Unter dem Titel „Kompetenzentwicklung in verschiedenen Lernkulturen“ ist im Frühjahr 2013 ein Werk erschienen, was sich sicherlich in eine lange Reihe von Publikationen im Kontext von Kompetenz und Kompetenzentwicklung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik einreiht – und was dennoch in ganz besonderer Weise aus dieser Reihe hervortritt.
Es ist die facettenreiche Festschrift für einen der facettenreichsten Wirtschaftspädagogen des deutschsprachigen Raums. Gleichermaßen persönlich wie reflexiv, gleichermaßen wissenschaftlich fundiert wie pragmatisch-konzeptionell umfasst diese Festschrift eine breite Sammlung von Beiträgen im weiten Kontext der Fragen, Konzepte und Modelle um Kompetenz und Kompetenzentwicklung. Dabei reihen sich schulische und hochschulische Zugänge an betriebliche und berufsbildungsbezogene Zugänge. Ihnen allen ist gemeinsam, dass die Spezifik dieser Bildungskontexte jeweils durch eigene Logiken, Fragestellungen und Herausforderungen gekennzeichnet ist. Vor allem aber ist ihnen allen gemeinsam, dass sie in der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kompetenz einen Kristallisationspunkt finden, der quer liegende Fragestellungen aufwirft und die inhaltliche Verknüpfung zwischen den einzelnen Bildungskontexten ermöglicht.
Wirft man dazu einen Blick auf die aktuelle Publikationsliste und die ausgewiesenen Profilschwerpunkte von Dieter Euler, so zeigt sich, dass seine Beschäftigung mit den Themenfeldern der Kompetenz und Kompetenzentwicklung bis in die 1990er Jahre zurückzuverfolgen ist und sich in vier zentralen Bearbeitungsschwerpunkten niederschlägt: angefangen mit der (1) kontinuierlichen und zunehmend ausdifferenzierten Bearbeitung des Begriffes Sozialkompetenz, über (2) Fragen der Kompetenzentwicklung von Lehrenden in unterschiedlichen Bildungskontexten bis hin zu (3) Überlegungen zum kompetenzorientierten Prüfen und schließlich (4) dem Ausloten von Kompetenzorientierung als leitendes Paradigma in der beruflichen Bildung.
Die Festschrift nimmt diese profilbildenden Bearbeitungsschwerpunkte zu Kompetenz und Kompetenzentwicklung ebenso auf wie die Perspektive auf unterschiedliche Bildungskontexte. Dabei beziehen sich die im Titel angekündigten „verschiedenen Lernkulturen“ erfrischender Weise nicht nur auf die in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik überwiegend fokussierten Kontexte Schule und Berufsbildung. Auch die Hochschulentwicklung und Hochschuldidaktik findet mit vier Beiträgen ihren Raum und repräsentiert damit gleichermaßen ein in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik derzeit immer breiter bearbeitetes, neues Feld der Disziplin, wie es besonders im St. Gallener Institut für Wirtschaftspädagogik gelebt wird. Schließlich nimmt auch der betriebliche Fokus und dabei in besonderer Weise die Frage des informellen Lernens – dem Profil Dieter Eulers entsprechend – einen Teilbereich der Publikation ein. Die hier getroffene Auswahl „unterschiedlicher Lernkulturen“ macht damit eines deutlich: Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik vermag in ihrer derzeitigen Schneidung mehr zu bearbeiten als die Kontexte Schule und Berufsbildung. Sie vermag sich durchaus neuen Themenbereichen, Kontexten und Gegenständen zu öffnen und damit ihre eigenen disziplinären Grenzen zeitgemäß neu zu definieren. Dieter Euler ist dabei möglicherweise ein Protagonist dieser Disziplin, der eben diese Vielschichtigkeit und Offenheit für Entwicklungen in besonderer Weise realisiert.
Eingeleitet – und hier liegt m. E. ein besonderer Wert der Publikation – wird die Festschrift von einer Reihe von Beiträgen, die z. T. in einem sehr persönlichen Bezug zur Person und Bioagrafie Dieter Eulers wissenschaftsreflexiv geprägt sind und die eben beschriebene Veränderbarkeit von Wissenschaft konstruktiv in den Blick nehmen. Hierzu gehören z. B. die Beiträge von Peter Sloane, Detlef Buschfeld, Ruth Enggruber und Gabi Reinmann.
Nimmt man dann nicht die benannten „unterschiedlichen Lernkulturen“ als Ordnungssystematik für die in der Festschrift versammelten Beiträge, sondern die Facetten zum Kompetenzbegriff, die sich aus Dieter Eulers eigenem Werk herauskristallisieren lassen, dann ergibt sich ein ertragreiches Cluster für die Beiträge in dieser Festschrift:
So bildet zum einen die Frage der (1) Ausdifferenzierung einzelner Kompetenzen und Kompetenzdomänen einen ersten quer liegenden Schwerpunktbereich der Publikation. Hier lässt sich der Beitrag von Philip Gonon einordnen, der m. E. sehr zurecht darauf hinweist, dass das in der Outputsteuerung angelegte paradigmatische Element von Kompetenz nicht verwertungsorientiert verkürzt zur Steuerung von Bildung verkommen darf, sondern die Fokussierung von Metakompetenzen wesentlich zur Zukunftsfähigkeit der beruflichen Grundbildung beiträgt. Ebenfalls als übergeordnete Kategorie ist die Fähigkeit des selbstgelenkten Lernens zu verstehen, die Christoph Metzger bearbeitet und hier Implementierungs- und Forschungsnotwendigkeiten ausweist. Auch die Fähigkeit zur Orientierung in der vielfältig paradoxen Gegenwart – hier thematisiert durch Wolfgang Wittwer – lässt sich als Kompetenz mit übergeordneter Bedeutung erkennen. Schließlich reflektiert in diesem Schwerpunktbereich auch Annette Bauer-Klebel Überlegungen zur Kategorie der Sozialkompetenz und führt wissenschaftliche Diskussionslinien dazu zusammen.
Einen Blick auf spezifische Kompetenzdomänen von einzelnen Gruppen werfen Roman Capaul & Martin Keller. Sie fokussieren die Frage der Handlungskompetenzen von Schulleitungen und ihre Funktion, um Orientierung und Entscheidungsfähigkeit im komplexen Anspruchssystem Schule zu gewährleisten. Auch Ulrich Braukmann hat mit der Didaktik der Entwicklung einer unternehmerischen Persönlichkeit die Handlungskompetenz einer spezifischen Gruppe im Blick sowie deren didaktisch-unterstützende Förderung.
Dem (2) didaktischen Fokus auf Kompetenzentwicklung und der neuen Rolle von Lehrenden folgend, beschäftigt sich eine Reihe der Beiträge mit Bedingungen, Prozessen und Zielen kompetenzorientierten Lernens. So bearbeiten Annette Bauer-Klebel & Saskia Raatz die Entwicklung von Teamkompetenz durch Reflexionsprozesse und Feedback, während Alfred Riedel & Andreas Schelten eine Zwischenbilanz zum Potenzial für Kompetenzentwicklung ziehen, das sich aus dem Lernfeldkonzept ergibt. Die individuelle Perspektive der Kompetenzentwicklung nimmt Hugo Kremer ein, der anhand des Übergangssystems für die Notwendigkeit der systematischen Unterstützung von individuellen Prozessen in Bildungsgängen und über Bildungsgänge hinweg plädiert.
Im Kontext didaktischer Fragen zur Kompetenzentwicklung stellen Medien und Methoden wesentliche Instrumente zur Unterstützung von Lernprozessen dar. Diesbezüglich nimmt Rolf Dubs Lehrbücher im Wirtschaftskundeunterricht als Unterstützungsmedien für Kompetenzentwicklungsprozesse in den Blick – die es anzuerkennen und weiterzuentwickeln gilt. Bei der Thematisierung der Methode des Projektmanagements durch Karl-Heinz Gerholz wird eben diese didaktische Perspektive deutlich. Zugleich zeigt sich aber auch, dass individuelle Kompetenzentwicklung im Zusammenhang mit Prozessen der Organisationsentwicklung zu sehen ist und projektförmiges Arbeiten für beide Prozessebenen eine besondere Relevanz hat.
Die veränderte Rolle der Lehrenden bei der Gestaltung von Kompetenzentwicklungsprozessen prägt Günter Pätzolds Perspektive auf die Lehrerbildung und deren Akteure, wobei in seinem Beitrag das Verhältnis von Lehrerkompetenzen und Schülerleistung zum Ausgangspunkt gemacht wird. Eben diesen Zusammenhang zwischen den Kompetenzen der Lehrenden und der Entwicklung von Lernenden fokussiert auch Johannes Wildt – wohl aber mit dem Blick auf hochschulisches Lernen und Hochschuldidaktik. Auch Hubert Ertl & Florian Friedrich beschäftigen sich mit der Perspektive der Lehrenden und nehmen die Rolle der Innnovationskompetenz von Ausbildern in der Berufsausbildung im internationalen Vergleich in den Blick. Weiterhin skizzieren Tanja Fandel-Meyer & Sabine Seufert die Rolle von Führungskräften als Personalentwickler im betrieblichen Kontext. Auch Sabine Seufert, Marion Lehner & Maria Tödtli nehmen den Blick der Bildungsverantwortlichen ein und wenden sich mit der „Didaktisierung des informellen Lernens“ der Notwendigkeit der Planung des Zufalls zu. Und schließlich diskutiert Sabine Seufert in einem weiteren Einzelbeitrag die Bedeutung der Kompetenzentwicklung von Lehrenden an berufsbildenden Schulen im Bereich der digitalen Medien.
Neben der konkreten Gestaltung von Lernprozessen und den dafür notwendigen Medien und Methoden ist die Frage der Lernkultur von Organisationen ein wesentlicher Faktor zur Förderung von Kompetenzentwicklung. Diese Frage nehmen Anja Gebhardt & Tobias Jenert auf und betrachten das Konstrukt der hochschulischen Lernkultur, während Taiga Brahm die hochschulstrategischen Gestaltungsebenen für die Entwicklung einer Lernkultur bearbeitet.
Wer Bildung gestaltet, fragt auch nach den Effekten und Wirkungen der Lernprozesse. In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik werden entsprechend in jüngerer Zeit ausgiebig und konträr Fragen der (3) Kompetenzmessung beforscht und diskutiert. Hier zeigt Reinhold Nikolaus auf, welchen Stand die Disziplin derzeit zur Kompetenzmodellierung und einer darauf abgestimmten Messung von Kompetenzen erreicht hat. Einen erfrischend kritisch-reflektierten Blick auf diese Diskussion erhält der Leser durch den Beitrag von Karl Wilbers, der eine konstruktive Verknüpfung der bestehenden Diskussionslinien zur Kompetenzmessung wagt.
Einen weiteren Schwerpunkt schließlich bilden Beiträge, die die Konsequenzen des Paradigmenwechsels zu einer auf (4) Kompetenzorientierung ausgerichteten Bildung in den Blick nehmen. Hier greift Franz Eberle das Spannungsfeld zwischen der Förderung von Studierfähigkeit einerseits und gesellschaftlicher Reife andererseits als mögliche Bildungsziele von Gymnasien auf und entwickelt einen Harmonisierungsvorschlag. Ralf Tenberg wendet sich der Frage zu, ob und wie weit der Kompetenz-Ansatz als übergreifende berufliche Bildungsperspektive in der Realität der beruflichen Bildung angenommen und umgesetzt wird. Auch Hubert Esser nimmt eine paradigmatische Perspektive ein, wenn er die Einführung des DQR und seine Konsequenzen für die ordnungspolitische Einbettung von Kompetenzorientierung reflektiert. Schließlich transferiert Thomas Deissinger die Frage dieses Paradigmas auf das angelsächsische Berufsbildungsverständnis. Wie sehr mit dem Paradigma der Kompetenzorientierung zugleich auch eine Systemveränderung verbunden ist, geht aus dem Beitrag von Eckhart Severing hervor. Im Sinne des Einbezugs aller Lernenden in die berufliche Bildung plädiert er für eine systematische Öffnung bisheriger Strukturen beruflicher Bildung. Auch Daniela Schumann & Sabine Seufert nehmen die Systemveränderung durch Kompetenzorientierung in den Blick – allerdings für die betriebliche Weiterbildung.
Mit 31 Einzelbeiträgen auf insgesamt 535 Seiten haben die Herausgeber somit ein Werk zusammengeführt, das der Vielschichtigkeit des Kompetenzbegriffes und seinem Niederschlag in verschiedenen Lernkulturen ebenso gerecht wird wie der Breite der wissenschaftlichen Wirkens von Dieter Euler in der jüngeren Diskussion der Berufs- und Wirtschaftspädagogik.
EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Kompetenzentwicklung in unterschiedlichen Lernkulturen
Festschrift fĂĽr Dieter Euler zum 60. Geburtstag
Paderborn: Eusl 2014
(535 S.; ISBN 978-3-9406-2527-4; 42,00 EUR)
Julia Gillen (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Gillen: Rezension von: Seuffert, Sabine / Metzger, Christoph (Hg.): Kompetenzentwicklung in unterschiedlichen Lernkulturen, Festschrift fĂĽr Dieter Euler zum 60. Geburtstag. Paderborn: Eusl 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978394062527.html
Julia Gillen: Rezension von: Seuffert, Sabine / Metzger, Christoph (Hg.): Kompetenzentwicklung in unterschiedlichen Lernkulturen, Festschrift fĂĽr Dieter Euler zum 60. Geburtstag. Paderborn: Eusl 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978394062527.html