- das Scheitern männlicher Schüler im deutschen Bildungssystem
- ihre quantitative Dominanz in Förderschulen und Erziehungshilfeschulen
- die Bedeutung der Gender-Kategorie für die Sonder(-schul)pädagogik
- den Stellenwert psychoanalytischer Pädagogik als Reflexionsgrundlage schulischer Praxis.
Ihrer Kritik am sonderpädagogischen Forschungsstand zur Geschlechterforschung ist allerdings nur mit Einschränkungen zuzustimmen; denn schon seit Mitte der 1990er Jahre hat sich diese Thematik in Forschung und Lehre weitgehend etabliert. Dies zeigt sowohl die 33. Tagung der DozentInnen der Sektion Sonderpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, die 1996 an der Universität Bremen zum Thema „Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. Subjekt/Objekt-Verhältnisse in Wissenschaft und Praxis“ tagte wie auch Veröffentlichungen zu Fragen der Geschlechterdifferenz in den beiden Förderschwerpunkten Lernen und Verhalten (bspw. bei Joachim Schroeder und Birgit Warzecha).
Frau Hoffmann greift im zweiten Kapitel den Wandel männlicher Identitätsentwicklung auf (98ff.) und orientiert sich dabei u.a. an der Theorie Robert W. Connells über hegemoniale Männlichkeit. Es gelingt ihr hier überzeugend, das Risikopotential männlicher Identitätsentwicklung unter den Bedingungen materieller Ungleichheit prägnant zu veranschaulichen. Der Autorin muss allerdings da widersprochen werden, wo sie behauptet, dass soziale Ungleichheit seit den 1980er Jahren kein zentrales Thema der Sonderpädagogik sei (148). Gerade die Vertreter des Förderschwerpunktes Lernen (exemplarisch seien Hans Wocken, Joachim Schroeder, Gottfried Hiller genannt) haben immer wieder den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Benachteiligung und Sonderbeschulung ins Zentrum ihrer Forschungsarbeiten gerückt.
Die institutionellen Bedingungen pädagogischer Arbeit an deutschen Schulen werden im dritten Kapitel untersucht (149ff.). Nach einer historischen Rekonstruktion des deutschen Bildungssystems samt seiner Ausdifferenzierung der spezifischen Sonderschulformen für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen und/oder Lernbehinderung sowie einer gelungenen Analyse der schulischen Sozialisation in der Grundschule charakterisiert Frau Hoffmann die Sonderschule als „Residuum des ständisch orientierten Schulsystems vergangener Jahrhunderte“ (148). Ihre profunde Kritik an den bestehenden integrativen Beschulungskonzepten für SchülerInnen mit Förderbedarf im Lernen und/oder Verhalten (202ff.) mündet in eine zutreffende Kritik der LehrerInnenbildung (209).
Der Autorin zufolge bedarf die derzeitige akademische Ausbildung von RegelschullehrerInnen einer behindertenpädagogischen Grundorientierung. An diese pointierte Forderung knüpft das vierte Kapitel an, das den Möglichkeiten einer subjektorientierten, Geschlechterrollen reflektierenden Schulpädagogik mit lern- und verhaltensauffälligen Jungen gewidmet ist (214ff.). Anhand von vier Fallbeispielen – Lucien, Ismet, Stefan und Tom – will die Autorin die Kluft zwischen pädagogischer Praxis und pädagogischer Theorie überwinden (19). Die Reflexion der Fallbeispiele erreicht allerdings nicht immer das hohe Niveau der theoretischen Vorarbeiten.
In der Zusammenfassung ihrer Studie (263ff.) kristallisieren sich drei zentrale Risikofaktoren für das Scheitern männlicher Schüler im deutschen Schulsystem heraus:
- Psychische Belastung aufgrund von Familienkonflikten;
- Scheitern an den Leitlinien des vorherrschenden Männlichkeitskonzepts;
- Auslese und Selektion im deutschen Schulsystem.
Die im Jahre 2006 veröffentlichte Dissertation ist hoch engagiert und mit großer Detailkenntnis der einschlägigen Literatur verfasst. Manche hier kritisch gewürdigten Aspekte sind zu relativieren, wenn der reale Ausgangspunkt und die Motivation für diese Studie in den Blick genommen werden: Frau Hoffmann war von 1998 bis 2000 als Klassenlehrerin verantwortlich für männliche Grundstufenschüler an einer saarländischen Halbtagsschule für Erziehungshilfe – unter Rahmenbedingungen, die sich durch chronischen Raum- und Personalmangel auszeichneten (220). Diese Sonderschule hatte in der Region das Stigma, Endstation einer Schulkarriere zu sein (221).
Die wissenschaftstheoretische Reflexion der Gender-Kategorie auf der Grundlage der Psychoanalytischen Pädagogik und die Analyse bildungspolitischer Ideologien im Kontext von Segregation und latenter Ghettoisierung einer bestimmten Gruppe männlicher Schüler sind nicht nur besondere Forschungsleistungen; ihr uneingeschränkter Gewinn – auch als wünschenswerte Grundlagenlektüre in der LehrerInnenbildung – liegt in der Verschränkung zentraler Theoriebezüge, die nicht nur für die beiden Förderschwerpunkte Lernen und Verhalten von zentraler Bedeutung sind. Gerade für Studierende im Lehramtsstudium bietet diese Veröffentlichung eine Fülle von Anregungen, sich mit ihrem zukünftigen Praxisfeld Schule intensiv auseinanderzusetzen. Es gibt nämlich – nicht nur im Saarland – viele Luciens, Ismets, Stefans und Toms!