Die Frage nach pädagogischen Generationsbeziehungen ist eine sehr alte. Es bestehen unterschiedlich weitreichende Theorien und Thesen über die Generationen und ihre Verhältnisse und Beziehungen zueinander. Die vorliegende Studie, die den Abschluss des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ darstellt, nimmt pädagogische Generationsbeziehungen, wie sie sich in den Kontexten Familie und Schule zeigen, empirisch in den Blick. Die breit angelegte Studie verfolgt grundlegend drei Zielsetzungen: Erstens sollen die „weit ausgreifenden und zumeist stark spekulativen Thesen zu einer grundlegenden Transformation der Generationsbeziehungen“ (11) an empirischem Material überprüft werden. Zweitens soll mit dem Fokus auf pädagogischen Generationsbeziehungen eine Verbindung zwischen den bisher überwiegend getrennt untersuchten zentralen Bildungs- und Erziehungsfeldern Familie und Schule hergestellt werden. Schließlich verfolgt die Studie drittens ein theoretisches Ziel: „Es sollte ein weiterführender Beitrag zu einer empirisch fundierten Theorie der pädagogischen symbolischen Generationsordnung geleistet werden“ (12). Jedes einzelne dieser Ziele könnte bereits eine eigene Studie darstellen und daher lässt sich bereits mit der Einleitung die Komplexität der vorliegenden Untersuchung erahnen. Äußerst akribisch verfolgen die Autorinnen jedes der genannten Ziele mit seinen jeweils vielschichtigen Aspekten in einer qualitativen Mehrebenenanalyse.
Das erste Kapitel führt in „Theorie und Empirie zu pädagogischen Generationsbeziehungen“ ein. Es werden sehr umfassend zunächst Konzepte pädagogischer Generationsbeziehungen referiert. Anschließend gehen die Autor(inn)en auf Thesen zum Wandel dieser Beziehungen ein, bevor sie empirische Befunde und Referenzstudien vorstellen, die sich auf pädagogische Generationsbeziehungen im Verhältnis von Familie und Schule beziehen. Ziel dieses Kapitels ist es, eine Heuristik für die eigene Studie zu entwickeln. Die Autorinnen stellen vier Ebenen fest, auf denen sie Generationsrelationen untersuchen: Generationsverhältnisse, die sich in Organisationen und rechtlich konstituieren, spezifische institutionelle und milieutypische Generationsrelationen, konkrete inter- und intragenerationelle Beziehungen und die Ebene der konkreten Individuen als Generationsakteure mit deren individuellen Deutungen.
Auf diesen Ebenen soll jeweils „das Zusammenspiel zwischen Symbolischem, Imaginärem und Realem“ (49) rekonstruiert werden. Imaginäres meint die Sinnebene der Mythen, Metaphern und Narrationen zum Generationenverhältnis („Generationsrhetorik“ 405). Die Ebene des Symbolischen beschreibt die Ebene der konkreten Beziehungen, Handlungs¬verkettungen, Interaktionen und kulturellen Praktiken zwischen Älteren und Jüngeren. Die dritte Ebene des Realen schließlich umfasst soziale Strukturen höhersymbolischer Ordnung (rechtliche, organisationsförmige Regelungen). Hier werden Strukturprobleme und –Herausforderungen rekonstruiert. Dieser Heuristik folgend werden die verschiedenen qualitativen Daten analysiert.
Im zweiten Kapitel werden die Anlage der Studie und das methodische Vorgehen vorgestellt. Das Sample umfasst drei Schulen mit unterschiedlichen Profilen. Erhoben wird jeweils in der 10. Klasse. Es werden der Unterricht und Festreden zu Schuljahresbeginn aufgezeichnet (Video, Audio), thematisch fokussierte, erzählgenerierende Interviews mit Lehrer(inne)n sowie autobiographisch-narrative Interviews mit etwa 10 möglichst kontrastierenden Schüler(inne)n pro Klasse und Schule durchgeführt. Videoaufzeichnungen von Abendessensszenen und fokussierte, erzählgenerierende Elterninterviews mit möglichst beiden Elternteilen ergänzen die Datenvielfalt. Die Auswertung erfolgt sequenzanalytisch mit Hilfe der Objektiven Hermeneutik im Rahmen einer „qualitative[n] Mehrebenenanalyse“ (80): je Schule werden die Ebenenverknüpfung Eltern – Jugendliche(r) sowie Lehrer(in) – Jugendliche(r) rekonstruiert. Damit werden einerseits die pädagogischen Generationsbeziehungen in der Familie und andererseits in der Schule untersucht. Die Jugendlichen stellen das Bindeglied zwischen den beiden Institutionen dar. Ihre jeweilige Lage zwischen Familie und Schule im Hinblick auf die jeweiligen pädagogischen Generationsbeziehungen werden miteinander kontrastiert.
Gegliedert nach den drei Schulen werden im dritten Kapitel diese umfangreichen Fallrekonstruktionen dargestellt. Es werden einerseits die Passungskonstellationen Milieu und Institution und andererseits die Formen der konkreten familialen Interaktionsbeziehungen rekonstruiert. Die Analysen sind auf Grund vieler ausfĂĽhrlicher Sequenzanalysen sehr anschaulich und gut nachvollziehbar.
Im vierten Kapitel erfolgt dann eine schulübergreifende Kontrastierung. Im Anschluss an Oevermanns Konzept pädagogischer Arbeitsbündnisse findet eine Typenbildung im Hinblick auf dyadische pädagogische Arbeitsbündnisse statt. Die pädagogischen Generationsbeziehungen werden ebenfalls als Typen gefasst. Das Kapitel schließt mit einer Kontrastierung der unterschiedlichen pädagogischen Generations¬beziehungen im Verhältnis zu den Individuationspotentialen der Schüler(innen). Auch hier werden unterschiedliche Individuationstypen vorgestellt.
Das abschließende fünfte Kapitel nimmt nun eine Theoretisierung der rekonstruierten Ergebnisse für alle Ebenen der Fragestellungen vor. Mit Blick auf die familialen pädagogischen Generationsbeziehungen fragen die Autor(inn)en etwa, ob eine Revision der strukturalen Familientheorie notwendig sei. Sie stellen fest, dass Oevermanns Überlegungen zwar sehr abstrakt und daher notwendig vereinfachend seien und daher „der faktischen Varianz nicht gerecht werden“ (351). Dennoch habe sich der gewählte strukturtheoretische Ausgangspunkt für die Analyse von Eltern-Kind-Beziehungen als gewinnbringend erwiesen. Die Studie konnte Oevermanns Ansatz durch die Auffächerung von Varianten der Eltern-Kind-Dyade weiterführen. Die Autorin(inn)en erläutern mit Bezug auf Oevermanns Theorie pädagogischer Professionalität, inwiefern die Studie neue oder erweiternde Hinweise für die Lehrerprofessionalität liefert und stellen beispielsweise fest, dass das Arbeitsbündnis dann „zu einer mächtigen, pädagogisch produktiven Form“ (355) wird, wenn Schüler(innen) und Lehrende es gemeinsam tragen und wenn es mit der schulkulturellen Ordnung übereinstimmt.
Besonders interessant erscheinen mir die Ausführungen im dritten Abschnitt des Kapitels zu „Anerkennung in pädagogischen Generationsbeziehungen, die Struktur der Passung von Familie und Schule und ihre Bedeutung für die adoleszente Individuation“. Nachdem zuvor die Passungsverhältnisse von Familie und Schule mit Bezug auf Bourdieu (Habitus und Feld) untersucht wurden, folgt nun eine Betrachtung aus anerkennungstheoretischer Perspektive (emotionale, moralische und individuelle Anerkennung nach Honneth). Die Anerkennungsmodi der drei Schulen werden rekonstruiert und mit denen der Familien verglichen. Basierend auf diesen Rekonstruktionen werden „Bedingungen einer anerkennungstheoretisch fundierten Sozialisationstheorie“ (392) formuliert.
Emotionale Anerkennung findet sich sowohl in der Familie als auch in einigen Schulkulturen. Umgekehrt reichen moralische und individuelle Anerkennungsformen auch in die Familie hinein. Diese werden aus der Schule transportiert, zeigen sich jedoch auch in Haltungen und Orientierungen der Familie. Fehlt die institutionelle Anerkennung oder besteht institutionelle Degradierung, so führt dies zu einer Destabilisierung bei allen anderen Anerkennungs¬modi. Grundlegende Individuationsproblematiken zeigen sich besonders dann, wenn familiale Bildungsaspirationen nicht erfüllt werden und „die damit verbundenen familialen Muster sozialer Wertschätzung und kognitiver Achtung für das Individuum bedroht sind“ (392).
In den Daten finden sich zudem Fälle, in denen familiale Anerkennungsbeziehungen auf emotionaler Ebene brüchig oder gestört sind. Dies widerspricht der Perspektive Honneths, Familie sei ein Ort stabilisierender, intimisierter und emotionaler Anerkennungsbeziehungen. In solchen Fällen sind ein „positiver Selbstbezug und der auf sich selbst vertrauende Umgang mit Autonomie grundlegend verstellt“ (393). Diese Jugendliche geraten dann auch in der Schule in prekäre Lagen. Schule kann jedoch auch eine Kompensationsfunktion für eine in der Familie bedrohte soziale Wertschätzung übernehmen.
Die vorliegende Studie zeichnet sich durch eine komplexe Fragestellung aus, die in äußerst differenziert vorgenommenen Analysen bearbeitet wird. Die Komplexität zeigt sich unter anderem sehr deutlich in dem ausführlichen und vielschichtigen, zusammenfassenden letzten Kapitel. Es gliedert sich in fünf Abschnitte, die wiederum jeweils mehrere Unterteilungen enthalten. Die hier zusammengestellten Ergebnisse beziehen sich innerhalb der Abschnitte jeweils auf sehr spezifische Aspekte der drei Ausgangsfragestellungen der Studie. Als Abschnitte stehen sie jedoch unverbunden nebeneinander. So endet das Buch eher unvermittelt, ohne dass diese vielschichtigen Ergebnisse resümierend miteinander verbunden werden. Hier ist die Leserschaft aufgefordert, eigene Beziehungen herzustellen.
Diese Studie ist äußerst perspektivenreich, aber dennoch so gut strukturiert, dass zu jeder Zeit das gerade verfolgte Anliegen deutlich ist. Es werden weit gefächerte Ziele bearbeitet und auf diese Weise pädagogische Generationsbeziehungen sehr umfassend untersucht. Gerade in ihrer Vielschichtigkeit bildet die Untersuchung eine solide Basis für nachfolgende Analysen pädagogischer Generationsbeziehungen in den Feldern Familie und Schule.
EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)
Jugend zwischen Familie und Schule
Eine Studie zu pädagogischen Generationsbeziehungen
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(440 S.; ISBN 978-3531-1657-45; 39,90 EUR)
Ruth Michalek (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ruth Michalek: Rezension von: Baggerman, Arianne / Dekker, Rudolf: Child of the Enlightenment, Revolutionary Europe Reflected in a Boyhood Diary. Leiden, Boston: Brill 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978900417269.html
Ruth Michalek: Rezension von: Baggerman, Arianne / Dekker, Rudolf: Child of the Enlightenment, Revolutionary Europe Reflected in a Boyhood Diary. Leiden, Boston: Brill 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978900417269.html