Dass Rassismus gesellschaftsprägend ist und Menschen in Deutschland durch rassistische Diskriminierung benachteiligt werden, wird gesamtgesellschaftlich insbesondere seit der Ermordung George Floyds im Mai 2020 sowie den Black Lives Matter-Protesten stärker diskutiert. Dabei wird auch Bezug auf die Polizei genommen, welche „als zentrales Machtorgan der Exekutive eine besondere Institution mit besonderen Aufgaben und einer besonderen Verantwortung ist“ (Atali-Timmer, 2021, 19). Diese machtvolle Rolle der Polizei unterstreicht die Relevanz diskriminierungssensibler Lernräume innerhalb ihrer Strukturen. Fatoş Atali-Timmer betrachtet in ihrer Studie „Interkulturelle-Kompetenz-Trainings“ bei der Polizei, denen in der politischen Diskussion eine rassismussensibilisierende Funktion zugeschrieben wird (23 f). Anhand von Beobachtungen während der Trainings und vier problemzentrierten Interviews mit an diesen Trainings teilnehmenden Polizist*innen untersucht die Forscherin mit Hilfe der Grounded Theory, wie sich dominante, „rassismuskritisch relevante Wissensordnungen“ (27) im Rahmen von Trainings realisieren.
Einleitend legt Fatoş Atali-Timmer den Forschungsfokus und den Aufbau der Arbeit dar. Sie stellt Missstände bei den Ermittlungen der NSU-Mordserie hinsichtlich eines fehlenden Bewusstseins fĂĽr (institutionellen) Rassismus heraus, welche u.a. dazu fĂĽhrten, dass der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages 2014 dafĂĽr plädierte, die „interkulturelle Kompetenz bei Polizist*innen [zu] verbessern“ (23). AnschlieĂźend geht Fatoş Atali-Timmer im ersten Kapitel auf den Forschungskontext ein, der die Institution der Polizei und Konzepte der Interkulturalität umfasst. Es erfolgt ein Ăśberblick zur Organisation und Historie der Polizei (bspw. mit Blick auf die Praxis des Racial Profilings), der ein Verständnis fĂĽr die Polizei als Forschungsfeld ermöglicht. Die Perspektive der Interkulturalität verortet Fatoş Atali-Timmer „als Forschungshintergrund“ (50). Dabei ordnet sie sowohl den Begriff der „Kultur“ als auch Konzeptionen Interkultureller-Kompetenz-Trainings kritisch ein. Sie nennt insbesondere die Gefahr der Kulturalisierung und Stereotypisierung.
Im zweiten Kapitel werden die der Arbeit zugrunde liegenden theoretischen Zugänge dargelegt. Fatoş Atali-Timmer orientiert sich an machtkritischen Perspektiven auf Sprache und Wissen innerhalb diskursiver Ordnungen u.a. mit Blick auf Butler, Foucault und Bourdieu. Auf dieser Grundlage erörtert sie mit vielfältigen TheoriebezĂĽgen ausfĂĽhrlich die Rassismusrelevanz von Sprache und Wissen und verdichtet dies im Diskursbegriff, wodurch der strukturelle Charakter von Rassismen unterstrichen wird.
Sowohl der Forschungsstand, der Forschungsprozess, das methodische Vorgehen als auch die Analyse der Beobachtungen im Rahmen der Feldforschung werden transparent innerhalb des dritten Kapitels dargelegt. Besonders der erste Abschnitt betont die Bedeutung der Beforschung polizeilicher Strukturen aus rassismuskritischer Perspektive durch der Polizei externe Personen. Dies ermögliche Einblicke in rassismusrelevantes, polizeiliches Agieren. Die weiteren Abschnitte verdeutlichen, wie Forschungsfeld, Erhebung und Auswertung zu einander in Beziehung stehen und sich beeinflussen. Fatoş Atali-Timmer legt dazu in dichten Beschreibungen ihre Beobachtungen während der Trainings dar.
Im vierten Kapitel werden anknĂĽpfend an die zuvor dargelegten theoretischen Zugänge die empirischen Analysen zu den Interviews vorgestellt. Das Kapitel gliedert sich entlang „[r]assismuskritisch relevante[r] Wissensordnungen“ (152) durch „fĂĽnf analytische Figuren“ (224). Diese sind „Wissen – Affekt – Körper“, „Herkunft(s)-Erfahrungen(s-)Wissen“, „Polizei – Wissen – Hierarchie“, „Wissen – Widerstand – Ăśberforderung“, sowie „(Inter-)Kultur – Wissen – Differenz“. Besonders deutlich wird u.a., dass die vier befragten weiĂźen Polizist*innen, die selbst zu Workshopleitungen von „Interkulturellen-Kompetenz-Trainings“ ausgebildet werden, eine bewertende Position zur Workshopleitung einnehmen: So nehmen sie etwa ihre Trainerin of Color als diskriminierend gegenĂĽber WeiĂźen, u.a. als „missionarisch“ (153), persönlich betroffen (157) sowie „manipulierend“ (154) wahr. Einer der Befragten sieht die Teilnehmenden durch die Trainerin als „Rassisten“ (158) bewertet. Währenddessen wird ein weiterer Trainer, ein weiĂźer Mann, von den Befragten positiv beurteilt. Der im Titel der Trainings benannten „Interkulturalität“ wird eine groĂźe Bedeutung zugeschrieben. So zeigen sich die Polizist*innen u.a. enttäuscht, dass sie im Training (zu) wenig Wissen ĂĽber „Andere“ erlangen konnten (160). Die Wirksamkeit von Cop Culture als polizeiinternes, identitätsstiftendes „Deutungssystem“ (43) erkennt Fatoş Atali-Timmer insofern, als dass Befragte u.a. das kollegiale Miteinander bei Trainings als besonders wichtig einordnen (183) und sich vor allem Kolleg*innen als Trainer*innen wĂĽnschen (180). Es wird deutlich, dass dominante Wissensstrukturen und Cop Culture rassismuskritisches Lernen erschweren und die Fokussierung auf „Interkulturalität“ dieses gar verunmöglichen kann, wodurch sich ĂĽbergreifende Ăśberlegungen fĂĽr bildungswissenschaftliche Forschung und Lehre ergeben.
Mit ihrer Studie legt Fatoş Atali-Timmer eindrĂĽcklich dar, „in welcher Weise sich im Sprechen über das Bildungsangebot Interkulturelle-Kompetenz-Trainings Fragestellungen mit migrationsgesellschaftlichen Inhalten als rassismuskritisch relevantes Wissen zeigen“ (224). Deutlich wird, welche Diskurse polizeiliches Sprechen ĂĽber „Interkulturalität“ beeinflussen, welche Rolle Interkulturelle-Kompetenz-Trainings dabei spielen sowie die Dringlichkeit weiterer rassismuskritischer Forschung in polizeilichen (Lern-)Räumen (225). Insbesondere die Funktion der Befragten als zukĂĽnftige Trainer*innen zeigt, dass die Perspektive Rassismuskritik eine untergeordnete Rolle bei der Polizei einnimmt (zumindest im untersuchten Bundesland), da sie nicht als Rassismus-, sondern als „Interkulturalitäts“-Trainer*innen diese Arbeit ausfĂĽhren werden. Fatoş Atali-Timmer unterstreicht daher die Notwendigkeit, rassismuskritische Lernräume bei der Polizei einzufĂĽhren (226).
Wie im Vorwort der Studie von Rudolf Leiprecht herausgestellt wird, geht es der Autorin nicht um einen individualisierten Blick, sondern um strukturelle Bedingungen, die beeinflussen, wie sich Rassismen gestalten. Rudolf Leiprecht hebt hervor, dass die Ergebnisse „zu Fragen fĂĽr uns alle [fĂĽhren]“ (12), da u.a. deutlich wird, inwiefern Rassismen auch unbewusst wirken und Sprachpraxen prägen. Dieser Einordnung stimme ich zu, da ersichtlich ist, dass es Fatoş Atali-Timmer in ihrer Studie nicht um Schuldzuweisungen oder einer Identifizierung von „Rassist*innen“ (27) geht. Vielmehr arbeitet sie am Beispiel der Polizei prägnant heraus, wie auf struktureller und institutioneller Ebene rassismusrelevante Wissensstrukturen auftreten.
Hervorzuheben sind auch die Erfahrungen der Forscherin im Forschungsfeld und ihre Reflexion als Forscherin. Sie macht darauf aufmerksam, wie schwierig es ist, Zugänge zur Polizei zu erhalten, da Cop Culture und Solidarität unter Kolleg*innen dazu führten, dass Polizist*innen um ein positives Außenbild bemüht waren. Weiterhin macht sie Otheringpraktiken transparent, mit denen sie während ihrer Beobachtungen und Interviews konfrontiert wurde und die ihre Ergebnisse bekräftigen.
Mit ihrer Studie leistet Fatoş Atali-Timmer einen äuĂźerst wichtigen Beitrag zur erziehungswissenschaftlichen Rassismusforschung sowie zur Polizeiforschung. Das Buch stellt fĂĽr die polizeiliche Aus- und Weiterbildung, fĂĽr die universitäre Lehre wie auch fĂĽr die rassismuskritische Bildungsforschung eine sehr relevante Arbeit dar, da sie die Wirkmächtigkeit institutioneller Rassismen nachvollzieht und weiteren politischen Handlungsbedarf hinsichtlich der Bearbeitung von Rassismus innerhalb der Polizei aufzeigt.
EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)
Interkulturelle Kompetenz bei der Polizei
Eine rassismuskritische Studie
Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021
(243 S.; ISBN 978-3-96665-039-7; 33,90 EUR)
Liesa RĂĽhlmann (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Liesa RĂĽhlmann: Rezension von: Atali-Timmer, Fatoş: Interkulturelle Kompetenz bei der Polizei, Eine rassismuskritische Studie. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978396665039.html
Liesa RĂĽhlmann: Rezension von: Atali-Timmer, Fatoş: Interkulturelle Kompetenz bei der Polizei, Eine rassismuskritische Studie. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978396665039.html