Was heute vor allem öffentlich-medial unter dem Begriff der Ausbildungs(un)fähigkeit diskutiert wird, wurde ähnlich früher schon diskutiert: Die Kritik an der nachwachsenden Generation bleibt über große Zeiträume hinweg konstant. Ausgehend von diesem wenig überraschenden Befund macht Steffen Großkopf sich in pädagogischen Fachlexika von 1797 bis 2009 auf die Suche nach dem Entstehen fixierter Eingangsbedingungen und Standardisierungen für den Beruf. Er stellt „als basale Ausgangsfrage eine eher systemtheoretisch anmutende, nämlich: Wie wurde es möglich, über ‚Übergangsprobleme’ zu diskutieren?“ (19). Mit der überarbeiteten Fassung seiner 2010 angenommenen Dissertation legt er eine Studie vor, die nach Umdeutungen, Variationen und wechselnden Semantiken von Begriffen in diesem Themenfeld fragt.
Kapitel 1 bis 3 führen in Fragestellung, Stand der Literatur und Forschungsstrategie ein. Es handelt es sich um eine an Foucault orientierte Arbeit, deren drei Großkapitel zehn feingliedrig unterteilte Kapitel umfassen und mit „Sondierung“, „Geschichte“ und „Archäologie“ überschrieben sind. Großkopf spricht sich in der Konsequenz gegen eine „Methodisierbarkeit“ diskursanalytischen Vorgehens aus: Eine den oder die untersuchten Diskurse repräsentierende Korpuskonstruktion anhand vorab festgelegter Kriterien lehnt der Autor ab, weil damit „der Diskurs zu einem thematischen [wird]“ und „eine systematische Engführung erfolgt, welche die Möglichkeiten der Diskursanalyse unterminiert, mithin auf die einer Inhaltsanalyse reduziert“ (32).
Dies erstaunt, weil gerade der von Großkopf an dieser Stelle kritisch rezipierte Keller davon ausgeht, dass das zu konstruierende Korpus (Großkopf spricht durchgängig von „dem“ Korpus) im Sinne einer theoretischen Sättigung im Forschungsprozess ständig erweitert werden müsse, da nicht davon ausgegangen werden könne, dass ein textförmiges Dokument einen Diskurs vollständig abbildet. Diskursanalyse erscheint auch bei Keller als Forschungsperspektive, der keine Methode exklusiv zugeordnet ist. [1]
Für Großkopf ist Diskursanalyse vor allem „Methodenkritik bzw. philosophische Haltung“ (33). Dennoch stellt sich ihm das forschungspraktische Problem der Selektion großer Datenmengen. Diese beschreibt er folgerichtig nicht als methodisch geleitet, sondern als Entwicklung eines in einem „progressiv-regressiven Verfahren aus Versuch und Irrtum“ erschlossenen „analytisch-semantischen Begriffs-Rasters“ (34). Das so konstruierte und stetig bearbeitete Begriffsraster dient Großkopf als Stichwortgeber für eine Lemmaanalyse. Ergänzend zieht er weitere Literatur heran, um „der Gefahr [zu entgehen], Thema und Diskurs identisch zu behandeln und so Kontexte zu übersehen“ (37).
Wie aus den genannten Kriterien (z. B. Berufsorientierung/-wahl, Reife und Schulkritik) die im Anhang aufgeführten untersuchungsleitenden Einzelbegriffe (z. B. Markt, Masse, Mendel) konstruiert wurden, wird in einer Fußnote als „nicht weiter rationalisierbare Entscheidung, die nur über Semantik oder Aufmerksamkeit erregende Ungewöhnlichkeit, also hermeneutisch zu verstehen ist“ (34) beschrieben. Dass der untersuchte Diskurs so selbst zum Konstrukt des Forschers wird bzw. ein solches bleibt, ist Großkopf bewusst und wird im weiteren Argumentationsverlauf auch reflektiert.
Die Kapitel 4 und 5 bilden mit Abschnitten zu Konstruktion und Identifikation der beiden untersuchten Diskurse – einem ständischen (konservativen, der die Welt in einer vorgegebenen Ordnung deutet und am Organischen, Ganzen orientiert sei) und einem industriellen (progressiven, dynamischen, flexiblen, an der Leitkategorie System orientierten) – das Großkapitel „Geschichte“. Beide Diskurse seien bis heute mit Deutungsmacht ausgestattet, aber rückblickend im Zeitverlauf unterschiedlich wirkmächtig.
Als eigentliche Diskursanalyse können die umfangreichen Kapitel 6 bis 8 gelten, die gemeinsam die „Archäologie“ darstellen. Zunächst stellt Großkopf literaturgesättigt dar, wann die Diskurse sich verstärkt der Pädagogik bemächtigten. In Kapitel 8 folgt der Autor einzelnen Lemmata in den Lexika: Bildung, Beruf, Qualifikation, Kompetenz, Anlage, Begabung, Eignung, Fähigkeit und schließlich Ausbildungsreife und -fähigkeit (welches sich als Lemma erst ab 1995 zeigt).
Obschon sich der industrielle Diskurs im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erstmals in pädagogischen Begriffen und Methoden wirkmächtig zeigte, bleibe der ständische Diskurs lange dominant. Seine Orientierung an der ständisch-handwerklichen Leitkategorie des organischen Ganzen zeige sich u. a. im Bereich der Berufsbildung. Noch bis in die 1960er Jahre behält der Beruf seinen statischen Charakter im Zentrum der Persönlichkeit, Beruf als Begriff rekurriere „auf die ganzheitliche Verbindung von Mensch und Gemeinschaft“ (99). Erst ab den 1960ern Jahren beginne der industrielle Diskurs auch in der Pädagogik seine Deutungsmacht nachhaltig zu zeigen; die Semantik des Ganzen weiche einer Orientierung am System. Symptomatisch sei etwa das Erstarken einer empirischen Erziehungswissenschaft, auch wenn der ständische Diskurs in der Kritischen Erziehungswissenschaft weiterhin Macht beweise.
Auf einer fünften Kapitelebene finden sich vergleichende Lemmaanalysen, etwa zum Handwerksbegriff (125ff), ausführlich zu den Industrie-, Arbeits- und Fabrikschulen (130ff), zu Methode und Methodik (146ff), oder – durchaus aufschlussreich – zu Pädagogik und Erziehungswissenschaft (148ff, 170ff) und Bildung und Bildungsproduktion (211ff). Diese sind als Einzelanalysen insgesamt fruchtbar; das zeigt Großkopfs Analyse der Semantiken von Bildung: Im industriellen Diskurs wird das Subjekt zum Produkt der Umwelt, was Großkopf als „Veräußerlichung“ (103) bezeichnet. Den gleichen Übergang vom Inneren zum Äußeren macht Großkopf auch im Bildungsbegriff fest, der wegen seiner engen Kopplung an innere Prozesse „dem industriellen Diskurs verschlossen“ (103) und entsprechend durch andere Begriffe (z. B. Qualifikation) ersetzt worden sei. Mit der Etablierung des industriellen Diskurses wird Bildung umgedeutet in „eine nach wirtschaftlichem Bedarf herstellbare Größe“ (211). In den Lexika erscheinen deswegen ab den 1960er Jahren neue, dynamische Begabungskomposita (Begabungswandel, Begabungsreserve), Bildung werde weniger stark als Prozess unter inneren Bedingungen gedacht, sondern als eine Frage der technischen Umsetzung von Lehr-Lernprozessen.
Mit seiner Lemmaanalyse in Kapitel 8 zeigt Großkopf erneut die Erklärungsmacht der von ihm konstruierten Diskurse; Begriffskonjunkturen und wechselnde Semantiken können als „Tilgungsprozesse/-versuche“ (221) verstanden werden. Mit semantisch verknüpften Begriffsketten, die den Deutungsmachtgewinn des industriellen gegenüber dem ständischen Diskurs zeigen, nähert sich Großkopf in einer vertieften Lemmaanalyse dem Begriff der Ausbildungsfähigkeit. Das Lemma ‚Ausbildung’ selbst findet sich dabei in den Lexika zwischen 1883 und 1951 nicht (290), schließlich aber steht „Ausbildung [...] im industriellen Diskurs für die Arbeitswelt, ohne den Berufsbegriff zu benötigen. Dabei tilgt sie den semantischen Überschuss des Berufsbegriffs“ (294). Mit der Entkopplung von Fähigkeit und Anlagen und der semantischen Integration von Leistungsbereitschaft in den Begriff der Fähigkeit wird die Bedeutung aktiver; der Begriff der Ausbildungsfähigkeit schließlich „transportiert im Gegensatz zur Eignung semantisch einen Aufforderungscharakter“ (353) und legt seine Herstellbarkeit durch den Menschen nahe.
Die Kapitel 9 (Fazit) und 10 (Ausblick) schließen Großkopfs Analyse auf rund drei Seiten ab. Die im industriellen Diskurs eingesetzten Begriffe (Eignung, Fähigkeit, Kompetenz) seien abstrakter und kämen damit dem neuen Flexibilitätsanspruch eher nach, als die stärker mit Innerlichkeit argumentierenden, älteren Begriffe (Reife, Neigung), die dem menschlichen Zugriff entzogen schienen. Semantisch werde das Individuum verantwortlich für sein Versagen, denn: „Alles liegt in der Hand des Menschen.“ (383)
Großkopfs monographisch angelegte Studie ist insgesamt voraussetzungsreich und wirkt stellenweise etwas sperrig – auch wegen der sehr kleinteiligen Struktur mit fünf Kapitelebenen und Teilkapiteln, die mitunter sogar in Exkursen enden. Nicht an allen Stellen im Text ist der rote Faden erkennbar, für den Lesefluss und die Orientierung im Text wären deshalb Zwischenzusammenfassungen, konsequente Kürzungen, eine stringente Orientierung an der Fragestellung und die Argumentation unterstützende Abbildungen hilfreich gewesen.
Warum die Entscheidung fiel, die Autoren der einzelnen untersuchten Lemmata nicht zu zitieren, bleibt unklar. Nur vereinzelt weist Großkopf auf sie hin, zumeist, wenn es sich um bekanntere handelt. Warum außerdem zwei Lexika wegen mangelnder Verfügbarkeit (37) ausgeschlossen wurden, wiewohl beide in allen bzw. mehreren Bibliotheksverbünden vorhanden sind, ist ebenfalls nicht nachzuvollziehen.
Der Wert der Studie liegt in den Detailstudien zur Verwendungsgeschichte einzelner Begriffe, zu denen zwar bereits Literatur vorhanden ist, die Großkopf jedoch in ihrer Entwicklung und ihrer Akzeptanz im Mainstream der Disziplin empirisch gesättigt nachzeichnen kann. Großkopf erinnert daran, dass Begriffe einem starken Bedeutungswandel unterliegen und in unterschiedlichen Deutungsperspektiven (hier: ständisch und industrialisiert) verwendet werden; für zukünftige Begriffsanalysen ist die Vergegenwärtigung dieses Wandels nicht zu unterschätzen.
EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)
Industrialisierung der Pädagogik
Eine Diskursanalyse
Würzburg: Ergon-Verlag 2012
(449 S.; ISBN 978-3-89913-886-3; 58,00 EUR)
Anna Stisser (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna Stisser: Rezension von: Großkopf, Steffen: Industrialisierung der Pädagogik, Eine Diskursanalyse. Würzburg: Ergon-Verlag . In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389913886.html
Anna Stisser: Rezension von: Großkopf, Steffen: Industrialisierung der Pädagogik, Eine Diskursanalyse. Würzburg: Ergon-Verlag . In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389913886.html