EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sammelrezension
Gewalt und Sensibilität

Burkhard Liebsch
Subtile Gewalt
Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit
Weilerswist: VelbrĂĽck 2007
(254 S.; ISBN 978-3-9388-0835-1; 29,90 EUR)
Burkhard Liebsch
Menschliche Sensibilität
Inspiration und Ăśberforderung
Weilerswist: VelbrĂĽck 2008
(459 S.; ISBN 978-3-9388-0853-5; 68,00 EUR)
Subtile Gewalt Menschliche Sensibilität Die in den Büchern „Subtile Gewalt“ und „Menschliche Sensibilität“ enthaltenen Studien sollten ursprünglich gemeinsam in einem Band erscheinen, wurden dann aber aus Gründen des Umfanges in zwei gesonderten Publikationen veröffentlicht.
In beiden Büchern beschäftigt sich Burkhard Liebsch mit verschiedenartigen Formen von Gewalt und stellt zugleich die Frage nach Möglichkeiten eines „sensiblen“ Umgangs mit einer Verletzlichkeit, die in dem Leben von Menschen mit Anderen und unter Anderen angelegt ist. Beide Bände enthalten je ein Kapitel, in dem Liebsch sich explizit auch der Pädagogik zuwendet. Diese gehen – wie fast alle Kapitel in den zwei Büchern – auf Veröffentlichungen zurück, die bereits an anderer Stelle publiziert wurden.

Zum Buch „Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit“

In seinem Buch „Subtile Gewalt“ untersucht Liebsch Formen der Gewalt, die unvereinbar sind mit der Annahme, dass die Gewalt nicht spreche, sie ihrem Wesen nach stumm sei, so wie es umgekehrt die Sprache auszeichne, das Medium einer prinzipiell gewaltlosen Vernunft zu bilden. Leitend ist der Gedanke, dass zwischen Sprache und Gewalt ein „innerer“ Zusammenhang besteht, der unauflösbar ist, ohne dass das aber hieße, man hätte sich achselzuckend mit dem unvermeidbaren Vorkommen von Gewalt in sprachlich strukturierten Lebensformen abzufinden.

In seiner Einleitung bemerkt Liebsch, „dass wir Gewalt als Gewalt nur dann überhaupt beschreiben und verstehen können, wenn wir in Rechnung stellen, dass Gewalt verletzt. Und zwar Andere“ (22). Darin liegt eine merkwürdige Einseitigkeit, denn Gewalt kann nicht nur Andere verletzen, sondern auch einen selbst, und in der eigenen Verletzlichkeit ist man zwar auch, aber nicht nur verwundbar durch das, was Anderen widerfährt und widerfuhr. Auch Liebschs eigene weitere Ausführungen lassen sich mit der Einseitigkeit der zitierten Formulierung nicht in Einklang bringen.

Neben der Einleitung und einem Epilog enthält Liebschs Buch sieben Kapitel. Ein zentrales Thema in den ersten beiden Kapiteln bildet die Frage der Gewaltrechtfertigung. Liebsch betont, in einer sozialen Lebensform zu koexistieren sei „auf Dauer nur möglich“ und erscheine „auf Dauer nur sinnvoll“, „wenn wenigstens die ungerechtfertigte Verletzung Anderer nicht hingenommen wird“ (71). Doch hebt er auch hervor, dass die Rechtfertigung verletzender Gewalt deren Gewaltcharakter nicht zu tilgen vermag, die Rechtfertigung in der Form einer Rationalisierung erfolgen kann, in der eine eigene Art von Gewaltsamkeit liegt, und der Versuch, Gewalt zu rechtfertigen, außerdem voraussetzt, dass diese Gewalt bereits als Gewalt namhaft gemacht worden ist, während Gewalt in ihren subtilen Formen vielfach verborgen wirkt, ohne überhaupt als Gewalt zum Thema zu werden. Anstatt zu versprechen, auf Gewalt verzichten zu können, so Liebsch, komme es darauf an, sich auf die „Suche nach Spielräumen geringerer Gewalt“ (61) zu begeben. In dem Interesse an der Verringerung von Gewalt könne man sich nicht darauf beschränken, sie nur als rechtfertigungsbedürftig zu betrachten, sondern müsse darüber hinaus auch bereit sein, sie als verletzende Gewalt dort zum Vorschein zu bringen, wo sie bislang nicht als solche wahrgenommen und anerkannt wurde. Dazu wiederum sei es unabdingbar, sich „über sie vom Anderen her belehren zu lassen“ (11).

Im dritten, vierten und fünften Kapitel seines Buches nimmt Liebsch den Zusammenhang von Sprache und Gewalt in vielfältiger Weise in den Blick. So thematisiert er z.B. ebenso eine Gewalt, die sich in der Weise ereignen kann, in der wir Andere anreden und über sie reden, wie auch eine Gewalt, die im Ausbleiben jeglicher Anrede und im Beschweigen geschieht, oder erwähnt ebenso eine Gewalt, die in der Untersagung der Rede liegt, wie auch eine Gewalt, die sich in ihrer Regulierung vollzieht. Seine Aufmerksamkeit gilt besonders auch einer Gewalt, die unter eine an Worte und Sätze gebundene Sprache hinabreicht, indem sie dort wirksam ist, wo sich entscheidet, ob, wann, wie, wo und durch wen etwas als etwas zur Artikulation gelangen kann oder nicht. Dabei greift er auf Überlegungen Jacques Rancières zurück, der auch für sein zweites Buch „Menschliche Sensibilität“ besondere Bedeutung besitzt.

Liebsch betont, dass man gar nicht in angemessener Weise zum Ausdruck bringen kann, worin der Gewaltcharakter der Gewalt eigentlich liegt, wenn man nur von verletzenden Akten oder Mitteln der Gewalt spricht, die Erfahrung der Verletzung selbst hingegen vernachlässigt. Dieser Gedanke ist u.a. auch für sein sechstes Kapitel über unterschiedliche Formen der Verachtung bedeutsam (dieses Kapitel wurde zuerst veröffentlicht in dem von Norbert Ricken herausgegebenen Band „Über die Verachtung der Pädagogik. Analysen – Materialien – Perspektiven“, Wiesbaden 2007). Darin nimmt er in seinen Kant gewidmeten Überlegungen anders als dieser nicht bloß die Perspektive dessen ein, der dem Anderen in dessen „Würde“ als einem unantastbaren „absoluten Wert“ Achtung schuldet, sondern auch die Perspektive dessen, der faktisch dennoch so verletzt zu werden vermag, dass er sich selbst womöglich nicht als jemanden wahrnehmen kann, dem für Andere ein jeglicher Entwertung sich entziehender „absoluter Wert“ zukommt. Wenn man von „Würde“ spreche, so Liebsch, müsse man stets von einem „leibhaftigen Selbst“ ausgehen, „das sich seines angeblich absoluten und unanfechtbaren Wertes nicht an der Erfahrung der Verachtung vorbei vergewissern kann, der es ausgesetzt ist“ (172).
In seinem Kapitel über die Verachtung thematisiert Liebsch in einem Unterkapitel auch die „Verachtung der Pädagogik“. Er erwähnt hier zunächst eine Verachtung, die sich aus dem Missverhältnis zwischen überschwänglichen, etwa auf die „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“ sich richtenden Erwartungen an die Erziehung einerseits und der Wirklichkeit der Erziehung andererseits speisen kann. Ein ganz anders beschaffenes Missverhältnis zwischen „Anspruch“ und „Wirklichkeit“ thematisiert er dort, wo er von dem Anspruch, dem zu Erziehenden in seiner Fremdheit gerecht zu werden, als einer Forderung redet, die unmöglich definitiv zu erfüllen ist, ohne dass diese Unmöglichkeit aber im Geringsten von der Verpflichtung gegenüber jenem Anspruch entbinden würde.

Im siebten Kapitel versucht Liebsch in seiner Auseinandersetzung mit dem unauflösbaren „inneren“ Zusammenhang von Sprache und Gewalt eine sprachliche „Gegen-Macht“ zu denken, die auf das Verhältnis von Sprache und Macht selbst zu reflektieren hätte und sich „als Macht, die über Sprache zu verfügen scheint, in Frage stellen“ (197) müsste, bevor er sich in seinem Epilog anknüpfend an Überlegungen von Derrida und Levinas und – am Rande – ebenso auch von Rancière dem Thema „Sprache, Gewalt und Gastlichkeit“ zuwendet. Dabei stellt er jeweils auch das Ideal einer rhetorikfreien Sprache in Frage, auch mit Blick auf Levinas, der diesem Ideal in seinem ersten Hauptwerk „Totalität und Unendlichkeit“ verbunden bleibt. Hier hätte eine Möglichkeit gelegen, die „Verachtung der Pädagogik“ noch einmal aus anderem Blickwinkel zu thematisieren als zuvor. Denn in „Totalität und Unendlichkeit“ ist die Verachtung der Rhetorik unmittelbar an ein verächtliches Sprechen über Pädagogik gekoppelt [1]. Liebsch zieht diese Querverbindung nicht. Aus erziehungsphilosophischer Sicht könnte es jedoch lohnend sein, der Frage nachzugehen, inwiefern die verächtliche Verwendung der Worte „Pädagogik“ oder „pädagogisch“ in einem philosophischen Text auf einen wunden Punkt in der Philosophie selbst hinweisen kann, die sich von dem so Bezeichneten distanziert.

Liebschs Buch „Subtile Gewalt“ kann in pädagogischen Zusammenhängen für all jene lesenswert sein, die speziell auch in diesen Kontexten an Auseinandersetzungen mit Formen subtiler wie auch exzessiver Gewalt und ebenso an der „Suche nach Spielräumen geringerer Gewalt“ interessiert sind. Es handelt sich bei den von Liebsch verfassten Studien um Untersuchungen, die in der Phänomenologie beheimatet sind und dabei Nähen zu der von Bernhard Waldenfels entwickelten Phänomenologie der Responsivität aufweisen, auch wenn Waldenfels nur an einigen wenigen Stellen erwähnt wird. Eine für phänomenologische Beschäftigungen mit verletzender Gewalt m. E. ganz grundlegende Differenzierung fehlt in Liebschs Studien allerdings, nämlich jene, die Waldenfels vornimmt, wenn er zwischen dem „Wovon der Affektion“ und dem „Worauf der Antwort“ sowie zwischen dem, „was mir widerfährt“, und dem, „was ich zur Antwort gebe“, unterscheidet, während er fragt, wie sich die „Umwandlung des erleidenden in ein antwortendes Selbst“, des „’Patienten’“ in einen „Respondenten“ vollziehen kann [2]. Diese Differenzierung findet sich auch in dem Buch „Menschliche Sensibilität“ nicht, das thematisch an die in „Subtile Gewalt“ vorgelegten Studien anschließt.

Zum Buch „Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung“

Das Buch „Menschliche Sensibilität“ ist in einen Teil A und einen Teil B aufgegliedert. In Teil A versucht Liebsch auf mehreren Erkundungsgängen die Bedeutung eines „unvermeidlich übermäßigen Sinns für Ungerechtigkeit als Form praktischer Sensibilität“ (15) herauszuarbeiten, während Teil B menschliche Sensibilität in jeweils spezifischen – nämlich pädagogischen, politischen, rechtlichen, kulturellen und geschichtlichen – Kontexten und Hinsichten thematisiert. Im Vordergrund stehen in Teil A Auseinandersetzungen mit Jacques Derrida und Emmanuel Levinas. Eine wichtige Rolle spielen daneben aber auch Bezugnahmen auf Judith Shklar und John Rawls. Levinas bildet mit seiner Weise, Sensibilität zu denken, in den ersten beiden Kapiteln den Hauptgesprächspartner von Liebsch. Shklar erfährt im dritten Kapitel mit der Überschrift „Sinn für Ungerechtigkeit als Form menschlicher Sensibilität“ besondere Aufmerksamkeit. Rawls findet sowohl in diesem Kapitel als auch in dem daran anschließenden vierten Kapitel mit der Überschrift „Sinn für Ungerechtigkeit und Perspektiven institutionalisierter Gerechtigkeit im ‚globalen Horizont’“ kritische Erwähnung. Das fünfte Kapitel, in dem „Sensibilität als Leidenschaft des Un-Möglichen“ thematisiert wird, enthält eine intensive und sehr anregende Auseinandersetzung mit Derrida.

Spricht Liebsch von „menschlicher Sensibilität“, geht es ihm um eine Sensibilität, die Menschen angesichts der Verletzlichkeit Anderer als „menschlich“ auszeichnet und so „den Menschen erst vom Anderen her […] als ‚menschlich’ erscheinen“ (35) lässt. Entscheidende Anregungen verdankt er dabei Levinas, auf den er sich allerdings zugleich auch wiederholt kritisch bezieht. Liebsch betont, ihm sei an einer „Repolitisierung des Begriffs der Sensibilität“ gelegen, die jedoch keineswegs darauf hinauslaufen solle, „seine durch Levinas betriebene Radikalisierung“ zu „entschärfen“ (82). Die Radikalität des Levinas’schen Ansatzes gründet für ihn darin, dass Levinas von einer Sensibilität spricht, die nicht von vornherein auf diese oder jene ausgewählten Anderen eingeschränkt ist, einer Sensibilität, die von der unbedingten Herausforderung her zu verstehen ist, sich dem Anspruch des Anderen zu öffnen, ohne dass es möglich wäre, das In-Empfang-Nehmen dieses – unwiderruflich verpflichtenden – Anspruchs zuvor an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Ohne diesen Gedanken schlicht preisgeben zu wollen, betont Liebsch, dass der Anspruch des Anderen eingebettet sei in Felder einer „von vielfachem Widerstreit gezeichneten sozialen und politischen Koexistenz“ (91) und die „außer-ordentliche Sensibilität“, von der Levinas spreche, zusammengedacht werden müsse mit einer „leibhaftigen, im Kontext partikularer Lebensformen verwurzelten Sensibilität“ (55). In seinem Bemühen um eine „Repolitisierung des Begriffs der Sensibilität“ geht er der Frage nach, wie die außer-ordentliche Sensibilität, auf die Levinas hinweist, einen konkreten, innerhalb spezifischer Ordnungen sich artikulierenden „Sinn für Ungerechtigkeit“ zu inspirieren vermag und wie dieser Sinn wiederum ein „Verlangen nach Gerechtigkeit“ ins Leben rufen kann.

Wie Teil A gliedert sich auch Teil B des Buches „Menschliche Sensibilität“ in fünf Hauptkapitel auf. Das erste Kapitel, das im Folgenden noch genauer vorgestellt werden soll, trägt die Überschrift „Sensibilität, Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit. Mit Blick auf Goldschmidt, Rousseau und Merleau-Ponty“. Ihm folgt ein Kapitel zum Dissensbegriff Rancières. Liebsch bezieht sich darin u.a. auf eine als „Politik der Anerkennung“ begriffene „Politik der Differenz“, die nicht nur „Differenz“ oftmals voreilig mit bloßer Verschiedenheit, mit einer bloß relativen und komparativen Andersheit gleichsetze, sondern vielfach zugleich auch nicht beachte, dass Anerkennung bereits voraussetzt, „dass das, der oder die Anzuerkennende überhaupt in Erscheinung treten konnte, um eine eigene Sicht der Dinge zur Sprache zu bringen“ (287). In dem Bestreben, den Sensibilitätsbegriff zu „repolitisieren“, spricht Liebsch in diesem Kapitel von einer „Kultur der Dissenssensibilität“ (302), in der immer wieder von neuem verlangt sei, die abweichenden Erfahrungen und Wahrnehmungen Anderer zur Geltung kommen zu lassen, und die dabei zugleich von der Beunruhigung darum wachgehalten werden müsse, dass in der Andersheit des Anderen allein nicht schon die Garantie dafür liegt, dass dieser Andere im politischen Leben tatsächlich als ein Adressant von Ansprüchen wahrgenommen wird, die unausweichlich Antwort fordern. Den Ausführungen zu Rancières Dissensbegriff folgt ein Kapitel mit der Überschrift „Recht und Gastlichkeit“. Anknüpfend an Derrida thematisiert Liebsch darin u.a. den – praktisch fruchtbar zu machenden – Widerstreit zwischen einer unbedingten und unbeschränkten, dem Anderen, der grundsätzlich jeder Andere sein kann, vorbehaltlos sich öffnenden an-archischen Gastlichkeit einerseits und einer stets bedingten, eingeschränkten, mit Vorbehalten versehenen Gastlichkeit andererseits, wie sie sich etwa in den Ordnungen des Juridischen und des Politischen manifestiert. Im vierten Kapitel, das die Überschrift „Sensibilität im europäischen Kontext“ trägt, diskutiert Liebsch das Problem, wie sich „die Identität Europas“ deuten lässt, wenn man sie „als Resultat einer originären Europäisierung“ versteht, die „Antwort gibt auf eine unvorhergesehene und vielleicht unannehmbare Selbst-Fremdheit, die niemals in einer geheilten und wieder zu sich gekommenen Gegenwart“ eines „anderen, demokratischen Europa […] aufgehoben zu werden verspricht“ (352). Das fünfte Kapitel mit der Überschrift „Sensibilität vs. Versöhnung. Ein europäisches Versprechen“ enthält eine zum Teil zustimmende, zum Teil kritische Auseinandersetzung mit dem Geschichtsdenken Paul Ricœurs. Nietzsches Lob der „Gesundheit“ einer souveränen Freiheit im Umgang mit der Vergangenheit widersprechend, weist Liebsch darin auf eine dem so genannten freien Willen „unverfügbare Sensibilität“ hin, in der Menschen durch das, was Anderen widerfahren ist, getroffen und zu einer darauf antwortenden Verantwortung aufgerufen werden, ohne souverän über die Vergangenheit verfügen zu können, ohne in ihren Antworten aber auch deterministisch festgelegt zu sein.

Nach diesem Überblick zu den Kapiteln in Teil B soll das erste Kapitel „Sensibilität, Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit“ ein wenig ausführlicher vorgestellt werden (dieses Kapitel geht zurück auf einen Beitrag Liebschs zu dem von Alfred Schäfer herausgegebenen Band „Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit“. Paderborn 2007). Liebsch bemerkt darin, dass es auf eine Pluralität verschiedenartiger Fremdheiten zu achten gelte, wenn man nach dem Zusammenhang von kindlicher Fremdheit und pädagogischer Gerechtigkeit frage. Zunächst wendet er sich Georges-Arthur Goldschmidts autobiographischen Reflexionen in seinem Buch „Der bestrafte Narziß“ zu und betont, dass Goldschmidts Ausführungen die Pädagogik mit der Frage konfrontieren, wie man einem sich selbst, den Anderen und der Welt fremden Selbst beistehen kann, ohne diese mehrfache Fremdheit aufheben zu wollen, ohne das Kind in seiner Selbst-Fremdheit aber auch einfach sich selbst überlassen zu dürfen. In einem zweiten Schritt widmet Liebsch sich Jean Jacques Rousseau und dessen berühmtem Diktum „Wir kennen die Kindheit nicht“, um im Anschluss daran auf Maurice Merleau-Ponty einzugehen und zu zeigen, auf welche Weise dieser in seiner Auseinandersetzung mit Autoren wie etwa Jean Piaget versucht, kindlicher Fremdheit im Widerstand gegen eine „kompromisslos bejahte Rationalisierung und Dezentrierung eines ‚wilden Denkens’“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (254). Auch Levinas erfährt in diesem Kapitel Erwähnung. Ohne auf jene einzugehen, die sich Levinas und/oder Derrida in pädagogischen Kontexten gewidmet haben, oder zu erwähnen, dass er keine Gelegenheit hatte, ihre Überlegungen zur Kenntnis zu nehmen, bemerkt Liebsch, dass der Versuch, über den Zusammenhang von kindlicher Fremdheit und pädagogischer Gerechtigkeit auch „im Zeichen einer Ethik radikaler Fremdheit“ nachzudenken, „nicht auf den Abweg einer nur verbal radikalen pädagogischen Ethik führen“ dürfe, „die sich die Anbindung an politische Dimensionen des Zusammenlebens ersparte, in dem das Kindeswohl konkret auf dem Spiel steht und oft genug ruiniert wird“ (269).

Es ist Liebschs besonderes Verdienst, die „politischen Dimensionen des Zusammenlebens“ immer wieder neu in den Blick zu rücken und sie zwar nicht nur, aber auch im „Zeichen einer Ethik radikaler Fremdheit“ zu reflektieren. Sein Buch „Menschliche Sensibilität“ kann insbesondere den Erziehungswissenschaftler/inne/n und Studierenden empfohlen werden, die sich für die Themen der Alterität, der Gerechtigkeit und der Verantwortung und/oder für weiterführende Diskussionen von Begriffen wie „Anerkennung“ und „Widerstreit“ interessieren. Ebenso kann dieses Buch dazu anregen, in pädagogischen Kontexten über eine „Leidenschaft des Un-Möglichen“ und eine „Leidenschaft für das Un-Mögliche“ nachzudenken, auch unter gleichzeitiger Berücksichtigung der ebenfalls an Derrida anknüpfenden wichtigen Überlegungen Michael Wimmers zu diesem Themenfeld [3]. Zu bemängeln sind allerdings zuweilen doch sehr auffällige Redundanzen in beiden hier besprochenen Büchern von Liebsch, die bei der Lektüre stellenweise zu Ermüdungserscheinungen führen können.

[1] Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg, München 1987, S. 94f.
[2] Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik. Frankfurt a. M. 2002, S. 102
[3] Vgl. Michael Wimmer: Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik. Bielefeld 2006
Katharina Schmidt (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katharina Schmidt: Rezension von: Liebsch, Burkhard: Subtile Gewalt , Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit. Weilerswist: VelbrĂĽck 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978393880835.html