EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Ulrike Haß / Nikolaus MĂŒller-Schöll (Hrsg.)
Was ist eine UniversitÀt?
Schlaglichter auf eine ruinierte Institution
Bielefeld: transcript 2008
(153 S.; ISBN 978-3-89942-907-7; 12,80 EUR)
Was ist eine UniversitĂ€t? Man sollte keine BĂŒcher rezensieren, die die eigene Geschichte thematisieren. Zu groß ist die Gefahr, sich von der Historisierung geschmeichelt zu fĂŒhlen oder von ihr verschreckt zu werden. Nikolaus MĂŒller-Schöll, einer der beiden Herausgeber, berichtet in seinem, dem letzten Beitrag: „So prĂ€gte sich der ‚Streik‘ genannte Protest im Hamburg des Jahres 1988 in öffentlichen Vorlesungen auf Straßen und PlĂ€tzen, in der Besetzung der UniversitĂ€tsgebĂ€ude, in zu Diskussionsrunden umfunktionierten ‚normalen‘ und parallel zum Betrieb veranstalteten ‚autonomen‘ Seminaren aus und mĂŒndete seiner greifbaren Erfolglosigkeit mit Blick auf die erklĂ€rten Ziele zum Trotz der Reformen, die fĂŒr die Jahre das alltĂ€gliche Bild von Forschung und Lehre prĂ€gten: Es war in solchen Momenten der Erinnerung an die Möglichkeit der Rebellion, dass neue Arbeits- und Organisationsformen, neue Arbeitsgebiete und neue AnsprĂŒche an die Professoren formuliert und im alltĂ€glichen Betrieb umgesetzt wurden“ (135). Ich, seinerzeit im Grundstudium und bei Besetzungen und autonomen Seminaren dabei, gewann eine Übernachtung mit FrĂŒhstĂŒck fĂŒr zwei Personen beim damaligen Sprecher des Fachbereichs Erziehungswissenschaften, Klaus-JĂŒrgen Tillmann, der mit Marianne Horstkemper und Johannes Bastian in einer WG in Uni-NĂ€he wohnte, und habe weniger pathetische oder kleinere Erinnerungen an die rebellischen Wochen. GeĂ€ndert hat sich viel: Aus dem Sprecher wurde wieder ein Dekan, der Fachbereich verschwand in einer FakultĂ€t, die alten StudiengĂ€nge gibt es nicht mehr, dafĂŒr gibt es eine Studienverwaltungssoftware namens Stine und vieles von dem, was die Wunschmaschinen produzierten, ist an heutigen UniversitĂ€ten undenkbar. Es handelt sich eben um eine „ruinierte Institution“, wie der Untertitel des Sammelbandes unmissverstĂ€ndlich erklĂ€rt. Er reiht sich an andere Bologna-kritische SammelbĂ€nde, weist ihnen gegenĂŒber aber auch einige Besonderheiten auf.

Insgesamt ist die Komposition – gerade als EinfĂŒhrung in das Thema – gelungen. Es kommen einige prominente Autoren zu Wort, zumeist Germanistinnen und Theaterwissenschaftler. Es gibt einige Übernahmen und Zweitverwertungen. Eröffnet wird der Reigen von Bernhard Waldenfels, der die UniversitĂ€t als Grenzort bestimmt, „wo die NormalitĂ€t des ordentlichen Lernens und Wissens ĂŒberschritten wird durch ein Übermaß das Außerordentlichen und Anormalen.“ (24) Der Beitrag hat auch Eingang gefunden in die Neuauflage von Grenzen der Normalisierung. Es folgt Gesine Schwan, die in ihrem Beitrag – ursprĂŒnglich ein Festvortrag bei der Studienstiftung – darauf hinweist, dass VerstĂ€ndigungsfĂ€higkeit auf der FĂ€higkeit zu verstehen beruht, und prognostiziert, dass sie sich als fĂŒr Demokratien unverzichtbare Zukunftskompetenz erweisen wird. Jochen Hörisch schreibt unter dem Titel Die ungeliebte UniversitĂ€t ĂŒber Formalisierung, Verschulung und Enterotisierung des UniversitĂ€tsbetriebs. Wer Die ungeliebte UniversitĂ€t, Hörischs Buch gleichen Titels, kennt, wird kaum neue Argumente und die eine oder andere Passage wieder finden. Das macht Hörischs Diagnosen nicht weniger interessant, so das Ausbleiben ödipaler KĂ€mpfe – warum wollen die guten jungen Köpfe die Ă€lteren immer seltener im Wettstreit um Wahrheiten schlagen? – und die Wohnortferne von Studierenden und Lehrenden als Indizien lahmenden Eros’. Marianne Schuller beschwört Die Eine Szene der Lehre im Umweg ĂŒber Brecht, Benjamin, Freud und Lacan und endet bei Jacques RanciĂšre, der Schillers Briefe Über die Ă€sthetische Erziehung wieder auffĂŒhrt und dabei modifiziert. Die Unmöglichkeit einer letztgĂŒltigen Trennung von Illusion und Wahrheit oder Wunsch und RealitĂ€t wird die neuen Strukturen immer wieder aufbrechen. Die Kontingenz bei dieser Arbeit zu unterstĂŒtzen, das hieße eine andere ZukĂŒnftigkeit offen zu halten.

Ursula Link-Heer dramatisiert die Wirkungen von CHE-Consult. Und so recht sie hat mit ihrer Kritik, so einseitig wirkt sie. Vergisst sie doch die vielen Professorinnen und Professoren, die versucht haben, im Bologna-Prozess ihre Position zu verbessern und wenig versprechen. Sie sind eben nicht nur Opfer eines „WĂŒrgegriffs“ – und schon gar nicht alle. Joachim Lege setzt mit berechtigter Kritik an der Akkreditierungsmaschinerie fort; und Winfried Menninghaus erklĂ€rt, warum sich Exzellenz aus Masse addiert. Die so genannte leistungsbezogene Mittelvergabe beruht auf LeistungsquantitĂ€ten und Mainstreambildung. Beides fördert weder OriginalitĂ€t noch Innovation. Richard MĂŒnch stellt diesen und Ă€hnliche ZusammenhĂ€nge in Globale Eliten, lokale AutoritĂ€ten. Bildung und Wissenschaft unter den Regimen von PISA, McKinsey & Co (2009) ausfĂŒhrlicher und fundierter dar.

Der Beitrag von Barbara Hahn, die seit Mitte der 1990er Jahre in den USA und dort an verschiedenen UniversitĂ€ten lehrt, eröffnet erhellende Einblicke in die uns vorgefĂŒhrten Paradise. Hahn beschreibt einen Mangel an Kriterien, der dazu fĂŒhre, das Seminare fun versprechen – identifizierte Adorno fun nicht schon als Stahlbad – und sexy genug angekĂŒndigt werden mĂŒssten. Vieles sei „morsch und hohl“ (92) in den gelobten Institutionen. Sehr lesenswert ist auch der Beitrag von Hans-Thies Lehmann, der zwei DiskussionsstrĂ€nge verknĂŒpft: die Fragen nach der Verantwortung reformscheuer und vorgeblich linker Hochschullehrer, die leicht ĂŒbersehen, dass Reform nötig war, und Verantwortung fĂŒr die Ă€sthetischen Dinge, die sich nur durch Verschwendung von Zeit und Verausgabung als Zeitverwendung, letztendlich immer bloß vorlĂ€ufig erschließen lassen.

Ulrike Haß schließlich erinnert daran, dass die großen GrĂŒndungen bĂŒrgerlicher Theater und von ReformuniversitĂ€ten in dieselbe Zeit fallen und beide von einer gesellschaftlichen Bewegung getragen waren. Diese gesellschaftliche Bewegung ist den UniversitĂ€ten, die sich in kontrollgesellschaftliche Einrichtungen verwandeln, abhanden gekommen. Sie beschreibt außerdem ein Generationenproblem, das im Delirium mĂŒndet. Aber nicht nur das Delirium vernichtet Diskurse, die selbst wieder tragfĂ€hig werden könnten, sondern auch die Organisation der gegenwĂ€rtigen UniversitĂ€t, an die zu glauben immer schwerer fĂ€llt. MĂŒller-Schöll leitet abschließend die Zukunft der UniversitĂ€t mit Hilfe Derridas aus ihrer Geschichte her und schließt so den Ring. Aus einer Ringvorlesung ist der Band hervorgegangen.
Olaf Sanders (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Olaf Sanders: Rezension von: Haß, Ulrike / MĂŒller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Was ist eine UniversitĂ€t?, Schlaglichter auf eine ruinierte Institution. Bielefeld: transcript 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389942907.html