Die Hochbegabtenförderung hat in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland einen enormen Aufschwung erfahren. Dies wird vor allem in der Gründung von freien und staatlichen Spezialschulen für Hochbegabte, in der Profilbildung bestehender Schulen, in Netzwerken verschiedener Bildungseinrichtungen und in Beratungsstellen, die sich mittlerweile über alle deutschen Bundesländer erstrecken, deutlich. Innerhalb dieses Prozesses kann dem Freistaat Sachsen eine gewisse Vorreiterrolle zuerkannt werden, da in der Gründung des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra im Allgemeinen der Beginn der staatlichen Hochbegabtenförderung in Deutschland gesehen wird.
Wie zur Eröffnung der Schule wartete Sankt Afra auch zum zehnjährigen Gründungsjubiläum mit einer Festschrift auf. Allerdings mit einer Festschrift der besonderen Art. Der Band will nicht vordergründig einen Abriss der zurückliegenden Arbeit bieten, sondern einen Beitrag zur Forschungsdiskussion leisten. Schon der Titel zeigt an, dass es den Herausgebern und Autoren nicht nur um das Thema der Hochbegabung im engeren Sinne geht, sondern auch um die zum Teil konkurrierenden Konzepte von Exzellenz und Wertevermittlung.
Die Festschrift geht auf ein Symposion im Rahmen des Sächsischen „Kolloquiums zur Begabtenförderung“ zurück und ist in zwei Hauptteile gegliedert. Im ersten Teil werden theoretische Leitlinien diskutiert, die im zweiten Teil teilweise aufgegriffen und am schulpraktischen Maßstab gemessen werden. Allem vorangestellt ist ein Aufsatz von Joseph S. Renzulli, der mit seinem „Drei-Ringe-Modell“ der Hochbegabung, vom „Schoolwide Enrichment Model“ bis hin zur „Operation Houndstooth“ maßgeblich die Konzeption von Sankt Afra bestimmte. Im Zentrum des Beitrags steht der Aspekt des Enrichment Clusters, der um die beiden Konzepte „Investigatives Lernen“ und „High-End-Lernen“ erweitert wurde. Sie bilden den Kern der Renzulli’schen Pädagogik, die aus schulpraktischer Perspektive auf die Begabtenförderung blickt. Ziel ist es, propädeutischen Unterricht zu entwickeln. Dabei werden die zentralen Eigenschaften besonders begabter Kinder und Jugendlicher mit „Investigativem Lernen“ in Beziehung gesetzt. Dass es bei der Etablierung der beiden Lernkonzepte an Schulen auch Probleme gibt, wird nicht verschwiegen.
So einleuchtend Renzullis Konzept und seine Bedeutung für Sankt Afra auch ist, wird die Rolle und Funktion des Drei-Ringe-Modells für das Landesgymnasium kaum deutlich. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass es für Sankt Afra nur noch plakative Bedeutung hat und längst durch die Erweiterung von Franz Josef Mönks oder durch das Münchener Hochbegabungsmodell ersetzt ist.
An Renzulli anknüpfend, versucht der Gründungsdirektor von Sankt Afra, Werner Esser, Verbindungslinien zwischen der Geschichte der Reformpädagogik und den Grundlagen der Begabungsförderung zu ziehen. Dabei geht er einerseits pauschal auf die reformpädagogische Bewegung um 1900 und andererseits auf die Begabungsförderung im Sinne der Reformpädagogik des amerikanischen Pragmatismus eines William Kilpatrick und John Dewey ein. Esser will bildungshistorische Zusammenhänge veranschaulichen, die bei Renzulli nur angedeutet werden. Über weite Strecken wird allerdings ein nur oberflächliches und einseitiges Bild der Reformpädagogik um 1900 gezeichnet, das der Breite und Tiefe der Bewegung nicht gerecht wird. Was Esser besonders hervorhebt, ist die Rolle des begabungsfördernden Pädagogen. Hierbei wird vor allem die Bedeutung des persönlichen Verhältnisses zwischen dem Mentor und den jungen Menschen herausgestellt und auf die Chancen im Bildungsprozess verwiesen, die auf eine Akademisierung der Schule hinauslaufen. Die Risiken in diesem Prozess werden allerdings kaum beleuchtet.
Victor Müller-Oppliger verweist in seinem Beitrag darauf, dass Begabungsförderung immer auch in Wechselbeziehung zu gesellschaftlichen Bedingungen steht, die er unter den Stichworten von „Sozialer Gerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ fasst. Die Zuschreibung von Begabung oder Hochbegabung dürfe nicht zu einer Ausgrenzung Minderbegabter führen. Müller-Oppliger entwirft das Modell einer „Schule für alle“, die sich auf konstruktivistische Lerntheorien stützt und nach der Praxistauglichkeit von Selbstlernkonzepten fragt. Diese Schule sollte darauf zielen, alle einzuschließen und nicht vordergründig die Anpassung der Unangepassten und die Separation betreiben. Dieses Modell würde unserer pluralistischen Gesellschaft auch am ehesten entsprechen und uns des Problems von Auswahlverfahren, die über Lebens- und Bildungsperspektiven entscheiden, entheben.
Das Lernumfeld steht im Zentrum des Beitrags von Albert Ziegler. An Beispielen kann er aufzeigen, wie „Lernumwelten“ dazu beitragen, Exzellenz entstehen zu lassen. Das Bemerkenswerte an diesem Beitrag besteht vor allem darin, dass Begabungsmodelle und ihre Praxisrelevanz infrage gestellt werden. Damit werden nicht nur die Fragen nach der Qualität von Bildungseinrichtungen und dem zielgerichteten Einsatz von Bildungskapitalien angesprochen, sondern auch auf die Problematik jener Schüler verwiesen, die für das System Schule begabt sind.
Im Eröffnungsbeitrag des zweiten Teils stellt Donatus Thürnau die Erfahrung des Landesgymnasiums in Bezug auf das Thema „Enrichment und Akzeleration“ vor. Er zeigt, dass sich Enrichment immer mit Formen von Akzeleration verbindet und dass diese Verbindung in Sankt Afra gewollt ist. Dieser Befund wird auch durch den Beitrag von Peggy Martin und Gabriele Reichelt untermauert. Hier geht es darum, sich Synergieeffekte aus dem Erlernen von Fremdsprachen in einer bestimmten Sprachenfolge zunutze zu machen. Einen Kontrapunkt setzt der Altafraner Erik Dietrich zu dieser Kontroverse, die ihm zu theorielastig erscheint. Der Gewinn seiner Schulzeit hätte vor allem darin bestanden, eine bestimmte Lernhaltung, Selbstdisziplin und Kreativität entwickelt zu haben, die weit über das Abitur hinaus tragen würde.
Im anschließenden Kapitel „Kompetenz und Leistung“, das mit einem Beitrag von Armin Hackl eingeleitet wird, wird die pädagogische Diskussion über fachliche und überfachliche Lernziele und einen erweiterten Leistungsbegriff aufgegriffen, der (so auch im Beitrag von Maria Degkwitz) in Richtung Kompetenz verschoben ist. Kompetenz wird dabei – ähnlich wie bei Esser und Müller-Oppliger – als praktische oder intellektuelle gesellschaftliche Mitwirkung verstanden. Dass es problematisch ist, Leistung auf schulische Leistung zu reduzieren, wird gleichfalls aus dem Beitrag von Heike Petereit und Brit Reimann-Bernhardt offensichtlich. Aus ihrer Tätigkeit in der Beratungsstelle für Begabtenförderung beleuchten sie die sogenannten Minderleister, „underachiever“, bei denen die Diskrepanz zwischen getestetem IQ und schulischer Leistung besonders groß ist. Beiden gelingt es, gegen das allgemeine Vorurteil zu argumentieren, dass Hochbegabte per se keiner besonderen Förderung bedürften. Der inneren Ausgestaltung des schulischen Leistungsbegriffs nimmt sich Anne Dorothée Naumann an. Im Sinne der neuhumanistischen Bildungsidee Humboldt’scher Prägung plädiert sie für einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem ihrer Meinung nach auf den Leistungsbegriff ganz verzichtet werden sollte. Aus ihrer Perspektive als Altafranerin und Studentin fordert sie eine Akademisierung der Schule, die dann auf die Hochschulen ausstrahlen könnte, an denen zurzeit der umgekehrte Prozess zu beobachten sei.
In dem Kapitel „Mentoring“ wird in besonders starkem Maße an die einleitenden theoretischen Leitlinien angeknüpft. In den Beiträgen von Annette von Manteuffel sowie Fabian Kempe und Sascha Kotztin kommen Erfahrungen aus Schwäbisch Gmünd und Meißen zur Sprache. In allen drei Aufsätzen wird ein plastisches Bild über die Chancen und Risiken der Mentorentätigkeit gezeichnet, wobei von Manteuffel stärker den Mentor im schulischen Umfeld und Kempe und Kotztin – aus ihrem Erleben heraus – den Internatsmentor in den Blick nehmen. Dabei kommt die anerkannte Einsicht zum Tragen, dass es nicht die persönlichen Bemühungen allein sind, die einen Mentoren auszeichnen, sondern dass er in wesentlichem Maße durch seine eigene Persönlichkeit wirkt.
Das abschließende Kapitel ist mit „Operation Houndstooth“ und damit mit einem Begriff überschrieben, den Renzulli in die pädagogische Diskussion eingebracht hat. Im Mittelpunkt des Beitrags von Evangelina González steht die Frage nach den schulorganisatorischen Bedingungen für die Ausbildung co-kognitiver Fähigkeiten. Diese könnten eine Katalysatorfunktion übernehmen und bei Schülerinnen und Schülern die Ausbildung von Optimismus, Courage, Hingabe und Sensibilität fördern. Dass dies nicht allein auf gymnasiale Zentren der Hochbegabtenförderung beschränkt ist, verdeutlicht Stefanie Lischen am Beispiel der Versuchsgrundschule „Josephine“ in Dresden. Sie kann zeigen, wie co-kognitive Komponenten als Lernziele in das schulische Leben aufgenommen wurden und über Arbeits- und Sozialformen sowie die Organisation des Schulalltags vermittelt und damit allen Schülerinnen und Schülern stets gegenwärtig werden. Wiederum am Beispiel von Sankt Afra geht schließlich Sven Buder der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wertevermittlung und der Formulierung eines schulischen Leitbildes nach. Hervorgehoben wird, dass es entscheidend sei, möglichst viele Schüler, Mentoren und Eltern einzubinden und gleichsam mitzunehmen, um einem wertorientierten Leitbild allgemeine Akzeptanz zu verschaffen.
Die beiden Teile der Festschrift sind unterschiedlich zu bewerten. Während der erste Teil der theoretischen Leitlinien wenig Neues präsentiert und zur Theorie und Praxis der reformpädagogischen Bewegung um 1900 inhaltliche und methodische Unzulänglichkeiten aufweist, wird der zweite Teil sicherlich nachhaltiges Interesse finden. Theoriegeleitete Erfahrungsberichte sind in der Hochbegabtenforschung nur selten anzutreffen. Dabei besticht das durchweg hohe theoretische Durchdringungsniveau aller Beiträge. In diesem Zusammenhang ist auch die ausgezeichnete redaktionelle Arbeit von Donatus Thürnau zu würdigen.
Da es sich – dem eigenen Anspruch gemäß – bei dem Band nicht vordergründig um einen Tagungsband, sondern um eine Festschrift handelt, wäre es zu begrüßen gewesen, wenn auch klassische Elemente dieser Literaturgattung eingeflossen wären. Aus aktuellen bildungspolitischen sowie aus bildungshistorischen Erwägungen heraus, wäre sicher ein statistischer Teil von Interesse, der Lehrer- und Schülerzahlen, Abgängerquoten und Abgangsleistungen enthielte. Ungeachtet dessen hat das Team des Landesgymnasiums Sankt Afra um Ulrike Ostermaier und Donatus Thürnau einen beeindruckenden Band vorgelegt, der Maßstäbe für Festschriften der Partnerschulen in anderen Bundesländern setzt.
EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)
Hochbegabung, Exzellenz, Werte
Positionen in der schulischen Begabtenförderung
Festschrift zum zehnjährigen Bestehen des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra
(Im Auftrag des Vereins der Freunde und Förderer des Sächsischen Landesgymnasiums St. Afra e.V.)
Festschrift zum zehnjährigen Bestehen des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra
(Im Auftrag des Vereins der Freunde und Förderer des Sächsischen Landesgymnasiums St. Afra e.V.)
Dresden: Thelem 2011
(343 S.; ISBN 978-3-942411-44-8; 19,80 EUR)
Jonas Flöter (Schulpforte)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jonas Flöter: Rezension von: Ostermaier, Ulrike (Hg.): Hochbegabung, Exzellenz, Werte, Positionen in der schulischen Begabtenförderung Festschrift zum zehnjährigen Bestehen des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra (Im Auftrag des Vereins der Freunde und Förderer des Sächsischen Landesgymnasiums St. Afra e.V.). Dresden: Thelem 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978394241144.html
Jonas Flöter: Rezension von: Ostermaier, Ulrike (Hg.): Hochbegabung, Exzellenz, Werte, Positionen in der schulischen Begabtenförderung Festschrift zum zehnjährigen Bestehen des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra (Im Auftrag des Vereins der Freunde und Förderer des Sächsischen Landesgymnasiums St. Afra e.V.). Dresden: Thelem 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978394241144.html