An der Grenze stellt man nicht selten fest, dass es jenseits von ihr kaum anders aussieht als auf der eigenen Seite. Das scheint solange nicht weiter bemerkenswert, wie das, was sich ähnelt oder gleichbleibt, in seiner vermeintlichen Normalität keinen Unterschied macht. Das Interesse wird aber geweckt, wenn der Blick über die Grenze dazu führt, dass sich die Kriterien für das verschieben, was man für normal oder vernünftig hält. Geradezu beunruhigend kann es aber sein, wenn einem dieser Blick trotz aller logischen, methodischen und instrumentellen Anstrengungen immer wieder misslingt, man nicht erkennen kann, was das eigene Normale und das vermeintlich fremde, nicht normale Andere ist. Die Grenze verschwindet dann im Akt ihrer Bestimmung. Diesen beunruhigenden Eindruck vermittelt auch die Lektüre der Beiträge des vorliegenden Bandes, der allerdings gerade deshalb von Interesse ist, weil es eine produktive Beunruhigung ist.
Die Autoren des im Umkreis einer gleichnamigen Tagung entstandenen Bandes „Wahn, Wissen, Institution“ gehen aus verschiedenen disziplinären und professionellen Blickwinkeln dem Phänomen nach, dass die Grenzziehung zwischen den verschiedenen Formen legitimierten Wissens und den mindestens ebenso zahlreichen Ausprägungen des Wahns regelmäßig misslingt. Der Wahn entzieht sich dabei immer wieder den Versuchen, ihn zu definieren; denn er ist das, was sich nicht definieren lässt. Zugleich scheint jede Definition neue Formen des Wahns im Jenseits der so sorgfältig gezogenen Grenze hervorzubringen, weil sie eine Ordnung etabliert, die den Wahn zur Voraussetzung hat, indem sie ihm nicht entspricht. Folgerichtig führt jeder Versuch einer klaren Grenzziehung dazu, dass der Wahn nun auf beiden Seiten der sorgfältig getroffenen Unterscheidung zwischen Wissen und Wahn, Wahn und Vernunft vorkommt.
Dieser komplexen und schwierigen Problemlage tragen die Beiträge des Bandes insofern Rechnung, als eine einheitliche Definition dessen, was man unter Wahn verstehen könnte, unterbleibt. Auch ist die Heterogenität der disziplinären Zugänge und inhaltlichen Perspektiven eindeutig eine Stärke des vorliegenden Buches. Diese Vielfalt erlaubt es dem Leser, sich dem Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder auf andere Art zu nähern und sich auf diese Weise von der konstitutiven Bedeutung wahnhafter Sinnformen für die zumeist allzu selbstverständlich hingenommene Normalform jeder menschlichen Gesellschaft zu überzeugen, zu denen in der Gegenwart ganz besonders auch die Praktiken der Wissenschaft gehören.
So beschreibt Alfred Schäfer in seinem Beitrag „Die Sprache der Hörner“ am Beispiel der ritualisierten Formen der Versprachlichung der direkt nicht hör- und verstehbaren Stimme der Stammesgottheiten bei den Batemi in Nordtansania, wie in einer Stammesgesellschaft in einem aufwändigen Verfahren unbestimmte Formen der Transzendenz in autorisierte Formen diesseitiger sprachlicher Bestimmung überführt werden. Er verbindet dies mit einer instruktiven Reflexion auf die Bedingungen autoritativen Sprechens in den Gesellschaften der Gegenwart und der in diesem Zusammenhang spezifischen Rolle der Wissenschaft. Die Autorität zur Bestimmung des Unbestimmten muss auch hier durch komplexe kommunikative Praktiken vor dem Abgleiten in eben jenes Unbestimmte immer wieder neu gesichert werden.
Dem gar nicht so weit entfernten Phänomen, dass für das Gelingen psychoanalytischer Gesprächsformen eine Art künstlicher Psychose etabliert werden muss, geht Karl-Josef Pazzini in seinem Beitrag „Wahnhafte Momente im psychoanalytischen Setting“ nach. Er verbindet seine grundlegenden Überlegungen zu den wahnhaften Elementen der in jedem gelingenden psychoanalytischen Setting angelegten produktiven kommunikativen Unsicherheiten mit Hinweisen auf die wahnhaften Züge der gewissheitsfixierten Praktiken der Wissenschaft, deren gesellschaftsweite Verbreitung und Übertragung auch auf die Psychoanalyse nicht selten erst hervorbringt, was sie damit zu vermeiden sucht.
Das Oszillieren zwischen Wahn und Gewissheit in psychiatrischen Prozessen diskutiert auch Erich Wulff in seinem Beitrag „Wahn, Wissen und Gewissheit in Wittgensteins Spätwerk und die schizophrene Bodenlosigkeit“. Dabei geht er davon aus, dass es der Verlust jener Verankerung der Regeln eines Sprachspiels in der intersubjektiv geteilten Lebenswelt ist, die das Abgleiten des Kranken in das wahnhaft Bodenlose ermöglicht, dass aber auch im Wahn der Sinn einem Regelwerk entspringt, dessen Grammatik man lernen kann, weil sie denen normaler Sprachspiele ähnlich ist. Diese Einsicht eröffnet dem Psychiater die Möglichkeit, über spezifische Formen der Kommunikation ein neues intersubjektiv geteiltes Fundament zu legen.
Ambivalent ist weiterhin die Bedeutung des Wahns für die Ermöglichung, aber auch die Verhinderung von Bildungsprozessen, die Michael Wimmer in den Mittelpunkt seines Beitrags „Bildung und Wahn“ stellt. Seine kleine Typologie wahnhafter Momente versucht produktive von kontraproduktiven Formen des Wahns im Hinblick auf das Sprechen über und die Hervorrufung von Bildungsprozessen zu trennen – angesichts der doppelten Unbestimmtheit der Begriffe „Bildung“ und „Wahn“ ein schwieriges Unterfangen.
Clemens Pornschlegel hingegen nähert sich in „Und natürlich kann geschossen werden“ jenen wahnhaften Voraussetzungen, die zur Selbstermächtigung der Mitglieder der RAF geführt haben, über das Weiterleben und den Tod anderer Menschen zu entscheiden und bringt auf diese Weise die nicht selten dramatischen Effekte der Nähen zwischen Wahn und Politik ins Blickfeld. Geradezu alltäglich ist hingegen jene wahnhafte Praxis der Mode, der Elena Esposito in ihrer brillanten kleinen Studie „Mode ‚als rationaler Wahn’“ nachgeht. Es gelingt ihr dabei mit wenigen Strichen die enge Verbindung von Wahn und Rationalität im sozialen Verhalten der kollektiv als Individuen vorgestellten und sozialisierten modisch-modernen Subjekte aufzuzeigen, einer Moderne, für die spezifische Formen des Wahns offensichtlich konstitutiv sind.
Gegenüber diesen Beiträgen fällt der Text von Marianne Schuller „Wahn-Schreiben. Zu einem Fragment Nietzsches“ leider etwas ab – er bleibt argumentativ selber allzu fragmentarisch. Noch mehr gilt dies für Peter Gorsens Versuch, das ja nicht gerade selten bearbeitete Problem von Kunst und Wahnsinn am Beispiel des ambivalenten Verhältnisses von Dubuffet als Sammler von Werken der Art Brut und als Theoretiker und Künstler mit eigenem Anspruch näher zu beleuchten. Hier bleibt der Leser am Ende etwas ratlos zurück, warum man diesen Durchgang durch Leben und Werk Dubuffets jetzt eigentlich mitmachen musste.
Trotz dieser kleinen Einschränkungen handelt es sich um ein in weiten Teilen überaus lesenswertes Buch, gerade auch für Mitglieder einer sich selbst zumeist ausschließlich mit der Rationalität identifizierenden scientific community. Gerade der für die Wissenschaft scheinbar konstitutive Anspruch einer endgültigen Grenzziehung zwischen Wahn und Vernunft, kann, das zeigen die zahlreichen Beiträge des Bandes zur Genüge, in seiner Konsequenz jetzt selber als ein wahnhafter Zug erkennbar werden, jenes Wahns nämlich, alles, auch den Wahn selbst, endlich auf den Begriff bringen und somit in den Griff bekommen zu können.
EWR 8 (2009), Nr. 1 (Januar/Februar)
Wahn, Wissen, Institution II
Zum Problem einer Grenzziehung
Bielefeld: transcript 2007
(180 S.; ISBN 978-3-89942-575-8; 22,80 EUR)
Sebastian Manhart (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Manhart: Rezension von: Pazzini, Karl-Josef / Schuller, Marianne / Wimmer, Michael (Hg.): Wahn, Wissen, Institution II, Zum Problem einer Grenzziehung. Bielefeld: transcript 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389942575.html
Sebastian Manhart: Rezension von: Pazzini, Karl-Josef / Schuller, Marianne / Wimmer, Michael (Hg.): Wahn, Wissen, Institution II, Zum Problem einer Grenzziehung. Bielefeld: transcript 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389942575.html