EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Ulrich Wiegmann
PĂ€dagogik und Staatssicherheit
Schule und Jugend in der Erziehungsideologie und -praxis des DDR-Geheimdienstes
Berlin: Metropol 2007
(376 S.; ISBN 978-3-938690-56-7; 24,00 EUR)
PĂ€dagogik und Staatssicherheit Aufbauend auf frĂŒhere Untersuchungen zum VerhĂ€ltnis von PĂ€dagogik, Geheimdienst und Herrschaft in der DDR beschĂ€ftigt sich die von Ulrich Wiegmann vorgelegte Studie mit der Einflussnahme des Ministeriums fĂŒr Staatssicherheit (MfS) auf die Sozialisationsbedingungen und die institutionalisierte Erziehung in der DDR. Die Forschung, die auf der Auswertung thematisch relevanter Archivalien der Gauck- bzw. Birthlerbehörde beruht, konzentriert sich schwerpunktmĂ€ĂŸig auf die Zeitspanne vom Beginn der 1960er Jahre bis zum Ende der DDR und ist im Kontext der Fachdiskurse zum Erziehungsstaat und zur totalitĂ€ren Herrschaftssicherung mittels PĂ€dagogik zu betrachten. Weil das Projekt des DDR-Sozialismus ein pĂ€dagogisch fundiertes war, dem erzieherisches Einwirken auf die Gesellschaft als faktisch einziges Medium zur Verwirklichung seiner historisch-gesellschaftlichen Visionen verfĂŒgbar war, muss auch das MfS als pĂ€dagogische Instanz vermutet werden. Dass es in dieser Funktion bisher kaum in den Fokus der Bildungshistoriographie gerĂŒckt war, verdankt sich auch dem Umstand, dass das MfS weder im Konzept der institutionalisierten PĂ€dagogik der DDR noch in seinem SelbstverstĂ€ndnis die Rolle einer Erziehungsinstitution wahrnahm oder seine Arbeit gar primĂ€r auf pĂ€dagogischen Überlegungen fußte.

LĂ€sst sich ein vager Zusammenhang zwischen PĂ€dagogik und Staatssicherheit noch relativ einfach begrĂŒnden, gestaltet sich die Analyse der Dimensionen des durch strukturelle und begriffliche Unklarheiten vernebelten erzieherischen Zugriffs des MfS auf die sozialistische Persönlichkeit, fĂŒr die sich der Bildungshistoriker Ulrich Wiegmann interessiert, weit schwieriger. In der Absicht, eine „bildungsgeschichtliche Gesamtsicht auf die Vergangenheit des Geheimdienstes zu bieten“ (11), fokussiert er zunĂ€chst die geheimdienstliche Beobachtung der ErziehungsaktivitĂ€ten des staatlichen Volksbildungssystems und der gesellschaftlichen Erziehungsinstanzen in Form von Wirkungsanalysen (149-287), die wiederum aufgrund der konstatierten UnzulĂ€nglichkeiten desselben eine MfS-eigene, konspirative pĂ€dagogische Praxis inspirierte und den Staatssicherheitsdienst an der Optimierung der institutionalisierten Erziehung arbeiten ließ. Zudem – und dies ist eine weitere Dimension – war der Staatssicherheitsdienst als Herrschaftsinstrument auch Sozialisationsbedingung fĂŒr die in der DDR Heranwachsenden. Wiegmann untersucht auf mehr als 350 Seiten sowohl Erziehungsideologie und –praxis der Staatssicherheit ĂŒber die Zeit des Bestehens der DDR als auch die Schwierigkeiten, das avisierte Erziehungsprojekt in die Tat umzusetzen. Der Leser erfĂ€hrt, und dies ist m. E. eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie, dass sich der Herrschaftsapparat der DDR mit dem quasi-pĂ€dagogischen Auftrag an das MfS einen strukturellen Widerspruch implementierte, wie er auch aus anderen Herrschaftssystemen mit totalitĂ€rem Anspruch bekannt ist: Der Erfolg und institutionelle Selbsterhalt der Staatssicherheit als pĂ€dagogischer Kontrollinstanz stand mit dem Misserfolg der DDR, auf pĂ€dagogischem Wege ihr historisches Ziel zu erreichen, in einem kausalen Zusammenhang.

Unter dem Stichwort „’Historisch-materialistische’ Erziehungsideologie“ betrachtet Ulrich Wiegmann zu Beginn der Studie (15-34) die in vielfacher Hinsicht widersprĂŒchliche Entwicklung der DDR-spezifischen Erziehungsdoktrin, die die theoretische Basis fĂŒr die AutoritĂ€t des MfS im Bereich von Erziehungsfragen darstellte. Praktisch fundiert war dessen ZustĂ€ndigkeit durch die Verantwortung fĂŒr eine staatlicherseits gewĂŒnschte störungsfreie Entwicklung der DDR-Jugendlichen in Richtung des herrschaftspolitisch gesetzten Ideals einer neuen sozialistischen Gesellschaft auf der Basis der propagierten ‚sozialistischen Persönlichkeit’. Grundbedingung solcher Entwicklung war eine „aufgeklĂ€rte Jugenderziehung“ – eine doppeldeutige Formulierung, die Ulrich Wiegmann sicherlich nicht ohne Ironie als Überschrift fĂŒr das zweite thematische Kapitel (35–69) setzt, gilt es doch, den Leser in eine Sicht von Erziehung per Überwachung einzufĂŒhren. Der herrschaftspolitisch gewĂŒnschten Beeinflussung der ErziehungsverhĂ€ltnisse ging in der Theorie die Vorstellung voraus, die ErziehungsverhĂ€ltnisse könnten erkannt und abgebildet werden. Diese Interpretation inspirierte ein sich seit der Mitte der sechziger Jahre zunehmend differenzierendes Berichtswesen ĂŒber die sicherheitspolitische Situation in der gesamten Jugendpopulation, welche schon allein aufgrund der eingenommenen Perspektive zum inneren Feind (40) avancierte. Dabei interessierten die wirklichen Ausmaße jugendlichen abweichenden Verhaltens und jugendlicher Opposition (sie waren verschwindend) weniger als die möglichen „gesellschaftspolitischen Effekte“, die die Potenz besaßen „exemplarisch die systemimmanente InstabilitĂ€t jenes staatlichen Kunstgebildes zu offenbaren“ (58). Das eigene bĂŒrokratische Überleben hing zudem davon ab, dass Situationskontrolle und pĂ€dagogisches Engagement glaubhaft begrĂŒndet werden konnten. Konsequent standen dann auch bei der Ursachenanalyse – trotz der vermuteten politisch-ideologischen Diversions-Offensive des Westens – die Erziehungsinstanzen der DDR: Familie, Staat und Gesellschaft im Mittelpunkt geheimdienstlicher Kritik. Es galt – und diese Forderung erging in erster Linie an die akademische PĂ€dagogik – „jene pĂ€dagogische Rezeptur“ zu finden, die „den idealen sozialistischen Menschen massenhaft zu erzeugen versprach“ (27).

Die nach dem Zweiten Weltkrieg neu formierte marxistisch-leninistische Erziehungswissenschaft hatte sich von Anfang an gegenĂŒber Instrumentalisierungsansinnen seitens des Staates offen gezeigt. Dass sie ihrer Lehre und Forschung die offizielle materialistische Erziehungslehre zugrunde legte, begrĂŒndete allerdings ein dauerhaftes Dilemma: Wenn sich die sozialistische Gesellschaft gesetzgemĂ€ĂŸ in Etappen auf ihren historischen Endzweck hinbewegte, dann war auch das sozialistische Bildungssystem vom jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstand notwendig abhĂ€ngig. PĂ€dagogische Anliegen hatten vor diesem Hintergrund nur eine sehr begrenzte Chance, denn funktionale Erziehung leistete auf der Grundlage der stalinistischen Deutung der marxschen Formel, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, per definitionem allein die sozialistische Wirklichkeit: Gesellschaft, Leben, Arbeit und Kampf fĂŒr den Sozialismus. Nicht also die akademischen PĂ€dagogen hielten primĂ€r den SchlĂŒssel zur Erziehung der ‚sozialistischen Persönlichkeit‘ in der Hand – sie wurden vielmehr auf das Feld der intentionalen Erziehung verwiesen –, sondern diejenigen Institutionen wie das MfS, bei denen ein gestalterischer Einfluss auf das ‚Sein‘ vermutet werden konnte. Durch diese Deutung des VerhĂ€ltnisses von RealitĂ€t und PĂ€dagogik lieferte die marxistisch-leninistische Erziehungswissenschaft ostdeutscher Provenienz der Idee der Schaffung des neuen Menschen durch geheimdienstliche Manipulation die theoretische Legitimation.

Der vermutete pĂ€dagogische Zusammenhang von Sein und Bewusstsein – und hier kann direkt im Anschluss das letzte Kapitel „Materialistische MfS-PĂ€dagogik“ (288ff.) gelesen werden – legte nicht nur die bestĂ€ndige Beobachtung und Erforschung der Interaktionen zwischen den Bedingungen und UmstĂ€nden des jugendlichen Heranwachsens und den konstatierten Erziehungsdefiziten nahe, sondern seit dem Beginn der 1960er Jahre auch eine psychologische Schulung der MfS-Mitarbeiter, die dazu dienen sollte, diese zu befĂ€higen, formend auf das Bewusstsein der Jugendlichen einzuwirken. WĂ€hrend dabei zunĂ€chst Pawlow und die Kybernetik die Perspektive beherrschten, bestimmte seit den 1970er Jahren der historisch-dialektische Materialismus die Sichtweise auf die Psyche: Diese sei Resultat der TĂ€tigkeitsprozesse eines Menschen vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der sozialen und natĂŒrlichen Umwelt. Die aus dieser Erkenntnis abgeleiteten LehrsĂ€tze wurden maßgeblich sowohl fĂŒr die Erziehung der eigenen Informellen und Gesellschaftlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit – ebenso Thema des Kapitels ĂŒber die „IM-Erziehung und –Ausbildung“ (71-148) – als auch fĂŒr die Erziehung durch diese. Wiegmann verweist auf den „ausgeprĂ€gten pĂ€dagogischen Optimismus“ (303), der die MfS-PĂ€dagogik seit 1961 charakterisiert habe: Nicht nur die EindĂ€mmung sicherheitspolitisch bedenklicher AktivitĂ€ten Jugendlicher war gewollt, sondern eine Neuausrichtung dieser Jugendlichen in die als positiv betrachtete Richtung. Allerdings begĂŒnstigte die Vorstellung von erfolgreicher Umerziehung – zunehmend wurden hier gruppensoziologische Erkenntnisse bemĂŒht – die Herausbildung eines sozialtechnologischen Instrumentariums der „Vorbeugung“ (308ff.) und „pĂ€dagogischen Zersetzung“ (320 ff.). Inwieweit die ĂŒber den Zeitverlauf verfeinerten Strategien der konspirativen MfS-PĂ€dagogik in ihrem Sinne hĂ€tten erfolgreich werden können, bleibt angesichts der Implosion des sozialistischen Systems eine nicht beantwortbare Frage. Dass sie es letztendlich nicht waren, dafĂŒr bieten die gescheiterten Versuche der ‚Resozialisierung‘ vermeintlicher Abweichler hinreichende Anhaltspunkte.

Wiegmann betont in seinem Ausblick, dass sich zwar die „Kontrollphantasie eines effizienten politisch-operativen Zusammenwirkens“ der politischen und gesellschaftlichen Partner der Staatssicherheit zu ihrem Leidwesen nicht verwirklichen ließ, dass sie fĂŒr die ĂŒber die Zeit des Bestehens der DDR von Repressionen Betroffenen aber auch „weit mehr als nur eine bedrohlich wirkende Vision war“ (353).

Die Studie Ulrich Wiegmanns bietet eine Pionierleistung fĂŒr die Historiographie von Erziehung und Bildung in der DDR. Der Autor untertreibt, wenn er einschrĂ€nkend bemerkt, dass „bestenfalls Konturen kenntlich“ und „manche Details sichtbar“ geworden seien. Der weiteren Auswertung des sukzessive aufzubereitenden Aktenbestandes der Birthler-Behörde wurde vielmehr ein schlĂŒssiges theoretisches Fundament gelegt, das es ermöglicht die ZusammenhĂ€nge zwischen sozialistischer Erziehungstheorie und den zu deren Umsetzung gebildeten Strukturen klar zu erkennen. Über das bildungsgeschichtliche Forschungsfeld hinaus verweist das Projekt von Ulrich Wiegmann auf die anhaltende Notwendigkeit des kritischen Nachdenkens ĂŒber die bis heute nicht nur in Deutschland hĂ€ufig geĂŒbte Praxis einer Ausrichtung von Bildung und Erziehung an anderen Zwecken als denen der AufklĂ€rung, ErmĂ€chtigung und Emanzipation des Individuums.
Sabine Dengel (Bonn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Dengel: Rezension von: Wiegmann, Ulrich: PĂ€dagogik und Staatssicherheit, Schule und Jugend in der Erziehungsideologie und -praxis des DDR-Geheimdienstes. Berlin: Metropol 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978393869056.html