Deutschland ist – von der Politik über Jahrzehnte verdrängt – spätestens seit den 1960er Jahren ein Einwanderungsland. Was mit dem Zuzug von Gastarbeitern auch aus muslimischen Ländern begann, ist längst zum Familienprojekt geworden: inzwischen wachsen die zweite und dritte Generation von Kindern aus sogenannten Migrantenfamilien in Deutschland heran, die als Erbe aus den Herkunftsländern ihrer Eltern und Großeltern ihre abgestammte Religion mitbringen: unter anderem den Islam. Inzwischen in Deutschland zu Hause, fordern sie selbstbewusst ihre Rechte ein, darunter vor allem das Recht auf konfessionellen Religionsunterricht, wie er vom Grundgesetz in Artikel 7 unter Punkt 3 garantiert wird.
Für islamischen Religionsunterricht erweist sich allerdings der Schritt vom Rechtsanspruch bis zur Umsetzung an den Schulen der jeweiligen Bundesländer als schwierig, stehen doch auf muslimischer Seite weder eine kirchenähnliche Struktur als Ansprechpartner für den Staat noch ausreichend vor- und ausgebildete Religionslehrer zur Verfügung. Im Spannungsfeld der aus dieser Situation resultierenden Diskussion zwischen islamischen Verbänden, akademischer Lehre und staatlichen Stellen ist der vorliegende Band angesiedelt. Er bezieht sich auf Niedersachsen, auch deshalb, weil dieses Bundesland mit seinem Schulversuch zur Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts an Grundschulen einen in Deutschland bislang einmaligen Weg eingeschlagen hat.
Die schwierige Ausgangslage zwischen den rechtlichen Anforderungen an eine Religionsgemeinschaft sowie der Qualifikation potenzieller Religionslehrer einerseits und den berechtigten Wünschen muslimischer Bürger andererseits führte zu intensiven und im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten dieses Schulfaches konstruktiven Diskussionen, deren Ergebnisse der vorliegende Band exemplarisch vorstellt.
Er greift auf Beiträge einer gemeinsamen Tagung des Pädagogischen Seminars der Georg-August Universität Göttingen mit der Schura Niedersachsen, dem „Landesverband für Muslime in Niedersachsen e. V“, zurück und lässt die maßgeblich an der Diskussion in Niedersachsen Beteiligten zu Wort kommen, so z.B. Avni Altiner, Vorsitzender der Schura Niedersachsen, der die Einrichtung islamischen Religionsunterrichts mit dem Argument der religiös und weltanschaulich pluraler werdenden Gesellschaft stützt, oder Firouz Vladi, Bildungsreferent im Vorstand der Schura Niedersachsen, der auf Vorstellungen dessen, was Islam ist, eingeht und ohne im Mindesten belehrend zu sein auf anzutreffende (Miss-)Verständnisse aufmerksam macht.
Zu Wort kommen darüber hinaus der Entwicklungspsychologe Haci-Halil Uslucan, der den Schulversuch in Niedersachsen aus wissenschaftlicher Sicht begleitet und evaluiert hat; Heidemarie Ballasch vom Niedersächsischen Kultusministerium, die die Intention, aber auch die Anforderungen des Landes Niedersachsen für und an einen konfessionellen islamischen Religionsunterricht formuliert und dabei rechtliche Grenzen absteckt, und nicht zuletzt der Religionswissenschaftler Bertram Schmitz, der in Osnabrück maßgeblich an der Ausbildung muslimischer Religionslehrer beteiligt war und zusammen mit Kinan Darwisch sowohl Probleme als auch Chancen des neuen Schulfaches beschreibt.
Ergänzt werden diese den niedersächsischen Schulversuch diskutierenden, beschreibenden und beurteilenden Artikel durch Beiträge, die mehr oder weniger weiträumig im Umfeld der Thematik islamischen Religionsunterrichtes angesiedelt sind. So widmet sich die Herausgeberin selbst der Benachteiligung von Migrantenkindern im deutschen Schulwesen.
Die renommierte Schulbuchexpertin und Islamkennerin (vor allem des Verbands der Islamischen Kulturzentren e. V.) Gerdien Jonker entlarvt das Bild der deutschen Mehrheitsgesellschaft vom Islam als in spezifisch historischem Rahmen entstandenes Stereotyp, und schlieĂźlich berichtet die Hamburger Sozialarbeiterin Nazife Toklu ĂĽber institutionelle und individuelle Diskriminierung muslimischer Kinder an deutschen Schulen.
Auf die spezifischen Anforderungen eines islamischen Religionsunterrichtes gehen allerdings nur wenige Beiträge ein. Kinan Darwisch, der sich im universitären Rahmen mit dem Thema „Islamischer Religionsunterricht in Deutschland“ beschäftigt, beleuchtet in seinem Beitrag die Entwicklungen in Richtung auf dieses neue Unterrichtsfach in Niedersachsen. Er berücksichtigt hierbei sowohl juristische als auch religiöse wie pädagogische Gesichtspunkte, während Katja Koch vor allem die Anforderungen an islamische Religionslehrer thematisiert. Der Schwerpunkt ihres Beitrags ist allerdings allgemeinen Anforderungen an den Lehrerberuf gewidmet, und lediglich auf drei schmalen Seiten wird ausgeführt, was „Lehrer für islamischen Religionsunterricht können“ sollten. Etwas „spezifisch Islamisches“ – wenn es denn nach Ansicht der Autorin so etwas geben sollte – findet keine Erwähnung.
Genau dieses, nämlich die genuin islamischen Anforderungen an den Religionsunterricht herauszustellen, bleibt Aufgabe eines Beitrages von Ali Özgur Özdil, der die von den muslimischen Verbänden eingeforderte Ausrichtung auf die islamische Lehrtradition mit Anforderungen einer modernen Fachdidaktik zu verbinden sucht bzw. die Widersprüche zwischen beiden Perspektiven deutlich macht. In diesem Zusammenhang tauchen dann auch Postulate auf, deren Erfüllung eigentlich selbstverständlich sein sollten, so z.B., dass die „Lehrerinnen und Lehrer Muslime sind“ (91). Dieser Hinweis erklärt sich dadurch, dass Özdil in Hamburg tätig ist, wo zwar ein religionskundlicher jedoch kein bekenntnisorientierter Religionsunterricht angeboten wird.
Fazit: Wer in dem vorliegenden Band den Ansatz zu einem islamisch-religionspädagogischen Handbuch oder Schritte in Richtung auf eine Didaktik für den islamischen Religionsunterricht sucht, wird enttäuscht werden. Wer sich aber mit einem Blick über den Diskussionsstand in Sachen islamischer Religionsunterricht in Niedersachsen informieren will, ist mit dem schmalen Bändchen gut bedient. Hier findet er nicht nur die maßgeblichen Diskussionspartner und Mitglieder des sogenannten „Runden Tisches“, der bis zu einer endgültigen Regelung die klar umrissene Religionsgemeinschaft als verfassungsmäßigen Gesprächspartner der Landesregierung ersetzt, sondern er kann den Beiträgen sowohl die wesentlichen Argumente für die Einführung eben jenes Unterrichtes als auch die Hindernisse auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung entnehmen.
Über die konkrete Situation und Benachteiligung muslimischer Schüler bzw. ein immer noch islamfeindliches Umfeld informieren weitere qualifizierte Beiträge, die allerdings in ähnlicher Form bereits an anderer Stelle diskutiert wurden. Wirklich Neues bietet der vorliegende Band also nicht, sondern eben die erwähnte Zusammenfassung des mehr oder weniger bekannten Diskussionsstandes, aber genau das und nicht mehr ist der Anspruch der Herausgeber.
Nur nebenbei und der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der so informative Band leider wenig sorgfältig lektoriert wurde: es haben etliche Interpunktions- und Rechtschreibefehler überdauern können, was leider den Lesefluss gelegentlich etwas stört.
EWR 11 (2012), Nr. 1 (Januar/Februar)
Dimensionen religiöser Erziehung muslimischer Kinder in Niedersachsen
Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2010
(132 S.; ISBN 978-3-9418-7556-2; 20,00 EUR)
Ina Wunn (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ina Wunn: Rezension von: Koch, Katja / Darwisch, Kinan (Hg.): Dimensionen religiöser Erziehung muslimischer Kinder in Niedersachsen. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978394187556.html
Ina Wunn: Rezension von: Koch, Katja / Darwisch, Kinan (Hg.): Dimensionen religiöser Erziehung muslimischer Kinder in Niedersachsen. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978394187556.html