Die deutschsprachige Erziehungswissenschaft hat die Arbeiten des französischen Philosophen Gilles Deleuze und seines oft unterschlagenen Ko-Autors Félix Guattari bisher kaum rezipiert. Dass dies im anglo-amerikanischen Sprachraum anders ist, belegt der Sammelband „Nomadic Education“, der einen guten Einstieg in und Überblick über den internationalen Diskurs über die pädagogischen Implikationen der Philosophien Deleuzes und Deleuze/Guattaris bietet.
Inna Semetsky, die Herausgeberin des Bandes, ist seit ihrer Dissertation, die unter dem Titel „Deleuze, Education and Becoming“ ebenfalls bei Sense (2006) vorliegt und Deleuze und Dewey einander annähert, eine der lauteren Stimmen in diesem Diskurs, den der von Diana Masny und David R. Cole herausgegebene Sammelband „Multiple Literacies Theory. A Deleuzian Perspective“ (Sense 2009), der auch einen Beitrag Semetskys enthält, weiter voran treibt. Die Verflechtungen sind eng: David Cole trägt auch zum vorliegenden Band bei (Kap 2); umgekehrt schreibt Bogue, von dem der erste Beitrag dieses Sammelbandes stammt, das Vorwort zu „Multiple Literacies Theory“.
Ron Bogue ist einer der publikationsstärksten Deleuzianer der ersten Generation. In „Nomadic Education“ schreibt er über den Lernbegriff, den Deleuze in seiner Auseinandersetzung mit Proust in den 1960er Jahren gewann – Lernen heißt Zeichen zu entziffern, die Dinge aussenden –, und den Bogue mit Deleuzes Kino-Pädagogik aus den 1980er Jahren verbindet. Etwas weniger prominent ist Claire Colebrook, die sich auf die Suche nach der Seele der Erziehung begibt und diese in der sokratischen Intensivierung des Eros findet (Kap. 3). Colebrook und Bogue lehren Literaturwissenschaft, über die die Deleuze-Rezeption in Anglo-Amerika hauptsächlich verläuft.
Der meines Erachtens interessanteste Beitrag stammt von Gary Genosko. Genosko, von dem auch die erste Einführung in die Theorie Guattaris stammt, schreibt über „Félix Guattari and Popular Pedagogy“ (Kap. 5). Genosko zeigt, dass Guattari von Fernand Oury, dem Bruder Jeans, der die anti-psychiatrische Klinik de La Borde gründetet, und Fernand Deligny, der mit jungen Autisten auf dem Land lebte und ihre Fluchtlinien kartierte, beeinflusst wurde und alle drei von Freinet. Es liegt nah, dass es die Zusammenarbeit mit Guattari war, die Deleuze pädagogisch werden ließ – und ihn nicht nur durcheinander brachte, wie er in „Dialoge“ bemerkt.
Semetsky thematisiert in ihrem Vorwort vor allem die Pädagogik des Begriffs, die Deleuze und Guattari in ihrem letzten gemeinsamen Buch „Was ist Philosophie?“ entwickeln. Sie vernachlässigt die Pädagogiken der Wahrnehmung und der minderen Wissenschaft, die zu einer Bildungstheorie verwachsen.
„Nomadic Education“ ist ein facettenreiches Buch. An mancher Stelle fehlt es an Mut. So vollzieht es den Bruch mit der Übermittlung von Wissen durch Lehrer an Schüler nicht konsequent. Deleuze hat sich in seinen Vorlesungen der Didaktik verweigert und sich ohnehin nur für einen Ort interessiert, d.i. der Ort, an dem unser Nicht-Wissen in Wissen übergeht. Diese äußerste Spitze sucht die Pädagogik zu selten auf – auch die durch Deleuze inspirierte. Sie versucht sich stattdessen an einer pragmatischen Annäherung von Deleuze und Habermas (Semetsky/Lovat, Kap. 12) und verstetigt die Theorie/Praxis-Dichotomie, die Deleuze auflösen wollte. Die Wege zu einer deleuzianischen Pädagogik sind also noch weit – und vielleicht wird diese Weite der Arbeit Deleuzes und seiner Abscheu gegen Schulen (philosophisch) sogar gerecht.
Im deutschen Sprachraum scheint der Weg noch weiter. Der Diskurs ist dem angloamerikanischen um Jahre hinterher, was kein Grund zur Betrübnis sein muss; denn bei Deleuze kann man auch lernen, dass Bildung mit Verspätung beginnt oder Zurückgeblieben-Sein; und in einem Rhizom kann das Entfernte plötzlich zum Naheliegenden werden.
Ein Ärgernis soll abschließend nicht verschwiegen werden: Der Sammelband ist aus einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Educational Philosophy and Theory“ (Vol. 36, No. 3, 2004) über „Deleuze and Education“ hervorgegangen, die Semetsky gasteditiert hat. Die Kapitel von Ron Bogue, Zelia Gregoriou (Kap. 7) und Elisabeth Adams St. Pierre (Kap. 13) sind textidentisch mit den Zeitschriftenbeiträgen, beim Kapitel von Noel Gough (6) handelt es sich offenbar um eine überarbeitete Fassung seines Beitrags. Die Übernahmen sind zwar in einer Fußnote vermerkt, aber eben auch nur in einer Fußnote. So wird erst nach dem Kauf deutlich, dass ein Drittel des langsam preiswerter werdenden Bandes schon bekannt ist.
EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)
Nomadic Education
Variations on a Theme by Deleuze and Guattari
Rotterdam: Sense 2008
(XXI + 199 S.; ISBN 978-90-8790-411-1; 49,99 EUR)
Olaf Sanders (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Olaf Sanders: Rezension von: Semetsky, Inna (Hg.): Nomadic Education, Variations on a Theme by Deleuze and Guattari. Rotterdam: Sense 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978908790411.html
Olaf Sanders: Rezension von: Semetsky, Inna (Hg.): Nomadic Education, Variations on a Theme by Deleuze and Guattari. Rotterdam: Sense 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978908790411.html