Rede ist und was da auf uns zukommt. Er meint, die stumme Prämisse der pädagogischen Anthropologie, wonach die Natur des Kindes kontingent zustande kommt, sei der Zeit enthoben und liefere der Pädagogik in alle Zukunft hinein die legitimatorische Kraft, um sich gegen die Funktionalisierung für soziale Vererbung zur Wehr zu setzen. Aber das Bild von der kontingent gedachten Natur des Kindes, für welche die Pädagogik die Anwaltschaft gegenüber den pädagogisch unaufgeklärten Gestaltungsansprüchen von Eltern und korporativen Akteuren zu haben glaubt, dieses Bild steht mit der Möglichkeit genetischer Manipulation auf dem Prüfstand. In die Natur des Kindes gehen Bestellungen ein, die sich als Aufträge an die Pädagogik auswirken. Diese Problemdiagnose muss Tenorth nicht teilen; doch wenn er sie nicht teilt – das geht aus seiner Besprechung nicht hervor – müsste er mitteilen, was er anders sieht. Sollte er der Diagnose aber zustimmen – auch das geht aus seiner Besprechung nicht hervor – und sollte er sie für eine schlechte Nachricht halten, dann sollte er sich mit der Nachricht und nicht mit ihrem Überbringer auseinander setzen. Es liegt nicht in meinem Interesse, die Pädagogik zur Designer-Pädagogik zu machen. Das entbindet mich aber doch nicht von der Pflicht, auf Szenarien hinzuweisen, die sich am Horizont eines Möglichkeitsraumes abzeichnen! Und schon gar nicht macht mich das "in eigentümlicher Weise fatalistisch" (4). Es geht nicht darum – wie Tenorth suggerieren will –, Entwicklungen "zur Anerkennung" (1) zu bringen, sondern zur Beachtung! Aber wer mit aufgeregter Hände-weg-Haltung die Augen verschließt, als ließen sich damit Gespenster verscheuchen, ist ganz einfach naiv.
- Natürlich ist es Unfug meinem Buch entnehmen zu wollen, ich sähe die Pädagogik in ihrem "Alleinvertretungsanspruch" bzw. ihrer Autonomie in "Sachen Menschenverbesserung" (S. 3) in "realwissenschaftlicher" Konkurrenz zu den Bio-Wissenschaften. Die Konkurrenz bezieht sich nicht auf die Erforschung der Natur des Kindes – dieses Geschäft hat die Pädagogik ja bekanntlich der Psychologie überlassen –, sondern auf ihre Deutung! Und da ist Tenorth nun ein echter Mandarin unserer Zunft. Nicht nur räumt er ein, dass die Pädagogik gegenüber den Naturwissenschaften (und damit wohl auch gegenüber der Psychologie?) "immer eigene Auffassungen vom Entwicklungs- und Bildungspotential des Menschen" entwickelt habe; in Kreuzritterpose verkündet er darüber hinaus, dass der "Alleinvertretungsanspruch der Pädagogik" oder ihre "Autonomie in Sachen Menschenverbesserung" weder in der Vergangenheit gefährdet waren, noch es in der Gegenwart seien (3). Man mag ja mit ehrenwerten Gründen bestreiten, dass die Deutungs-, Erklärungs- und Geltungsansprüche der Bio-Wissenschaften irgendeinen Herausforderungscharakter für die theoretische und praktische Pädagogik haben; noch muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Sozialethik der "liberalen Eugenik" zukünftige genetische Dienste in einer Weise akzeptiert, die tiefe Eingriffe in das kommunikative und erzieherische Generationenverhältnis nach sich ziehen könnte; man mag auch die Augen davor verschließen, dass ernst zu nehmende Stimmen einen Kampf um genetische Verteilungsgerechtigkeit voraussagen. Aber die Pädagogik mit einem "Alleinvertretungsanspruch" aufzublasen ist nun wirklich der denkbar schlechteste Weg, sie im Ensemble der Wissenschaften, die es auch mit Kindern und ihrer Entwicklung zu tun haben, auf Augenhöhe auftreten zu lassen.
- Das geht schon ganz am Anfang los, wo Tenorth behauptet, ich wolle ein "problembeladenes Thema – die Eugenik – sowohl in seiner historischen Dimension als auch in seiner aktuellen Bedeutsamkeit neu zur Geltung, ja zur Anerkennung bringen…" (1). Und das geht so weiter und gipfelt in der ungeheuerlichen Unterstellung positiver Bemerkungen "über den für seine NS-Aktivitäten einschlägig berüchtigten – von Reyer aber unkritisiert gelassenen – Otmar von Verschuer" (2). Zur Klarstellung für das Publikum: Die von Tenorth angesprochene Stelle (eine Fußnote!) findet sich in einem Abschnitt, in der es um "Reformeugenik" und um humangenetische Beratung/Genetic Counseling geht; die heutige humangenetische Beratung ist eine Erfindung der sog. "Reformeugenik" (der Ausdruck stammt nicht von mir, sondern findet sich in der internationalen Eugenikforschung!). Drei Namen werden in der Fußnote genannt: Otmar von Verschuer, Hans Nachtsheim und Georg Gerhard Wendt. Diese Namen stehen – und das ist der Inhalt der Fußnote – für die Kontinuität der alten eugenischen/rassenhygienischen Positionen und für die exekutiv-autoritäre Handhabung der Instrumente der negativen Eugenik, von denen sich die internationalen "reformeugenischen" Strategien distanziert hatten. Im Gesamtzusammenhang ging es mir darum, die Entwicklungspfade nachzuzeichnen, die zu einer neuen Debatte über Eugenik und zur Sozialethik der sog. "liberalen Eugenik" (auch dieser Ausdruck stammt nicht von mir, sondern findet sich in der internationalen Eugenik-Debatte!) geführt haben.
- Kritikfähigkeit ist im Kern Unterscheidungsfähigkeit – Tenorth aber will nicht unterscheiden. Er verfährt nach einem Muster, das ich retrograde Dammbruch-Argumentation nenne: Danach betreiben Diejenigen, die sich um einen argumentativen Umgang mit der neuen und "liberalen Eugenik" bemühen, eine Entproblematisierung (2) des internationalen Phänomens der alten Eugenik mit ihrer Missachtung von Menschenrechten – wenn nicht Schlimmeres. Natürlich kann man so argumentieren, aber man darf nicht einfach nur behaupten, sondern muss auch belegen, und Tenorth belegt nicht, sondern behauptet nur. Das gesamte Argumentationsmuster gehörte zum Rezeptionsmilieu der 80er Jahre des 20. Jh., verlor in den 90er Jahren immer mehr an Überzeugungskraft und wird in der internationalen Eugenik-Debatte heute nicht mehr Ernst genommen. Es mag bessere Möglichkeiten geben, mit den biowissenschaftlichen und eugenischen Themen umzugehen, als meine Versuche. Tenorth aber hat noch unter Beweis zu stellen, dass er es besser kann.
- Tenorth will den gesamten Problemkomplex unter Diskussionsverbot stellen. Er will insinuieren, schon der argumentative Umgang mit den eugenischen Anwendungsperspektiven der Biowissenschaften sei mit ihrer Akzeptanz gleichzusetzen. Anders kann ich mir beim besten Willen nicht erklären, wie er bei Jürgen Habermas eine "positive Rezeption der sog. ‚liberalen Eugenik’ der anglophonen Debatte" (2) entdeckt haben will. Wenn es eine zentrale Aussage in seiner Besprechung gibt, dann ist es die: man darf sich mit den Argumenten der neueren eugenischen Sozialethik, also mit der "liberalen Eugenik", nicht auseinandersetzen, und schon gar nicht ihre Konsequenzen auf die Pädagogik auslegen; vielmehr soll man sie, so muss man Tenorth wohl verstehen, tabuisieren in der Hoffnung, dass dann solche Konsequenzen an der Pädagogik vorbeigingen. Statt sich mit den "anglophonen" Argumenten und deren Parallelisierung von erzieherischer und genetischer Investition in Nachkommen auseinander zu setzen, pflegt er die deutsche Bedenkenträger-Kultur und bedient ganz nebenbei anti-amerikanische Ressentiments. Was Karl Otto Hondrich bei einer Gegenüberstellung des amerikanischen und des deutschen Umgangs mit dem Thema beobachtet hat, lässt sich unschwer bei Tenorth wieder finden: Während in den USA eine pragmatische – keineswegs bedenkenlose – Debatte zum Umgang mit den neuen Möglichkeiten geführt werde, gehe "es im deutschen Krähwinkel erst einmal um die moralische Hackordnung der Philosophenkönige: Wer darf wie zu der Sache überhaupt etwas sagen? Während dort die Tradition des Zukunftsoptimismus ungebrochen ist, wird hier eine Debatte mit den Geistern Hitlers geführt. Während man in den Vereinigten Staaten dafür ficht, das neue Wissen für jedermann zugänglich, nutzbar und vermarktbar zu machen, soll hierzulande eine ethische Expertokratie die Hand darauf halten" (K. O. Hondrich: Der Neue Mensch. Frankfurt/M. 2001, S. 164).