EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)

Marie Hoppe
Subjektwerdung unter Bedingungen von outsiderness
Subjektivierungstheoretische Lesarten kurdischer Schulbildungsbiographien in der TĂŒrkei
Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press 2023
(429 S.; ISBN 978-3-96665-054-0; 100,00 EUR)
Subjektwerdung unter Bedingungen von outsiderness Menschen und Gruppen, die sich als kurdisch verstehen, waren und sind in herrschenden Konstruktionen von der „tĂŒrkischen Nation“ kaum vorgesehen. Zwar sind sie seit der StaatsgrĂŒndung der TĂŒrkei unter Mustafa Kemal (AtatĂŒrk) im Jahr 1923 zumeist qua Staatsangehörigkeit formal dem tĂŒrkischen Staat zugehörig; sie wurden in der Geschichte der TĂŒrkei jedoch kontinuierlich als „distinkte Gruppe verleugnet, assimiliert, inferiorisiert und kriminalisiert“ (66). Bei der Hervorbringung und Stabilisierung der tĂŒrkischen Nation als eine ethnisch-kulturell-religiös homogene Gemeinschaft spielt (Schul-)Bildung eine zentrale Rolle. Die Schule fungiert (auch) in der TĂŒrkei als Instanz, die ein geteiltes Wissen ĂŒber eine nationalstaatlich verfasste Wirklichkeit vermittelt und Heranwachsenden spezifische Identifikationen nahelegt, die mit institutionellen Ein- und AusschlĂŒssen verbunden sind.

Wie sich kurdisch (selbst-)positionierte Personen in diesem System bewegen und wie das Erlebte am Ort der tĂŒrkisch-nationalen Schule fortwirkt, sich angeeignet und umgedeutet wird, ist – so liegt auf der Hand – alles andere als eindimensional und vorhersehbar, wurde bisher jedoch kaum systematisch untersucht. An diesem Desiderat setzt die Studie von Marie Hoppe an. In ihrem Dissertationsprojekt analysiert sie mittels biographisch-narrativer Interviews mit weiblich gelesenen, kurdisch positionierten bzw. sich positionierenden Personen im Alter von 18 bis 24 Jahren retrospektiv, „wie diese im Sprechen ĂŒber die eigene Schulbiographie In- und Exklusion in das national gefasste ‚Wir‘ verhandeln und wie sie sich ĂŒber dieses Sprechen als Subjekte konstituieren“ (14).

Marie Hoppe verfolgt dabei ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Zum einem geht es ihr darum, am empirischen Material unterschiedliche Formen subjektiver Verhandlung von „outsiderness“ aus der Perspektive jener nachzuvollziehen, die durch machtvolle Zugehörigkeitsordnungen in der TĂŒrkei marginalisiert werden. Dieses Interesse fĂŒhrt die Autorin auf eigene (Studien-)Aufenthalte, GesprĂ€che sowie Beobachtungen politischer Ereignisse vor Ort zurĂŒck, die den Diskurs um kurdische Positionierungen in der TĂŒrkei in den letzten Jahren stark bewegt haben (19). Zum anderen wird ein „allgemeines, auf die Ebene des Zusammenhangs von Subjekt und gesellschaftlichen Ordnungen (sowie ihrer Vermitteltheit durch die Institution Schule) abzielendes Erkenntnisinteresse“ verfolgt (17).

Diese Interessen verknĂŒpft die Autorin in einem aufwendig konzipierten theoretischen und empirischen Design. HierfĂŒr skizziert sie im ersten Teil ihrer Studie zunĂ€chst (Dis-)KontinuitĂ€ten des Nationen-Diskurses seit der StaatsgrĂŒndung. Entlang zahlreicher Studien, insbesondere von in der TĂŒrkei ansĂ€ssigen Wissenschaftler:innen, zeichnet sie das dialektische VerhĂ€ltnis der Konstitution von tĂŒrkischer Nation und kurdischen Anderen nach. Hoppe zeigt auf, wie „kurdische Andere“ u.a. entlang solcher orientalistischer Logiken hervorgebracht wurden, mittels derer die TĂŒrkei selbst – als Gegenfolie zum „Okzident“ – seitens des Westens belegt wurde: Im Versuch, sich aus diesem orientalisierten VerhĂ€ltnis zu lösen, galt es u.a. ĂŒber die Abgrenzung vom „Osten“ der TĂŒrkei und den hier lebenden, als kurdisch verstandenen Personen, der zugeschriebenen RĂŒckstĂ€ndigkeit eine Absage zu erteilen und so ein modernes TĂŒrkisch-Sein nach westlichem Vorbild zu konstruieren (46). BezĂŒglich solcher und weiterer Konstruktionen der tĂŒrkischen Nation arbeitet Hoppe die rassistischen Logiken heraus, die dem Narrativ des tĂŒrkischen Nationalstaats immanent sind.

Der so rekonstruierte Diskurs leitet unterschiedliche Praktiken des Othering von nichttĂŒrkisch positionierten Menschen und Gruppen in nationalstaatlichen Institutionen wie der Schule an und prĂ€figuriert hier (Un-)Möglichkeiten der Teilhabe ebenso wie Erfahrungen des (partiellen) Ausschlusses. Dies zeigt Hoppe im zweiten Teil ihrer Arbeit auf, in dem sie das VerhĂ€ltnis von „Schule – Nation – Subjekt“ im Kontext der TĂŒrkei beleuchtet. Hier stellt sie die Verwobenheit von Schulorganisation und Nationalstaat dar, die u.a. in einer „monolingualen Ausrichtung von Schule“, „nationalistischen Routinen am Ort Schule“ sowie „bildungspolitischen Maßnahmen“ (104) zum Ausdruck kommen. Diese trugen dazu bei, dass „nicht-tĂŒrkische Subjektpositionen“ im Schulsystem der TĂŒrkei auch heute noch „systematisch verkannt“ (113) werden.

Die umfangreichen AusfĂŒhrungen des Forschungsstandes verbindet die Autorin in diesen ersten zwei Kapiteln mit der Ausarbeitung ihrer analyseleitenden theoretischen Konzepte. Zum einen entwickelt sie im Anschluss an Özlem Göner ein relationales VerstĂ€ndnis von „outsiderness“, mit dem sie „das symbolische VerhĂ€ltnis zwischen dem nationalen Diskurs und natio-ethno-kulturell codierten Anderen“ (90) theoretisch zu fassen sucht. Zum anderen erarbeitet sie nach Judith Butler ein VerstĂ€ndnis von Subjektivierungsprozessen, „das es erlaubt, Subjektwerden in einem Doppel von Unterwerfung und Ermöglichung zu analysieren“, d.h. das von der Möglichkeit einer subjektiven Handlungsmacht ausgeht, die jedoch eingebunden bleibt in „den Bereich der sozialen Normen, die das Subjekt möglich machen“ (145f.). Dieses Konzept sensibilisiert sie ĂŒber die LektĂŒre rassismuskritischer Arbeiten auf „die Verwobenheit hegemonialer und rassistisch-markierter Subjektivierungen“ (146).

Vor diesem Hintergrund werden im dritten Kapitel die der Studie zu Grunde liegenden metho(dolog)ischen Überlegungen vorgestellt. Neben der kritischen Reflexion der Eingebundenheit ihrer Forschung in globale Macht- und HerrschaftsverhĂ€ltnisse und sich daraus ergebender Gefahren, im Analyseprozess an orientalistische Wissensproduktionen anzuschließen, erweisen sich Hoppes Überlegungen zu einer „subjektivierungstheoretisch informierten Interviewforschung“ sowie „poststrukturalistischen Lesart des biographischen Forschungsansatzes“ (25) als ebenso interessant wie innovativ.

Im vierten Teil der Arbeit stellt die Autorin die Ergebnisse ihrer Analysen entlang detaillierter Re-Konstruktionen zweier FĂ€lle dar. PrĂ€zise zeichnet sie unterschiedliche Erfahrungen ethnisch-kultureller Fremdzuschreibungen in der Schule nach, die sich je nach Kontext zwischen der De-Thematisierung und Diskreditierung kurdischer IdentitĂ€ten bewegen. Zugleich zeigt Hoppe unterschiedliche Weisen auf, in denen die Frauen* auf das ihnen in Schule und Gesellschaft zugeschriebene Kurdischsein Bezug nehmen(, „etwa als politische IdentitĂ€t, als biographischer Kampf, als ein ursprĂŒngliches Verbundensein, sogar als Distinktionsmerkmal, aber auch als Zumutung und Makel“, (401)) und arbeitet hiermit verwobene Modi der Thematisierung und Verhandlung von „outsiderness“ heraus. Hoppe kommt u.a. zu dem Schluss, dass RĂ€ume eines kritischen Hinterfragens dominanter Zugehörigkeitsordnungen in der Schule der TĂŒrkei „sehr eng gefasst sind“ und meist von „Ressourcen aus außerschulischen RĂ€umen“ abhĂ€ngen sowie davon, „von Personen in diskursmĂ€chtigeren Positionen (z.B. LehrkrĂ€fte oder auch zugehörige Freund*innen) eröffnet“ zu werden (402).

Als zentral wird auch das Motiv der Scham der interviewten Frauen* beschrieben, als Andere in der Schule sichtbar zu werden, sowie hierauf bezogene Versuche, ein solches Identifiziertwerden zu erschweren, etwa durch „habituelle Angleichung an ein mehrheitstĂŒrkisches Idealbild“ (372). Diese erzĂ€hlten Praktiken analysiert Hoppe nicht als einfaches Unter- bzw. Einordnen in dominante Zugehörigkeitsordnungen, sondern als Ausdruck der HandlungsfĂ€higkeit der Akteur:innen in Form eines BemĂŒhens, „sich aus verletzenden (Anrufungs-)Strukturen ein StĂŒck herauszulösen und die SphĂ€re sozialer Lesbarkeit fĂŒr sich zu erweitern“ (387). Damit schlĂ€gt die Autorin in kritischer Auseinandersetzung mit Butlers diffusem VerstĂ€ndnis der Resignifikation (Kapitel 5) einen „weiten Begriff resignifizierender HandlungsfĂ€higkeit“ vor, der „nicht notwendigerweise in einer Intervention, Transformation oder progressiven VerĂ€nderung besteht, sondern [...] auch darauf ausgerichtet sein kann, KontinuitĂ€t, Stillstand und StabilitĂ€t zu fördern“ (389). In diesem Zusammenhang wird auch Butlers Begriff der SouverĂ€nitĂ€t kritisch diskutiert.

Mit dieser Ausdifferenzierung eines VerstĂ€ndnisses von subjektiver Handlungsmacht liefert Marie Hoppes Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung zu Subjektivierung unter Bedingungen gesellschaftlicher DifferenzverhĂ€ltnisse. DemgegenĂŒber bleibt eine kritische Befragung des Begriffs der „outsiderness“ am Ende der Studie aus. So legt dieser eine recht einseitige Positionierung der Frauen* in einem unbestimmten Außen nahe, und ĂŒberzeugt nur bedingt darin, das dialektische VerhĂ€ltnis von Innen/Außen bzw. PhĂ€nomene des In-Between sowie erzĂ€hlte Praktiken des ausschließenden Einschlusses zu fassen, die in den Analysen Hoppes eine wesentliche Rolle spielen. Zudem eröffnen sich mit Blick auf das Interviewmaterial, so merkt auch die Autorin an, Fragen nach der IntersektionalitĂ€t von Erfahrungen sog. outsiderness sowie von Subjektwerdungsprozessen, die sich insbesondere im Zusammenspiel von „Kurdischsein“, „Religion“, „Klasse“ und „Geschlecht“ artikulieren.

Insgesamt entwickelt Marie Hoppe mit ihrer Studie eine transnationale Perspektive, mit der es ihr nicht nur gelingt, unterschiedliche Facetten von Subjektwerden im nationalstaatlichen GefĂŒge der TĂŒrkei detailliert nachzuzeichnen. Indem die Studie zahlreiche Vergleichsperspektiven eröffnet und Verwobenheiten mit Praktiken und Erfahrungen des institutionellen Ausschlusses in „westlichen Gesellschaften“ aufzeigt, entrĂŒckt die Studie das Forschungsfeld der tĂŒrkisch-nationalen Schule aus einem „nahöstlichen Anderswo“. Somit generieren Hoppes Analysen ein Wissen, „das zwar lokal geankert, aber global bedeutsam“ (20) ist und dadurch vielfĂ€ltige Forschungsdiskurse – ebenso wie Studierende der Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit – inspirieren kann.
Ellen Kollender (LĂŒneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ellen Kollender: Rezension von: Hoppe, Marie: Subjektwerdung unter Bedingungen von ''outsiderness'', Subjektivierungstheoretische Lesarten kurdischer Schulbildungsbiographien in der TĂŒrkei. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978396665054.html