Die Frage nach dem Umgang mit schulversagenden Kindern und Jugendlichen ist ein Dauerthema der Erziehungswissenschaften, jedoch erhält die Diskussion um Separation und Integration von förderbedürftigen Schülerinnen und Schülern weitaus weniger öffentliche Aufmerksamkeit als beispielsweise die aktuell viel diskutierten Ergebnisse international vergleichender Lernleistungsstudien oder Kompetenzfeststellungsverfahren. Dies ist umso erstaunlicher, als die politisch und wissenschaftlich neu entfachte Debatte um Ungleichheit im Bildungssystem das Thema einer gerechten Verteilung von Zugangschancen einschließt. Dabei wird jedoch die institutionelle Separation bestimmter Schülergruppen als Ursache für eingeschränkte Chancengleichheit innerhalb des Bildungssystems häufig übersehen. Mit ihrer Studie nimmt sich Priska Sieber der Problematik der Aussonderung von schulversagenden Kindern und Jugendlichen aus der Regelklasse bzw. Regelschule an und untersucht, welche rechtlichen, institutionellen und organisatorischen Hintergründe der Institution Schule eine separate Beschulung einer steigenden Anzahl von Kindern legitimieren.
Am Beispiel der Zuweisungsverfahren von Schülerinnen und Schülern in Sonder- und Kleinklassen des Kantons Aargau beschreibt Sieber das Bildungswesen als „verantwortlichen Gestalter“ (37) schulischer Separation in der Schweiz. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Frage danach, weshalb die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Sonderklassen trotz Einführung integrativer Schulformen in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen hat.
Siebers empirische Studie wird mit einem ausführlichen theoretischen Teil vorbereitet, in dem grundlegende Aufgaben des Bildungswesens system- und strukturtheoretisch dargelegt werden: „Das Bildungssystem hat die Funktion zu erfüllen, die nachwachsende Generation zu erziehen und zu selektionieren und zwar nach rationalen Gesichtspunkten, d.h. ohne Ansehen der Person, nach sachlichen Merkmalen und mittels berechenbarer Verfahren“ (49). Das im schulischen Kontext wirksame Leistungsprinzip wird durch eine normative Orientierung an Chancengerechtigkeit ergänzt. Diese ist jedoch nur bei gleicher oder ähnlicher Leistungsvoraussetzung aller Schüler tatsächlich gegeben. Die Schweiz (wie auch Deutschland) streben dabei schulpolitisch nach wie vor eine Homogenisierung der Leistungsvoraussetzung der Schüler an, indem primär in Jahrgangsklassen differenziert wird und eine zusätzliche sekundäre Differenzierung wirksam wird, indem „institutionelle Strukturen, die um den ‚normalen Klassenzug’ herum angesiedelt sind“ (55), eingerichtet werden.
Die strukturtheoretischen Erklärungen für die institutionelle Separation von leistungsnormabweichenden Schülern ergänzt die Autorin durch theoretische Überlegungen über die Handlungsorientierung der beteiligten Akteure. Sie beschreibt, wie der institutionelle Akt der Aussonderung durch Akteure gestaltet wird. Insbesondere die Rolle der Lehrer, Schulpsychologen und Schulpfleger für die interaktive Aushandlung der Zuweisung werden reflektiert. Sieber gelingt es über das Strukturationskonzept (Giddens), die makrotheoretische Sichtweise der Systemtheorie durch eine akteurstheoretische Perspektive auf der Mikroebene zu ergänzen. Dadurch ergibt sich für die Analyse eine Doppelperspektive sowohl auf Institutionen als auch auf Akteure. Die Dualität von Struktur und Handlung im schulischen Kontext wird mit dem Konzept des „institutionellen Akteurs“ (Fend) berücksichtigt und eröffnet eine spannende empirische Analyse der Organisationsstrukturen des Schweizer Bildungswesens und dem darin eingebetteten professionellen Handeln der spezifischen Experten.
Die rechtlichen und schulorganisatorischen Hintergründe der institutionellen Aussonderung schulversagender Schülerinnen und Schüler werden in einer Dokumentenanalyse für den Kanton Aargau an vielseitigem Material genau beschrieben. Eine methodologische Reflexion über den Stellenwert der unterschiedlichen Dokumente für die beteiligten Akteure wird leider nicht mitgeliefert. Dafür wird das komplexe Zusammenwirken der Träger der Schulen, d.h. der politischen Gemeinden, Schulpfleger, Schulräte oder Schulkommissionen, Bürger, Schulleiter und Lehrer sehr gut dargestellt und die Frage nach Steuerung und Eigendynamik der institutionellen Abläufe anschaulich gemacht.
Das Deutungsmuster der Lehrer, Schulpsychologen und der Schulverwaltung als Akteure im Prozess der institutionellen Aussonderung von Schülerinnen und Schülern wird anhand von Interviewmaterial rekonstruiert und trägt viel zur Erklärung des institutionellen Aussonderungsablaufs bei. Die Fallrekonstruktionen der verschiedenen Schulen bzw. Gemeinden zeigen auf, wie die Akteure als Gestalter der Zuweisungsprozesse innerhalb der Möglichkeiten und Restriktionen der institutionellen Arrangements handeln. Die Auswahl der Interviewpartner lief dabei methodisch kontrolliert über die Anzahl der existierenden Klein- und Sonderklassen und den Aussonderungsraten in den einzelnen Gemeinden. Es wurden Schulen mit hoher und geringer Anzahl von Zuweisungsverfahren und Migrantenanteil untersucht. Über eine daran angelehnte Typenbildung (Normalfälle, Optimalfälle etc.) sichert Sieber einen kontrastiven Überblick über die Rekonstruktion unterschiedlicher Deutungsmuster bei ähnlichen institutionellen Voraussetzungen.
Insgesamt beschreibt die Studie das Bildungswesen als eine Konstellation, in der die beteiligten Akteure die Aussonderung von Kindern und Jugendlichen zu Sonderklassen frühzeitig in deren Lebenslauf aushandeln. Das alltägliche Handeln der Akteure folgt dabei nicht immer rationalen Gesichtpunkten, sondern verläuft vielmehr in Form von unreflektierten Routinen, so ein zentraler Befund der Studie. Als Ursachen des Anwachsens der Sonderklassenzahlen im Kanton Aargau konnten die engen normativen Vorgaben der Leistungserbringung, ausschließlich separativ angebotene Schulungs- und Stützmaßnahmen, eine mangelnde Kontrolle der Aussonderung und die zentrale Zuweisung von Ressourcen aufgrund von Pro-Kopf-Zuweisungen identifiziert werden.
Die Bearbeitung einer solch theoretisch wie empirisch anspruchsvollen Themenstellung im Rahmen einer Dissertation setzt eine ausgeprägte analytische Kompetenz und systematische Problembearbeitung voraus, die Sieber erfolgreich mit ihrem Buch dokumentiert. Die Studie zeichnet sich durch eine logische Struktur sowie eine präzise verständliche Sprache aus. Wünschenswert wäre eingangs jedoch eine internationale Einordnung der Sonderbeschulungsquote der Schweiz. Auch bleibt unbeantwortet, inwiefern es sich beim Anwachsen der Sonderschulklassen um einen generellen Effekt steigender Zuweisungsquoten handelt und auf welche Ursachen diese zurück zu führen sind.
Auf der Grundlage ihrer Befunde plädiert Sieber nicht für die Abschaffung von Sonderklassen, was die Sonderpädagogik ihres Gegenstands berauben würde, sondern fordert eine Selektion im Anschluss an den Volksschulabschluss. Damit würde die Aussonderung an das Ende einer möglichen „Schule für alle“ erfolgen und die Chancengerechtigkeit durch ähnlichere Lernvoraussetzungen erhöhen. Die Autorin hat nicht nur die für die Pädagogik interessante Frage der Steuerbarkeit von Aussonderung empirisch anschaulich belegt, sondern gibt Anregungen im interdisziplinären Kontext von Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft. Im Anschluss an PISA und „Bildung auf einen Blick“ (OECD) wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Integration und Separation durch ihre Studie weiter angestoßen. Dies ist angesichts von Bildungsreformdruck, demographischem Wandel und zunehmender internationaler wirtschaftlicher Verflechtung von großer Bedeutung.
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
Steuerung und Eigendynamik der Aussonderung
Vom Umgang des Bildungswesens mit Heterogenität
Band 13 der Reihe "ISP-Universität Zürich" des Instituts für Sonderpädagogik der Universität Zürich
Band 13 der Reihe "ISP-Universität Zürich" des Instituts für Sonderpädagogik der Universität Zürich
ZĂĽrich: SZH/CSPS 2006
(304 S.; ISBN 978-3-908262-73-2; 27,70 EUR)
Lisa Pfahl und Sandra J. Wagner (Göttingen und Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lisa Pfahl und Sandra J. Wagner: Rezension von: Sieber, Priska: Steuerung und Eigendynamik der Aussonderung, Vom Umgang des Bildungswesens mit Heterogenität Band 13 der Reihe "ISP-Universität ZĂĽrich" des Instituts fĂĽr Sonderpädagogik der Universität ZĂĽrich. ZĂĽrich: SZH/CSPS 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978390826273.html
Lisa Pfahl und Sandra J. Wagner: Rezension von: Sieber, Priska: Steuerung und Eigendynamik der Aussonderung, Vom Umgang des Bildungswesens mit Heterogenität Band 13 der Reihe "ISP-Universität ZĂĽrich" des Instituts fĂĽr Sonderpädagogik der Universität ZĂĽrich. ZĂĽrich: SZH/CSPS 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978390826273.html