Menschen und Gruppen, die sich als kurdisch verstehen, waren und sind in herrschenden Konstruktionen von der âtĂŒrkischen Nationâ kaum vorgesehen. Zwar sind sie seit der StaatsgrĂŒndung der TĂŒrkei unter Mustafa Kemal (AtatĂŒrk) im Jahr 1923 zumeist qua Staatsangehörigkeit formal dem tĂŒrkischen Staat zugehörig; sie wurden in der Geschichte der TĂŒrkei jedoch kontinuierlich als âdistinkte Gruppe verleugnet, assimiliert, inferiorisiert und kriminalisiertâ (66). Bei der Hervorbringung und Stabilisierung der tĂŒrkischen Nation als eine ethnisch-kulturell-religiös homogene Gemeinschaft spielt (Schul-)Bildung eine zentrale Rolle. Die Schule fungiert (auch) in der TĂŒrkei als Instanz, die ein geteiltes Wissen ĂŒber eine nationalstaatlich verfasste Wirklichkeit vermittelt und Heranwachsenden spezifische Identifikationen nahelegt, die mit institutionellen Ein- und AusschlĂŒssen verbunden sind.
Wie sich kurdisch (selbst-)positionierte Personen in diesem System bewegen und wie das Erlebte am Ort der tĂŒrkisch-nationalen Schule fortwirkt, sich angeeignet und umgedeutet wird, ist â so liegt auf der Hand â alles andere als eindimensional und vorhersehbar, wurde bisher jedoch kaum systematisch untersucht. An diesem Desiderat setzt die Studie von Marie Hoppe an. In ihrem Dissertationsprojekt analysiert sie mittels biographisch-narrativer Interviews mit weiblich gelesenen, kurdisch positionierten bzw. sich positionierenden Personen im Alter von 18 bis 24 Jahren retrospektiv, âwie diese im Sprechen ĂŒber die eigene Schulbiographie In- und Exklusion in das national gefasste âWirâ verhandeln und wie sie sich ĂŒber dieses Sprechen als Subjekte konstituierenâ (14).
Marie Hoppe verfolgt dabei ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Zum einem geht es ihr darum, am empirischen Material unterschiedliche Formen subjektiver Verhandlung von âoutsidernessâ aus der Perspektive jener nachzuvollziehen, die durch machtvolle Zugehörigkeitsordnungen in der TĂŒrkei marginalisiert werden. Dieses Interesse fĂŒhrt die Autorin auf eigene (Studien-)Aufenthalte, GesprĂ€che sowie Beobachtungen politischer Ereignisse vor Ort zurĂŒck, die den Diskurs um kurdische Positionierungen in der TĂŒrkei in den letzten Jahren stark bewegt haben (19). Zum anderen wird ein âallgemeines, auf die Ebene des Zusammenhangs von Subjekt und gesellschaftlichen Ordnungen (sowie ihrer Vermitteltheit durch die Institution Schule) abzielendes Erkenntnisinteresseâ verfolgt (17).
Diese Interessen verknĂŒpft die Autorin in einem aufwendig konzipierten theoretischen und empirischen Design. HierfĂŒr skizziert sie im ersten Teil ihrer Studie zunĂ€chst (Dis-)KontinuitĂ€ten des Nationen-Diskurses seit der StaatsgrĂŒndung. Entlang zahlreicher Studien, insbesondere von in der TĂŒrkei ansĂ€ssigen Wissenschaftler:innen, zeichnet sie das dialektische VerhĂ€ltnis der Konstitution von tĂŒrkischer Nation und kurdischen Anderen nach. Hoppe zeigt auf, wie âkurdische Andereâ u.a. entlang solcher orientalistischer Logiken hervorgebracht wurden, mittels derer die TĂŒrkei selbst â als Gegenfolie zum âOkzidentâ â seitens des Westens belegt wurde: Im Versuch, sich aus diesem orientalisierten VerhĂ€ltnis zu lösen, galt es u.a. ĂŒber die Abgrenzung vom âOstenâ der TĂŒrkei und den hier lebenden, als kurdisch verstandenen Personen, der zugeschriebenen RĂŒckstĂ€ndigkeit eine Absage zu erteilen und so ein modernes TĂŒrkisch-Sein nach westlichem Vorbild zu konstruieren (46). BezĂŒglich solcher und weiterer Konstruktionen der tĂŒrkischen Nation arbeitet Hoppe die rassistischen Logiken heraus, die dem Narrativ des tĂŒrkischen Nationalstaats immanent sind.
Der so rekonstruierte Diskurs leitet unterschiedliche Praktiken des Othering von nichttĂŒrkisch positionierten Menschen und Gruppen in nationalstaatlichen Institutionen wie der Schule an und prĂ€figuriert hier (Un-)Möglichkeiten der Teilhabe ebenso wie Erfahrungen des (partiellen) Ausschlusses. Dies zeigt Hoppe im zweiten Teil ihrer Arbeit auf, in dem sie das VerhĂ€ltnis von âSchule â Nation â Subjektâ im Kontext der TĂŒrkei beleuchtet. Hier stellt sie die Verwobenheit von Schulorganisation und Nationalstaat dar, die u.a. in einer âmonolingualen Ausrichtung von Schuleâ, ânationalistischen Routinen am Ort Schuleâ sowie âbildungspolitischen MaĂnahmenâ (104) zum Ausdruck kommen. Diese trugen dazu bei, dass ânicht-tĂŒrkische Subjektpositionenâ im Schulsystem der TĂŒrkei auch heute noch âsystematisch verkanntâ (113) werden.
Die umfangreichen AusfĂŒhrungen des Forschungsstandes verbindet die Autorin in diesen ersten zwei Kapiteln mit der Ausarbeitung ihrer analyseleitenden theoretischen Konzepte. Zum einen entwickelt sie im Anschluss an Ăzlem Göner ein relationales VerstĂ€ndnis von âoutsidernessâ, mit dem sie âdas symbolische VerhĂ€ltnis zwischen dem nationalen Diskurs und natio-ethno-kulturell codierten Anderenâ (90) theoretisch zu fassen sucht. Zum anderen erarbeitet sie nach Judith Butler ein VerstĂ€ndnis von Subjektivierungsprozessen, âdas es erlaubt, Subjektwerden in einem Doppel von Unterwerfung und Ermöglichung zu analysierenâ, d.h. das von der Möglichkeit einer subjektiven Handlungsmacht ausgeht, die jedoch eingebunden bleibt in âden Bereich der sozialen Normen, die das Subjekt möglich machenâ (145f.). Dieses Konzept sensibilisiert sie ĂŒber die LektĂŒre rassismuskritischer Arbeiten auf âdie Verwobenheit hegemonialer und rassistisch-markierter Subjektivierungenâ (146).
Vor diesem Hintergrund werden im dritten Kapitel die der Studie zu Grunde liegenden metho(dolog)ischen Ăberlegungen vorgestellt. Neben der kritischen Reflexion der Eingebundenheit ihrer Forschung in globale Macht- und HerrschaftsverhĂ€ltnisse und sich daraus ergebender Gefahren, im Analyseprozess an orientalistische Wissensproduktionen anzuschlieĂen, erweisen sich Hoppes Ăberlegungen zu einer âsubjektivierungstheoretisch informierten Interviewforschungâ sowie âpoststrukturalistischen Lesart des biographischen Forschungsansatzesâ (25) als ebenso interessant wie innovativ.
Im vierten Teil der Arbeit stellt die Autorin die Ergebnisse ihrer Analysen entlang detaillierter Re-Konstruktionen zweier FĂ€lle dar. PrĂ€zise zeichnet sie unterschiedliche Erfahrungen ethnisch-kultureller Fremdzuschreibungen in der Schule nach, die sich je nach Kontext zwischen der De-Thematisierung und Diskreditierung kurdischer IdentitĂ€ten bewegen. Zugleich zeigt Hoppe unterschiedliche Weisen auf, in denen die Frauen* auf das ihnen in Schule und Gesellschaft zugeschriebene Kurdischsein Bezug nehmen(, âetwa als politische IdentitĂ€t, als biographischer Kampf, als ein ursprĂŒngliches Verbundensein, sogar als Distinktionsmerkmal, aber auch als Zumutung und Makelâ, (401)) und arbeitet hiermit verwobene Modi der Thematisierung und Verhandlung von âoutsidernessâ heraus. Hoppe kommt u.a. zu dem Schluss, dass RĂ€ume eines kritischen Hinterfragens dominanter Zugehörigkeitsordnungen in der Schule der TĂŒrkei âsehr eng gefasst sindâ und meist von âRessourcen aus auĂerschulischen RĂ€umenâ abhĂ€ngen sowie davon, âvon Personen in diskursmĂ€chtigeren Positionen (z.B. LehrkrĂ€fte oder auch zugehörige Freund*innen) eröffnetâ zu werden (402).
Als zentral wird auch das Motiv der Scham der interviewten Frauen* beschrieben, als Andere in der Schule sichtbar zu werden, sowie hierauf bezogene Versuche, ein solches Identifiziertwerden zu erschweren, etwa durch âhabituelle Angleichung an ein mehrheitstĂŒrkisches Idealbildâ (372). Diese erzĂ€hlten Praktiken analysiert Hoppe nicht als einfaches Unter- bzw. Einordnen in dominante Zugehörigkeitsordnungen, sondern als Ausdruck der HandlungsfĂ€higkeit der Akteur:innen in Form eines BemĂŒhens, âsich aus verletzenden (Anrufungs-)Strukturen ein StĂŒck herauszulösen und die SphĂ€re sozialer Lesbarkeit fĂŒr sich zu erweiternâ (387). Damit schlĂ€gt die Autorin in kritischer Auseinandersetzung mit Butlers diffusem VerstĂ€ndnis der Resignifikation (Kapitel 5) einen âweiten Begriff resignifizierender HandlungsfĂ€higkeitâ vor, der ânicht notwendigerweise in einer Intervention, Transformation oder progressiven VerĂ€nderung besteht, sondern [...] auch darauf ausgerichtet sein kann, KontinuitĂ€t, Stillstand und StabilitĂ€t zu fördernâ (389). In diesem Zusammenhang wird auch Butlers Begriff der SouverĂ€nitĂ€t kritisch diskutiert.
Mit dieser Ausdifferenzierung eines VerstĂ€ndnisses von subjektiver Handlungsmacht liefert Marie Hoppes Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung zu Subjektivierung unter Bedingungen gesellschaftlicher DifferenzverhĂ€ltnisse. DemgegenĂŒber bleibt eine kritische Befragung des Begriffs der âoutsidernessâ am Ende der Studie aus. So legt dieser eine recht einseitige Positionierung der Frauen* in einem unbestimmten AuĂen nahe, und ĂŒberzeugt nur bedingt darin, das dialektische VerhĂ€ltnis von Innen/AuĂen bzw. PhĂ€nomene des In-Between sowie erzĂ€hlte Praktiken des ausschlieĂenden Einschlusses zu fassen, die in den Analysen Hoppes eine wesentliche Rolle spielen. Zudem eröffnen sich mit Blick auf das Interviewmaterial, so merkt auch die Autorin an, Fragen nach der IntersektionalitĂ€t von Erfahrungen sog. outsiderness sowie von Subjektwerdungsprozessen, die sich insbesondere im Zusammenspiel von âKurdischseinâ, âReligionâ, âKlasseâ und âGeschlechtâ artikulieren.
Insgesamt entwickelt Marie Hoppe mit ihrer Studie eine transnationale Perspektive, mit der es ihr nicht nur gelingt, unterschiedliche Facetten von Subjektwerden im nationalstaatlichen GefĂŒge der TĂŒrkei detailliert nachzuzeichnen. Indem die Studie zahlreiche Vergleichsperspektiven eröffnet und Verwobenheiten mit Praktiken und Erfahrungen des institutionellen Ausschlusses in âwestlichen Gesellschaftenâ aufzeigt, entrĂŒckt die Studie das Forschungsfeld der tĂŒrkisch-nationalen Schule aus einem ânahöstlichen Anderswoâ. Somit generieren Hoppes Analysen ein Wissen, âdas zwar lokal geankert, aber global bedeutsamâ (20) ist und dadurch vielfĂ€ltige Forschungsdiskurse â ebenso wie Studierende der Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit â inspirieren kann.
EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)
Subjektwerdung unter Bedingungen von outsiderness
Subjektivierungstheoretische Lesarten kurdischer Schulbildungsbiographien in der TĂŒrkei
Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press 2023
(429 S.; ISBN 978-3-96665-054-0; 100,00 EUR)
Ellen Kollender (LĂŒneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ellen Kollender: Rezension von: Hoppe, Marie: Subjektwerdung unter Bedingungen von ''outsiderness'', Subjektivierungstheoretische Lesarten kurdischer Schulbildungsbiographien in der TĂŒrkei. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978396665054.html
Ellen Kollender: Rezension von: Hoppe, Marie: Subjektwerdung unter Bedingungen von ''outsiderness'', Subjektivierungstheoretische Lesarten kurdischer Schulbildungsbiographien in der TĂŒrkei. Opladen, Berlin & Toronto: Budrich Academic Press 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978396665054.html