EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Anne Waldschmidt
Disability Studies zur Einführung
Hamburg: Junius 2020
(226 S.; ISBN 978-3-96060-319-1; 15,90 EUR)
Disability Studies zur Einführung Anne Waldschmidt ist eine der bedeutendsten Vertreter*innen der deutschsprachigen Disability Studies. In „Disability Studies zur Einführung“ leitet sie über die vermeintliche Verständlichkeit des Begriffes „Behinderung“ in Form der Assoziation mit hilfsbedürftigen Menschen und wissenschaftlicher Ungenauigkeit bei der Analyse in das Thema ein. Ihre Einführung möchte in acht Kapiteln einen „systematischen Einblick in das Forschungsfeld und die ihm eigene Perspektivierung von (Nicht-)Behinderung … geben“ (S. 12). Die akademischen Strukturen des Forschungsfeldes gewannen in Deutschland erst seit dem Jahr 2000 an Geltung.

Eine Positionsbestimmung (Kapitel 2) der Disability Studies wird im Verhältnis zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen, den „Not-Disability-Studies“ vorgenommen. Waldschmidt attestiert den Disability Studies eine breitere methodische Ausrichtung und umfassenderen inhaltlichen Blick durch grundlagentheoretische Arbeit, allgemeine Gesellschaftskritik und die weitgefasste Analyse von historischer Entstehung von Normalität und Anderssein bis hin zu ihrer Verfestigung in Handlungspraxen und deren Folgen für Ungleichheit und Marginalisierung. Ein alternativer Ansatz zur Abgrenzung wird über das Verständnis von Behinderung als soziale Konstruktion vorgeschlagen, die in einem kurzen geschichtlichen Abriss zur Herstellung als relevante Differenzkategorie verdeutlicht wird. In Verbindung zur Begriffsgeschichte werden politische Meilensteine angesprochen, da insbesondere die UN-BRK durch den Verzicht auf eine absolute Definition von Behinderung den Forderungen der Aktivist*innen entspricht. Die Verwendung von Behinderung als analytische Kategorie dient der Analyse gesamtgesellschaftlicher und historischer Vorgänge, die erst dazu führten, dass der Begriff mit Bedeutung gefüllt wurde. Dies stellt in Waldschmidts Augen die spezifische Qualität der Disability Studies dar.

Für die Darstellung der Bestandsaufnahme (Kapitel 3) unterscheidet Waldschmidt die sozialwissenschaftlichen Disability Studies, Disability History und kulturwissenschaftliche/Cultural Disability Studies, die sie jeweils in ihrer Entwicklung seit den 1970er Jahren skizziert. Letztere haben sich nicht direkt aus der Behindertenbewegung entwickelt, unterstützen deren Anliegen jedoch meist. Bei der Darstellung der internationalen Wissenschafts- und Aktivismuswelt sind die US-amerikanische und die angelsächsische Tradition prominent zu nennen. Bedeutsame Personen und die Umstände ihrer Arbeiten werden in ihrer Beziehung zu dem jeweiligen Bereich der Disability Studies dargestellt. Dabei finden auch einschlägige Forschungszentren und Fachzeitschriften Erwähnung.

Auf die Bestandsaufnahme folgt ein Kapitel (4) zu Modellen von Behinderung, welches bewusst nicht als Einstieg in die Thematik des Buches verwendet wurde und durch die vorangehende Bestandsaufnahme tiefer in die Materie gehen kann. Obwohl die Modelle zur Profilierung des Forschungsfeldes beigetragen haben, können sie laut Waldschmidt keine Theoriearbeit im engeren Sinne darstellen. Aus der Vielzahl existierender Modelle werden das implizit entwickelte individuelle Modell, das skandinavische relationale Modell und das US-amerikanische Randgruppenmodell sowie das bekannte britische soziale Modell von Behinderung ausgewählt und in Entwicklung und Inhalt beschrieben. Es folgen das menschenrechtliche Modell in Verbindung mit der UN-BRK und das kulturelle Modell von Behinderung. In einem vergleichenden Fazit werden jeweilige Stärken und Schwächen herausgestellt, wobei alle Modelle als heuristische Werkzeuge gewürdigt werden.

Als Klassiker der Theoriebildung (in Kapitel 5) werden Goffman und Foucault namentlich erwähnt sowie die Rezeption und kritische Auseinandersetzung anderer mit ihren Werken vorgestellt. Weitere Theorieansätze werden für die sozialwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Disability Studies zusammengefasst, jedoch deren fließende Grenzen anerkannt. Ersterer beinhaltet zentral strukturelle und kapitalismuskritische, aber auch sozialkonstruktivistische und interaktionische Ansätze. Die kulturwissenschaftlichen Theorieansätze sind diverser verortet, wenden sich bspw. der Bedeutung des Körpers und Liminalität sowie Autoethnografischen Studien, Normalität und Machtkritik zu. Neue theoretische Debatten werden noch stärker disziplinübergeifend und international geführt. Unter verschiedenen skizzierten Schwerpunkten befinden sich Arbeiten zu materialistischen Perspektiven auf Körper und Prothetik, feministische Kritik und Intersektionalität sowie Ableismus. Die Darstellung der Vielfalt und Bedeutung theoretischer Arbeiten soll dem Vorurteil über Disability Studies als wenig abstrahierende „Betroffenenwissenschaft“ entgegenwirken.

Neben theoretischen Arbeiten verfolgen die Disability Studies auch den Anspruch empirische Forschung von den Grundlagen bis zur Anwendung zu betreiben (Kapitel 6). Aus der Kritik an Wissenschaft als Herrschaftsinstrument und der Auseinandersetzung (von Aktivist*innen) mit nicht betroffenen Wissenschaftler*innen entwickelten sich verschiedene methodologische Strategien der Einbindung in Forschung; insbesondere emanzipatorische Forschung, partizipative Forschung, inklusive und betroffenenkontrollierte Forschung. Die Konzepte werden wiederum vorgestellt und vergleichend betrachtet. Als weniger dem Feld zuzuordnen sieht Waldschmidt das neue Feld der Teilhabeforschung, da hier kein emanzipatorisches Wissenschaftsverständnis zugrunde liegt.

Nachfolgend wird schließlich der Forschungsstand der interdisziplinären Disability Studies mit Schwerpunkt ab dem Jahr 2000 gesichtet (Kapitel 7). Dabei werden in der vorangehend eingeführten dreigliedrigen Struktur vielfältige Differenzierungen und Spezialisierungen in Disziplinen und Forschungsfeldern erwähnt. Während die sozialwissenschaftlichen Disability Studies auf allen gesellschaftlichen Ebenen Fragen (der Konstruktion) von Behinderung und der Lebenswelt behinderter Menschen untersuchen, beabsichtigt die Disability History auch, die allgemeine Geschichte neu zu schreiben. Noch breiter aufgestellt ist die kulturwissenschaftliche Richtung, die insbesondere die Verwobenheit von Kultur und Behinderung sowie die Denkfigur Dis/ability erforscht. Differenzierungen des Forschungsstandes können neben dem Gegenstand (z. B. Education) auch beeinträchtigungsspezifisch (z. B. Mad Studies) oder quer zu den skizzierten Feldern (z. B. Queer Disability Studies) ausgerichtet sein. Unter den aktuellen Kontroversen (Kapitel 8) bleibt u. a. die konsequente Realisierung der eigenen emanzipatorischen Anliegen ein Desiderat.

In der Junius-Reihe „zur Einführung“ soll ein souveräner Überblick mit klarer Handschrift der Autor*innen gegeben werden. Das ist Anne Waldschmidt mit ihrer detailreichen und trotzdem komprimierten Einführung in die Disability Studies ohne Zweifel gelungen. Durch den Grad an Abstraktion und theoretische Inhalte ist das Buch für Personen ohne Vorkenntnisse nicht immer leicht zu durchdringen, bietet jedoch einen sehr breiten Überblick und vermittelt tiefere Hintergrundinformationen über die Entwicklungen und Personen im Feld. Die Einführung enthält neben den großen Entwicklungslinien auch einige wichtige Hinweise zum Wording, Denkanstöße und Kontroversen und spricht somit insgesamt eine Einladung zu den Disability Studies, „ein höchst anregendes, interdisziplinäres Forschungsfeld“ (S. 12) aus.

Die Systematisierung des Feldes und Struktur der Einführung mögen sich nicht immer intuitiv erschließen, werden jedoch beim Lesen nachvollziehbar und logisch. Waldschmidts eigene kulturwissenschaftliche Fachgebiete werden im Buch mit höherer Komplexität dargestellt als die Überblicke über wichtige Personen oder Methoden. Strukturierung und Bewertung durch die Autorin sind daher durch die Lesenden entsprechend zu reflektieren. Das Literaturverzeichnis ist umfangreich und international auf über 35 Seiten, wobei Waldschmidt stark auf ihre eigenen Arbeiten zurückgreift und fast ausschließlich deutsche und englische Arbeiten zitiert. Trotz des Verständnisses von Behinderung als kontingente, kulturell hergestellte und von Machtdifferenz begleitete Kategorie der Humandifferenzierung werden Zuschreibungen der Betroffenheit von Behinderung scheinbar absolut als legitimierendes Merkmal (von Erfahrungen) in Zusammenhang mit den vorgestellten Personen genannt (z. B. S. 40ff.).

Als Lehrbuch würde ich das Buch nur in Teilen einsetzen, da es durchaus komplexe Sachverhalte auf- und abstrakt-theoretische Fragen bearbeitet. Als Einführung für eine interessierte Leserschaft ist es jedoch zu empfehlen und bietet auch Personen, die sich bereits länger wissenschaftlich mit Fragen von Behinderung befasst haben eine gesamthafte Darstellung des Feldes sowie wissenswerte Details wie bspw. zum Diskriminierungspotential der Bezeichnung „Mensch mit Behinderung“.
Anne Stöcker (Luxemburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anne Stöcker: Rezension von: Waldschmidt, Anne: Disability Studies zur Einführung. Hamburg: Junius 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978396060319.html