Der regionalgeschichtlich ausgerichtete Beitrag zur Bildungsforschung verfolgt das Anliegen, die für das 18. und 19. Jahrhundert vielfach formulierte Defizithypothese der preußischen Elementarschulreform in Frage zu stellen (10f). Dabei kann für die Provinz Brandenburg auf einen bisher kaum beachteten Aktenbestand zurückgegriffen werden, dessen Aufarbeitung das Verhältnis von Pädagogik und Politik sowie das Zusammenwirken von Schulmännern und Geistlichen in ihren Auswirkungen auf die Erneuerung von Schule und Unterricht thematisiert, zu deren Kennzeichnung üblicherweise der Begriff der „Modernisierung“ genutzt wird. Er erlaubt es, politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen zur Deutung von bildungspolitischen Entwicklungen heranzuziehen und die ihnen immanenten Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozesse gesamtgesellschaftlich zu interpretieren. Insofern versteht sich das Vorgehen als sozial- und bildungshistorischer Ansatz, der sowohl den Blick auf die Organisationsentwicklung des Elementarschulwesens als auch auf die Vorbereitung für den in ihm auszuübenden Lehrberuf fokussiert. In dieser Interpretation von einer linearen Entwicklung des Neuen auszugehen wäre jedoch kurzschlüssig und hieße, die Vermischung traditioneller und moderner Elemente in ihrer unübersehbaren reformerischen Wirkung zu ignorieren. Die Revision tradierter Annahmen erweist sich daher als ein wesentliches Moment der vorliegenden historischen Aufarbeitung.
Entgegen der häufig formulierten Annahme, dass die Etablierung einer staatlichen Schulaufsicht vorrangig eine politische Kontrollfunktion zum Ziel habe und sie der Disziplinierung der Lehrer und Prediger diene, diskutiert Scholz mit seinem Zugang neue Aspekte des Zusammenwirkens der staatlichen Reformbeamten mit der ländlichen Geistlichkeit. Gegenstand der Analyse sind vor allem die sich unter dem Reformbeamten Ludwig Natorp (1774-1846) in Brandenburg-Preußen herausbildenden methodologischen Zirkel, die Lesegesellschaften und Schullehrerkonferenzen, die als wesentlicher, jedoch kaum erforschter Beitrag zu einem Gelingen der Bildungsreform eingeschätzt werden: „Ihr Stellenwert als systematische Aus- und Fortbildungseinrichtungen ist bisher noch kaum genug gewürdigt worden“ (16). Zur Aufarbeitung dieser Forschungslücke wird die Lehrervereinstätigkeit in der Kurmark im Rahmen der Studie durch eine Skizzierung der Entwicklung des niederen Landschulwesens sowie die sie vorantreibenden Protagonisten flankiert.
Anknüpfend an die Vorreformen des sogenannten „pädagogischen“ Jahrhunderts wird (im zweiten Kapitel) das anfangs geringe Entwicklungspotenzial der Elementarschule vorrangig mit der ihr zunächst fehlenden gesellschaftlichen Funktion begründet und das Einsetzen staatlich gelenkter Reformen mit den sich in Folge der preußischen Kriegsniederlagen im 19. Jahrhundert geweckten Bildungsaspirationen in Zusammenhang gebracht. Der Verfasser vertritt hier die Auffassung, dass die durch die Staatsmänner – insbesondere Wilhelm von Humboldt – eingeleitete Elementarschulreform aufgrund ihrer vielfältigen und regional differenten Umsetzungen durch praktizierende Schulmänner und Geistliche nachhaltiger war und zeitnaher erfolgte, als dieses bisher in der Literatur angenommen wurde. Insbesondere wird die These vertreten, dass das „lokale Schulmilieu und besonders jene mit volksaufklärerischen Ambitionen tätigen Pfarrer, ... effektiver und ... strukturell wirksam hauptsächlich dort in Erscheinung (traten), wo sie Koordination und Rückhalt durch staatliche Behörden erfuhren“ (39). In diesem Kontext wird die Berufung Ludwig Natorps zum Oberkonsistorial- und Schulrat sowie die von ihm forcierte Vernetzung der zentralen Schulverwaltung mit dezentral agierenden Multiplikatoren als Impuls für die in Brandenburg-Preußen auf lokaler Ebene vorangetriebene Schulreform gesehen. „Die bildungsgeschichtliche Forschung hat die Vorgänge auf dieser Ebene noch nicht weit genug erforscht, um gerade über die eigenständige Arbeit der Schuldeputationen bei den Provinzialregierungen zuverlässige Aussagen treffen zu können“ (47) reklamiert Scholz, indem er auf die reformerische Relevanz provinzialer Entscheidungen verweist.
Zu Natorps Aufgaben (das zeigt das dritte Kapitel) gehörte einerseits die (Neu-)Gestaltung des kurmärkischen niederen Schulwesens, andererseits die „Projektierung einer seminaristischen Bildung für Volksschullehrer“ (63). Entgegen der mit dem Zellerschen Normalinstitut in Königsberg realisierten Vorstellung, ausgewählte Schüler zu Lehrern auszubilden, favorisierte Natorp die Idee, bereits praktizierende Lehrer in Seminaren durch Prediger fortzubilden, so dass sich sein Engagement darauf richtete, die Geistlichkeit für das staatlich gelenkte Bildungsvorhaben zu gewinnen – ein Unterfangen, mit dem das spannungsreiche Verhältnis von Staat und Kirche samt den ihnen zugesprochenen Verantwortungsbereichen neu zu definieren ist.
Mit seiner Dokumentenanalyse kann Scholz (im vierten Kapitel) zeigen, dass die Institutionalisierung der Lehrerbildung dort positiv verläuft, wo Kirchen- und Schulinspektoren zusammenarbeiten und es gelingt, den geistigen Austausch auf der Grundlage pädagogischer Schriften anzuregen. Aufgrund des umfangreichen und akribisch ausgewerteten Quellenbestandes ist es Scholz möglich, die Institutionalisierung der Lehrerbildung weiter zu spezifizieren: Während die „methodologischen Lehrkurse“ eine dyadische oder auf mehrere Lehrkräfte eines Einzugsbereiches ausgerichtete „privatunterrichtliche Belehrung des Schullehrers durch den Geistlichen“ (125) darstellten, die sich als wenig systematisierend erwiesen, und Lehrkräfte in „Nachhilfs-“ und „Schulmeisterschulen“, „überwiegend bloß instruktiv über stark strukturierte Vermittlungs- und Aneignungsprozesse belehrt wurden“ (135), bildeten die „Schullehrerkonferenzen“ die entscheidende Plattform für den Gedankenaustausch zwischen Predigern und Schullehrern. Sie trugen nach Ansicht des Verfassers zur Professionalisierung der Lehrkräfte sowie einer „statusmäßige(n) und habituelle(n) Angleichung der Elementarschullehrer an bürgerliche Gruppen“ (152) bei, da das Agieren der Geistlichkeit und der Schulaufsicht offensichtlich von einem gemeinsamen Interesse getragen wurde. Als Indiz gilt die Errichtung kleinerer Lehrerseminare, die neben dem Potsdamer Lehrerseminar eine nachweislich beachtliche Breitenwirkung erzielten.
Abschließend werden (mit dem fünften Kapitel) überblicksartig organisatorische Aspekte herangezogen, um den Erfolg der Bildungsreform abwägend zu bestimmen, wobei Schulbesuchszahlen, Schulgeldfragen, Schulbaufinanzierungen und didaktische Umsetzungen als Einzelaspekte benannt werden, ohne sie allerdings im Kontext ihrer aus der staatlichen Kulturhoheit resultierenden Problematik zu diskutieren. Diese erwächst im Wesentlichen aus dem lokal differenten Bemühen aller am Prozess Beteiligten (neben der Geistlichkeit sind das insbesondere die Kommunen, Großgrundbesitzer und Eltern) um eine Qualitätsverbesserung, so dass sich hinsichtlich der Professionalisierung aufgrund der vielfältigen Ausbildungsmerkmale, der Vergabe spezifischer Lehrbefugnisse sowie unterschiedlicher Besoldungshöhe eine Ausdifferenzierung der Lehrertypologien verschärft, deren Profilbildungen in entscheidendem Maße durch die Qualität der Lehrerbildungsanstalten mitbestimmt wird.
Als Fazit bleibt eine revidierte Auffassung hinsichtlich des Zusammenwirkens von Staat und Kirche, das in der Bildungsgeschichte häufig als ein hierarchisches, zuweilen disziplinierendes Verhältnis gedeutet, für das regional brandenburgische Terrain jedoch als ein die Bildungsinnovationen förderndes Verhältnis beschrieben wird. Resümierend stellt Scholz fest: „Das Kontroll- und Vorgesetztenverhältnis des Predigers gegenüber dem Lehrer als Entwicklungsbremse der pädagogischen Profession zu interpretieren, greift zu kurz. Ganz im Gegenteil stellte die geistliche Schulaufsicht das Hauptinstrument dar, die politischen Entscheidungen mit den Prozessen der Schulentwicklung auf lokaler Ebene in Einklang zu bringen“ (208).
Am Ende der Analyse wird mit dieser Feststellung eine neue, auf beeindruckender Recherche beruhende Bewertung des Reformwerkes vorgenommen, die bisher wenig beachtete Professionalisierungsantriebe mit zahlreichen Einzelaspekten belegt, ohne Reformverhinderungen zu unterschlagen. Auch wenn Professionskonzepte lediglich angedeutet, nicht aber zur metatheoretischen Fundierung herangezogen werden (19f), ist es das ausgewiesene Verdienst des Verfassers, auf der Basis des im vierten – und zentralen – Kapitel der Publikation ausgewiesenen Quellenbestands ergänzend zur bisherigen Forschungslage die im Professionalisierungsprozess des 19. Jahrhunderts erkennbare Außenlenkung exemplarisch für eine preußische Provinz nachgewiesen und in ihren positiven Effekten betont zu haben. Scholz stützt damit die Annahme, dass das Auftreten von „Diskontinuitäten“ ein typisches Phänomen der preußischen Bildungspolitik ist. Damit sind Abweichungen jenseits des Zentralisierungsgedankens gemeint, die aus regionalen Erfordernissen des 19. Jahrhundert erwachsen und auf unterschiedlichen Ebenen zu lokalen Modifikationen gesamtstaatlicher Regelungen führen. Sie gilt es zu beachten, wenn das bildungspolitische Reformwerk in seiner ganzen Breite sichtbar werden soll.
EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)
Die Lehrer leuchten wie die hellen Sterne
Landschulreform und Elementarlehrerbildung in Brandenburg-PreuĂźen
Bremen: edition lumière 2011
(266 S.; ISBN 978-3-934686-86-1; 39,80 EUR)
Renate Hinz (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Renate Hinz: Rezension von: Scholz, Joachim: Die Lehrer leuchten wie die hellen Sterne, Landschulreform und Elementarlehrerbildung in Brandenburg-PreuĂźen. Bremen: edition lumière 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978393468686.html
Renate Hinz: Rezension von: Scholz, Joachim: Die Lehrer leuchten wie die hellen Sterne, Landschulreform und Elementarlehrerbildung in Brandenburg-PreuĂźen. Bremen: edition lumière 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978393468686.html