In den Niederlanden hat die Erforschung von Egodokumenten – der Terminus geht auf den niederländischen Historiker Jacob Presser (1899-1970) zurück – eine beachtliche Tradition. Eines der neuesten Ergebnisse ist das Buch der beiden Historiker Arianne Baggermann und Rudolf Dekker von der Erasmus Universität Amsterdam. Es entstand in Rahmen des über mehrere Jahre von der niederländischen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „Controlling Time and Shaping the Self. Education, Introspection and Practices of Writing in the Netherlands“. Diesen langen Atem merkt man dem Buch an: Hier nehmen zwei Forscher den Fund eines Kinder- und Jugendtagebuchs zum Ausgangspunkt, das revolutionäre Europa an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und besonders die Batavische Republik (1795-1806/1813) in einem beeindruckenden Panorama zu entfalten.
Im Zentrum steht das von den beiden Autoren bereits 1998 herausgegebene „Dagboek (1791-1797)“ von Otto van Eck (1780-1798), mit seinen 1560 Seiten das wohl umfangreichste bislang zugängliche Kindertagebuch [1]. Dieses einzigartige Tagebuch erlaube es, so Baggerman und Dekker, das 18. Jahrhundert „durch die Augen eines Kindes zu erforschen“ (1), eine Zielsetzung, auf die abschließend noch zurückzukommen sein wird. Vorgegangen seien sie dabei so, dass sie sich in ihrem Forschen von dem bestimmen ließen, was in Otto van Ecks Gesichtskreis geriet und was ihn interessierte. Den Titel „Child of the Enlightenment“ trägt das Buch, weil die Autoren sich darin mit der, wie sie es nennen, „handgestrickten“ Aufklärung der Eltern van Ecks beschäftigen und damit, wie sie deren Ideale in ihrem Haushalt und Alltag zur Anwendung brachten. Insofern geht es ihnen nicht um deren Höhenkamm, sondern vielmehr darum, die Aufklärung „from the bottom up“ (6) in den Blick zu nehmen.
Ottos Welt wird teils aus seiner Perspektive, teils aus der seiner Eltern beschrieben. Ottos Vater Lambert van Eck (gest. 1803) kommt dabei besondere Bedeutung zu, er stellt sozusagen den zweiten Protagonisten des Buches dar. Das liegt auch daran, dass er zahlreiche Papiere hinterlassen hat: eine Familienchronik, ein album amicorum, ein Journal seiner Parisreise von 1788, viele Briefe und ein Buch mit Notaten, das sich zu einer Enzyklopädie entwickelte. Daneben haben Baggerman und Dekker mit Protokollen politischer Versammlungen, Verhandlungen gelehrter und literarischer Gesellschaften, topographischen Karten und anderem Bildmaterial, (Grund)besitzinventaren, Ratgeberliteratur unterschiedlicher Art, Enzyklopädien, Druckschriften, Periodika, Reisejournalen, Briefen, Autobiographien, Romanen, Gedichten und Kinderbüchern eine ungeheure Fülle an Quellen herangezogen, mit denen es ihnen gelingt, das Tagebuch als Idee und kulturelle Praxis in unterschiedlichsten Kontexten zu diskutieren (6).
Otto van Eck wuchs als Ältester mit zwei Schwestern und einem Bruder in einer wohlhabenden, weit verzweigten Familie der niederländischen Elite auf, in einer Regentenfamilie. Vater Lambert van Eck und Mutter Charlotte Amélie Vockestaert (1759-1824) waren keine oranientreuen Konservativen, sondern republikanische „Patrioten“ und somit Fortschritt, Wissenschaft, Gemeinwohl und Gott verpflichtet. Im Hause van Eck war man selbstverständlich aufgeklärt und, das ist wichtig, genauso selbstverständlich fromm. Als bürgerlicher Republikaner engagierte sich Lambert van Eck bis 1797 stark in der Batavischen Revolution / Franko-Batavischen Episode. In diesem Jahr wurde er im Rahmen eines Umsturzes innerhalb dieser Revolution in Haft genommen. Gleichzeitig erkrankte Otto van Eck an Tuberkulose und starb 17-jährig, woraufhin Lambert van Eck, ein gebrochener Mann, sich desillusioniert von der Politik abwendete.
Otto van Eck schrieb nicht aus eigenem Antrieb und er war auch keineswegs ein begeisterter Diarist; das unterscheidet sein Tagebuch von denen, die Siegfried Bernfeld, Charlotte Bühler und andere in den 1920er Jahren für die Jugendforschung nutzten. Das Tagebuch war vielmehr integraler Bestandteil des aufgeklärten elterlichen Erziehungsprojektes und alltagspraktisch eine der zahlreichen Pflichten des Sohnes. Erwartet wurden von ihm regelmäßige, möglichst tägliche Einschriebe und diese lasen und kommentierten, also kontrollierten die Eltern auch. Insofern schrieb Otto van Eck das Tagebuch nicht für sich, auch wenn seine Eltern ihn damit zu Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle anhalten wollten. Er schrieb es vordringlich für seine Eltern, die als Adressaten allgegenwärtig blieben. In dem Ausmaß, in dem ihm das Tagebuchschreiben geläufig wurde, nutzte er es allerdings auch zur Kommunikation mit seinen Eltern, etwa indem er Zerknirschung zu Papier brachte, wenn er sich mit seinen Schwestern gezankt oder bestimmte Pflichten und Aufgaben nicht oder zu spät erledigt hatte. Mit seiner Selbstkritik wollte er den Eltern vermutlich den Wind aus den Segeln nehmen. Der papierene Otto scheint ein einsichtigerer Sohn gewesen zu sein als der aus Fleisch und Blut, genauer: schreibend konnte er ihnen versichern, dass er ihrer paradoxen Aufforderung, freiwillig zu gehorchen, prinzipiell nachkommen wollte. Außerdem nutzte er sein Tagebuch auch dazu, sie Wünsche oder Hoffnungen, nicht selten ging es dabei um handfeste Dinge wie Tauben, wissen zu lassen.
Das Buch ist in zwölf Kapiteln angelegt. Gerahmt werden sie von einem Prolog, in dem entlang seiner Reise in das vorrevolutionäre Paris von 1788 Lambert van Eck als Repräsentant der politischen Bewegung der niederländischen Patrioten vorgestellt wird, um dann auf das Delft von 1789, dem Jahr, in dem auch das Familienbild auf dem Einband entstand, einzugehen, und von einem Epilog. Im Zentrum der Rezension stehen die ersten vier Kapitel, die erziehungshistorisch besonders aufschlussreich sind.
Das erste Kapitel („An Enlightened Education“) entfaltet den pädagogischen Kosmos des ausgehenden 18. Jahrhunderts und wie Ottos Eltern ihn für ihr Erziehungsprojekt handhabten. Am Anfang steht, wie könnte es anders sein, Rousseau mit seiner neuen Sicht auf den Zögling, dem man allerdings in seiner natürlichen und seiner negativen Erziehung keineswegs unbesehen folgte: Es hatte sich herumgesprochen, dass die Erziehung kleiner Emils nicht gut ausgegangen war. Otto wurden seine Freiheiten gelassen, aber auch Disziplin von ihm verlangt, nicht aber Unterwerfung. Er sollte freiwillig, aus Einsicht folgsam sein. Ottos Eltern orientierten sich an den Philanthropen, deren Schriften großteils ins Holländische übersetzt worden waren und die in ihrem „nüchternen Rationalismus und ihrem Christentum“ den Vorstellungen der aufgeklärten niederländischen Elite entgegenkamen (57). An diesem Kapitel besticht, wie Baggermann und Dekker aus dem Tagebuch herauslesen, wie die elterlichen Erziehungsmaximen als Verhaltensanforderungen bei Otto ankamen. Entsprechende Ermahnungen seiner Eltern hielt er gelegentlich im Wortlaut fest und ermahnte sich auch selbst. Hier spricht er folglich nicht selbst, sondern es sprechen die Eltern. Vielleicht war Otto aber auch dem Rat seiner Mutter gefolgt, den „kleinen Mann in sich“ zu Rate zu ziehen, der als gleichsam kindgerechte Ausgabe von Adam Smiths impartial spectator die elterlichen Werte repräsentierten sollte.
Das zweite Kapitel behandelt Ottos Tagebuch. Was, so die Frage, veranlasste aufgeklärte Eltern wie die van Ecks, ihre Kinder Tagebuch führen zu lassen, was erwarteten sie sich davon? Warum wollten sie so genau darüber im Bilde sein, was ihre Kinder taten und vor allem, was in ihrem Inneren vorging? Hier wird Tagebuchschreiben als kulturelle Praxis des Bürgertums im zeitgenössischen Kontext diskutiert. Die Autoren weisen zu recht darauf hin, dass „Beobachtung“ als Methode und Praktik in zeitgenössischen pädagogischen Debatten eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wurde, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen propagierten Pädagogen das Tagebuch als geeignetes Mittel zur Habitualisierung von Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. So hatte Salzmann 1785 in der Werbeschrift für sein Schnepfenthaler Philanthropin interessierte Eltern wissen lassen, dass Tagebuchschreiben etwa ab dem zehnten Lebensjahr – in diesem Alter fing auch Otto van Eck damit an – auf seinem Lehrplan stehe.
(Selbst)Beobachtung wird aber, wie die Autoren zeigen, nicht nur von Zöglingen gefordert, sondern auch von Lehrern. Erfolgreich erziehen könne nämlich nur, wer Gedanken, Gefühle, Vorlieben, Abneigungen, kurzum: den Charakter seines Zöglings, wirklich kenne. Dabei konnten Eltern, so die Autoren weiter, vielleicht auf exemplarische Tagebücher wie die von Lavater oder Franklin zurückgreifen, kaum aber auf pädagogische Anleitungen. Das mag zutreffen, was direkte pädagogische Anleitungen betrifft, nicht aber die Introspektion selbst. Als kulturelle Praxis war Introspektion in den nachreformatorischen Reformbewegungen in einem langen historischen Prozess eingeübt worden und dabei spielte das Tagebuch als pädagogisches Instrument beispielsweise in den Einrichtungen von Jesuiten und Pietisten eine wichtige Rolle. Dass diese lange religiöse Tradition des Tagebuchs vergleichsweise knapp behandelt wird (83ff), erstaunt angesichts der sonstigen Ausführlichkeit.
Der weitere Verlauf des Kapitels gibt ein beeindruckendes Beispiel dafür, was sich mit close reading aus der Quelle Kindertagebuch „herausholen“ lässt. Zum einen erweist sich das Tagebuch als steter Austragungsort unterschiedlichster Konflikte zwischen Sohn und Eltern, als battlefield, zum anderen als von ihm, wie oben erwähnt, gekonnt gehandhabtes Mittel der Kommunikation mit ihnen. Deutlich wird auch, dass der elterliche Plan, sein Bewusstsein zu schulen, den „kleinen Mann in ihm“ zu installieren, insofern erfolgreich war, als Otto van Eck den kritischen Blick seiner Eltern zunehmend zu internalisieren schien.
Im Erziehungsplan von Ottos Eltern kam dem Lesen eine wichtige Funktion zu, wie im dritten Kapitel („Vorgeschriebene Lektüre“) ausgeführt wird. Hier wird eine umfassende tour d’horizon zu Kinderliteratur und der Debatte um kindliches Lesen in der Spätaufklärung geboten. Aufgabe von Eltern war es nach Überzeugung der Aufklärungspädagogen, die Lektüre ihrer Kinder sorgfältig auszuwählen. Dabei galt es, Lesesucht, von den Pädagogen ähnlich obsessiv diskutiert wie Onanie, zu verhindern. Otto van Ecks Tagebuch bietet Einblick in die Auswahl seiner Eltern, in der sich viele in pädagogischen Abhandlungen empfohlene Kinderbücher finden: Ein Stück weit ist das Tagebuch auch ein Lese-Tagebuch. Für die Jahre 1791 und 1792 lässt sich sogar rekonstruieren, was er wann las, nämlich „am Morgen einige Seiten in einem religiösen Werk, am Nachmittag und Abend mehrere Seiten in einem Geschichtsbuch, einem Roman oder einer Erzählungssammlung sowie in Basedows Elementarwerk“ (124). Sein Leseprogramm umfasste neben Geschichte und Naturgeschichte religiöse Literatur, besonders die Bibel, wie auch fiktionale Kinderliteratur, vor allem moralische Erzählungen. Beim Vergleich der Ereignisse in diesen moralischen Erzählungen mit denen in Ottos Alltag kommen die Autoren zu der interessanten Beobachtung, dass „die fiktionale Welt draußen – die auf das wirkliche Leben vorbereiten soll – und Ottos Lebenswelt sich völlig gleichen“ (134). Vermutlich, so die Autoren weiter, hätte Otto van Eck angesichts seiner Liebe zur Natur und seiner Abneigung gegen sein Lesepensum Rousseau zugestimmt, dass Bücher das größte Unglück für Kinder seien und es mit Emil lieber bei der Lektüre von ausschließlich Robinson Crusoe bewenden lassen.
Zum Erziehungsplan gehörte auch „Der Garten als pädagogisches Projekt“ (4. Kapitel). Beide Projekte, Erziehung wie Garten, korrespondieren darin, dass die prinzipiell positiv bewertete Natur planvoll verändert wird. Erzieher als Gärtner zu sehen steht bekanntlich in einer langen Tradition, in der sich auch Lambert und Charlotte van Eck gesehen haben dürften. Schauplatz dieses Projektes war der erwähnte Landsitz De Ruit, zu dem auch ein weitläufiger Park gehörte. Diesen ursprünglich französischen Park ließ Lambert van Eck der Mode der Zeit folgend in einen englischen Landschaftsgarten umgestalten. Im Rekurs auf zeitgenössische Gartentheorien, die englische Gärten als arkadische Idyllen oder alltagspraktischer und schlichter als Orte der Erholung entwarfen, zeigen die Autoren, dass hier neue Formen ländlichen Familienlebens verwirklicht werden sollten. Mit seiner Liebe zur Natur und seinem Bewegungsdrang kam Otto van Eck der Garten entschieden mehr entgegen als das Lektüreprojekt. Den Gartenumbau verfolgte er mit wahrer Begeisterung, zumal er auch selbst Hand anlegen durfte, wie er stolz vermerkt. Dabei kam er anerkannt nützlichen Tätigkeiten nach, ohne unmittelbarer elterlicher Kontrolle ausgesetzt zu sein, ein weiterer Reiz des Gartens. Otto hatte, wie erwähnt, auch eigene Tiere, für die er selbstständig zu sorgen hatte und die er kaufen bzw. verkaufen konnte: Dazu gehörte auch ein Ziegenbock, lange Zeit sein Lieblingstier, samt Wagen, in dem er allein oder mit seinen Schwestern herumkutschierte und den er gänzlich unsentimental verkaufte, nachdem er vierzehnjährig sein eigenes Pony bekommen hatte.
Das fünfte Kapitel („Soziale Welt“), zeichnet nach, wie sich die Ausweitung seiner Welt im Tagebuch spiegelt und legt den Akzent dabei auf die Menschen, die darin vorkommen. Im Zentrum standen neben Eltern und Geschwistern die weit verzweigte Familie – im Tagebuch kommen mehr als vierzig Familienmitglieder namentlich vor, zu denen enger Kontakt gepflegt wurde mit Einladungen, Besuchen und Briefen. Weiter gehören Spielgefährten aus befreundeten Regentenfamilien, Jungen und Mädchen, zu seiner sozialen Welt wie auch die Lehrer, die ihn seit seinem elften Lebensjahr zuhause auf die Universität vorbereiteten, sowie die Geistlichen, insgesamt erwähnt er 24, mit denen er zu tun hatte. Ein interessantes Detail: Ein Pfarrer lobte ihn, wie er notierte, für sein Tagebuch, nachdem er darin gelesen hatte – es scheint also ähnlich wie Briefe nicht nur von den unmittelbaren Adressaten, den Eltern, gelesen worden zu sein. Insgesamt entfaltet dieses Kapitel die informellen Strukturen, in die Otto van Eck hineinwuchs. Nach der sozialen wird im sechsten Kapitel („Breiter werdende Horizonte“) Otto van Ecks materielle Umwelt fokussiert, vor allem die beiden Häuser der Familie in De Ruit und Den Hague, weiter das geographische Wissen, das ihm vermittelt wurde und seine Reisen, auf die ihn dieser Unterricht mit vorbereitete.
Das siebte Kapitel behandelt mit „Sich wandelnden Konzepte(n) von Zeit“ einen wichtigen Aspekt der Aufklärungsepoche. Hier wird neben der Linearisierung von Zeit das Aufkommen zweier Zeitsorten, Arbeits- und Freizeit, behandelt, die auch Ottos Erziehungsplan mit seiner Teilung in Unterricht bzw. Pflichten und Muße bestimmte. Dass auf Zeit zu achten sei, man sie nutzvoll anwenden müsse, wurde ihm beizeiten beigebracht. Dem Tagebuch kam dabei eine zentrale Bedeutung zu: hier sollte er sich Rechenschaft darüber ablegen, ob er seine Zeit sinnvoll angewandt hatte. Alltagspraktisch äußerte sich das neue Zeitkonzept darin, dass er eine eigene Taschenuhr besaß oder dass er nicht geweckt wurde, also selbst dafür verantwortlich war, rechtzeitig aufzustehen.
Im achten Kapitel („Rekonstruktion von Mensch und Gesellschaft“) werden die im engeren Sinne gesellschaftspolitischen Hoffnungen der Aufklärungsepoche in ihren utopischen, romantischen, wissenschaftsgläubigen wie in ihren hybriden, totalitären Dimensionen behandelt, um im längsten neunten Kapitel die Revolution in den Niederlanden, die Batavische Revolution, zum Gegenstand zu machen, wobei immer wieder auf Lambert van Eck (und seinen Schwager Pieter Paulus) als maßgebliche Akteure dieses Ereignisse zurückgekommen wird, gar nicht allerdings auf Otto van Eck oder sein Tagebuch. Lambert van Eck verstand sich als Republikaner und Revolutionär wie auch als frommer Christ: Aufklärung und Glauben gehörten für ihn wie die Mehrzahl der Aufgeklärten zusammen, wie im elften, der religiösen bzw. theologischen Dimension der Aufklärung gewidmeten Kapitel, ausgeführt wird (Theophilanthropisten und Physiko-Theologen).
Das letzte, 12. Kapitel („Der verwundbare Körper“) schließt sich logisch an das vorherige über Religion in der Aufklärung an, weil hier in der Analyse des Verhältnisses zu Körper und Krankheit im Kosmos des ausgehenden 18. Jahrhunderts sowie des Verhältnisses zu Sterben und Tod deutlich wird, dass Krankheit nicht länger in einem christlichen Deutungshorizont als Strafe gesehen wurde, sondern als eine Naturtatsache, die Gesetzen folgte und auf die man Einfluss nehmen konnte, wie es Otto van Ecks Eltern mit unterschiedlichsten medizinischen Therapien für ihren kränklichen Sohn taten. Was trotzdem blieb, war die ubiquitäre Bedrohung durch Krankheiten und die Allgegenwart des Todes: Otto hatte wie fast alle Kinder seiner Zeit Geschwister, auch nahe Verwandte sterben sehen. Allerdings scheint es den Menschen, genauer wohl: den aufgeklärten unter ihnen, immer schwerer gefallen zu sein, den Tod als gottgesandtes Schicksal hinzunehmen, wie die neue Sentimentalisierung des Todes zeigt, die wiederum mit der allgemeinen Emotionalisierung von Familienbeziehungen zusammenhängt. Die Umstände, unter denen Otto van Eck mit 17 Jahren starb und dass sein Tod für die Eltern, vor allem den Vater, der zu dieser Zeit in Haft war, einen nicht zu verwindenden Schicksalsschlag bedeutete, wird im Epilog behandelt. Otto van Eck selbst scheint sich in sein Schicksal gefügt zu haben, was wohl auch daran lag, dass sich „das Kind der Aufklärung“ eines Lebens nach dem Tod gewiss war.
Angenehm fällt bei der Lektüre des durch und durch gelehrten Werkes auf, dass nicht fortwährend keywords bemüht werden. Es lässt sich auch so merken, dass Arianne Baggermann und Rudolf Dekker mit aktuellen historiographischen Debatten vertraut sind: „Child of the Enlightenment“ lässt sich über viele Kapitel auch als eine historische Anthropologie der Kindheit lesen, weil hier der Tagebuchschreiber als historischer Akteur in seinem Handeln und in seinen Sinngebungen sichtbar gemacht wird, auch wenn viel davon von den Eltern souffliert war. Dass die Eltern und vor allem der zweite Protagonist Lambert van Eck in ihrem Erziehungsplan, ja im gesamten Zuschnitt ihres Lebens als „Eltern der Aufklärung“ gezeigt werden, markiert die ideen- und kulturgeschichtliche Ausrichtung. Überhaupt wird hier überzeugend vorgeführt, was Kontextualisierung heißt. Das Buch ist elegant geschrieben und last bat not least mit seinen vielen Abbildungen aus zeitgenössischen Kinder- und anderen Büchern auch ein Bilder-Buch über aufgeklärte Kindheit.
Aber das Buch ist einfach zu lang. Meines Erachtens liegt das daran, dass nicht nur, wie im Titel avisiert, eine aufgeklärte Kindheit behandelt wird, sondern als zweites großes Thema die Batavische Republik, der etwa ein Siebtel des Textes gilt. Hier gerät das boyhood diary ganz aus dem Blickfeld, muss es wohl auch, weil die Republik im Tagebuch nicht vorkommt und mehr noch, weil sich politische Geschichte nicht im Rekurs auf ein Egodokument schreiben lässt. Um abschließend noch einmal auf den eingangs erwähnten Anspruch von Arianne Baggerman und Rudolf Dekker zurückzukommen, die Welt um 1800 durch die Augen eines Kindes zu erforschen: auch wenn sich so agency von Kindern ins Auge nehmen lassen mag, entgeht dieser Anspruch meines Erachtens wie alle Forschung, die für sich die Perspektive der Kinder reklamiert, nicht einer gewissen Naivität – als böte ein Tagebuch (oder heute ein Interview) einen im doppelten Sinne unverstellten Zugang zu Kindern und ihren Weltsichten. Otto van Eck hatte aber ein auch strategisches Verhältnis zu seinem Tagebuch und Tagebücher stellen Konstruktionen, nicht Abbilder von Wirklichkeit dar. Dies Kind sah, „konstruierte“ sich gezwungenermaßen mit den Augen seiner Eltern, dazu war das Tagebuch schließlich vorgesehen. Es sind also mindestens vier bzw. sechs Augen im Spiel, von deren Existenz Otto van Eck wusste.
Was die Autoren ĂĽberzeugend herausarbeiten, ist das Hin und Her, in dem Otto van Eck die Imperative seiner Eltern oder, um in Bild zu bleiben, die Sicht seiner Eltern auf sich inkorporierte. Insgesamt ist das Buch ein Opus Magnum geworden und es bleibt zu wĂĽnschen, dass es Nachahmung findet.
[1] Otto van Eck: Dagboek (1791-1797), hrsg. von Arianne Baggerman und Rudolf Dekker. Hilversum: Verloren 1998.
EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)
Child of the Enlightenment
Revolutionary Europe Reflected in a Boyhood Diary
(Translated by Diane Webb)
(Translated by Diane Webb)
Leiden, Boston: Brill 2009
(556 S.; ISBN 978-9-0041-7269-2; 115,34 EUR)
Pia Schmid (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Pia Schmid: Rezension von: Baggerman, Arianne / Dekker, Rudolf: Child of the Enlightenment, Revolutionary Europe Reflected in a Boyhood Diary (Translated by Diane Webb). Leiden, Boston: Brill 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978900417269-1.html
Pia Schmid: Rezension von: Baggerman, Arianne / Dekker, Rudolf: Child of the Enlightenment, Revolutionary Europe Reflected in a Boyhood Diary (Translated by Diane Webb). Leiden, Boston: Brill 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978900417269-1.html