EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Christian Rittelmeyer
Warum und wozu ästhetische Bildung?
Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick
Oberhausen: ATHENA-Verlag 2017
(124 Seiten; ISBN 978-3-89896-674-0; 20,00 EUR)
Warum und wozu ästhetische Bildung? Der Topos der ästhetischen Bildung scheint gegenwärtig nicht nur in politischen oder pädagogisch-praktischen, sondern noch immer in wissenschaftlichen Kontexten nichts an seiner Attraktivität eingebüßt zu haben. Der kulturelle und speziell der ästhetische Anteil diverser Bildungsprogramme wird dadurch verteidigt, dass durch ihn fast alles möglich sei: Dialog, Toleranz, Integration, Kreativität, Kritik und Authentizität. In der Wissenschaft betrachtet man jenes Theorem aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, methodischen Vorgehensweisen und heterogenen Motivlagen und ist zu Teilen darum bemüht, die genannten Versprechungen zu überprüfen, mit der empirischen ‚Realität‘ abzugleichen und theoretisch zu erfassen. Eine noch immer prominente Herangehensweise an diese Thematik ist die von Christian Rittelmeyer erstmals 2010 publizierte Studie zum Forschungsüberblick von Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten, welche mittlerweile in der dritten (unbearbeiteten) Auflage erschienen ist. Der Verfasser hat darüber hinaus in den letzten Jahren seine Veröffentlichungen zu diesem Thema stetig erweitert [1]. Es erscheint vor dem Hintergrund einer aktuellen kritischen Lektüre lohnenswert zu sein, das Buch Rittelmeyers in Hinsicht darauf zu lesen, welche Interessen mit welchen Methoden und theoretischen Setzungen eine empirische Forschung zu künstlerischen Transferwirkungen verfolgt.

Dass es in der Arbeit weniger um die Beantwortung der im Titel gestellten Fragen geht, macht schon das Vorwort Rittelmeyers deutlich: „Der folgende Bericht gibt einen Überblick über die sogenannte Transferforschung, d.h. über empirische Studien, die den Auswirkungen künstlerischer Bildung auf kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen Heranwachsender nachgehen“ (7). Hier könnte die Verwendung des Terminus künstlerische Bildung irritieren, ist doch im Untertitel der Buchüberschrift von künstlerischen Tätigkeiten die Rede. Dieser Unstimmigkeit vorbeugend verweist Rittelmeyer in der Einleitung auf den von ihm verwendeten weiten Bedeutungsrahmen, der die Begriffe „Ästhetische Bildung“, „Ästhetische Erziehung“, „Kunsterziehung“ oder „künstlerischer Unterricht“ synonym gebraucht (16). Dies ist teilweise verständlich, da die vom Autor besprochenen empirischen Studien nicht immer klar ihre Begriffsverwendung ausdifferenzieren. Zum anderen weist Rittelmeyer darauf hin, dass die von ihm analysierte Forschung noch durch andere Zugänge zu ergänzen wäre: etwa durch Strukturanalysen ästhetischer Bildung und Objekte, durch biografische Erfahrungen und vor allem durch Theorien ästhetischer Erfahrung, die vornehmlich auf begriffliche Fragen abzielen würden. Bei seinem Forschungsüberblick handelt es sich maßgeblich um eine Metastudie zu zahlreichen bereits vorliegenden Forschungsdesigns und -ergebnissen aus dem englischen und deutschen Sprachraum. Die Gliederung sowie die Fragestellung dieser Arbeit machen das deutlich: Letztere – mehr eine Diagnose zur Forschungslage als eine Fragestellung im eigentlichen Sinn – geht davon aus, dass es noch kaum einen umfassenden Forschungsüberblick zur empirischen Transferforschung gebe. Der Aufbau des Buches versucht dann das einzuholen, was als Mangel innerhalb der Forschung präsentiert worden ist: Neben dem Vorwort, der Einleitung und der Explikation des Gegenstandes sind es hauptsächlich die umfassenden Kapitel zur Transferwirkung der Musik sowie zum Kunstunterricht, zum Theaterspiel und zum Tanz, in denen Rittelmeyer die Ergebnisse, Forschungsdesigns, Fragestellungen und Grenzen der einzelnen empirischen Studien darstellt, analysiert und produktiv kritisiert.

Am Ende seines Überblicks wiederholt der Autor die Forderung nach einer Erweiterung der Transferforschung. Hier heißt es: „Geeignete Evaluierungsverfahren, die in dem hier beschriebenen umfassenderen Sinne biografische Quellen, Transferuntersuchungen, Strukturanalysen und ästhetische Theorien berücksichtigen, werden daher in Zukunft erforderlich. In einem solchen Zusammenhang erarbeitete Argumente werden, davon bin ich überzeugt, der ästhetischen Bildung jenes Gewicht verleihen, das ihr als gleichberechtigte Partnerin des ‚Sciences‘, aber auch als deren unerlässliche Propädeutik zukommt“ (121f.). Wären die Hauptfragen des Buches auf den Untertitel der Studie bezogen gewesen – also Warum und wozu empirische Transferforschung zu künstlerischen Tätigkeiten? –, man hätte hier eine eindeutige Antwort bekommen: Bewiesen worden ist, dass künstlerische Tätigkeiten auch Wirkungen auf kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen von Heranwachsenden zeigten. Mit der Hilfe und der Erweiterung der Transferforschung könnte zusätzlich bildungspolitisch eingefordert werden, dass bspw. künstlerische Schulfächer nicht von Haushaltseinsparungen o.Ä. betroffen sein sollten. So attraktiv und engagiert die Motivation eines solchen Forschungsüberblicks auch klingen mag, beim näheren Hinsehen könnte dieser Glanz etwas an seiner Strahlkraft einbüßen.

Neben den einzelnen Studien geben vor allem die Auswahl und die damit verbundenen Interessen Rittelmeyers einen guten Eindruck davon, was als Ziel der verschiedenen ästhetischen Erziehungsbemühungen (und der dazugehörigen Forschungsanliegen) anvisiert wird. Angestrebt seien positive und nutzenbringende Resultate für „Berufskarrieren und für die Meisterung von Alltagsaufgaben in modernen Industrie- und Informationsgesellschaften“ (14). Mittels zweier rhetorischer Fragen formuliert Rittelmeyer en passant auch sein hauptsächliches Forschungsinteresse: „Gibt es analoge Argumente [gemeint sind die nutzenbringenden Auswirkungen der PISA-Kompetenzen für Berufskarrieren, C.B.] auch für die ästhetische Bildung? Was lernen Heranwachsende z. B. durch das Theaterspielen oder durch die Teilnahme am Musikunterricht für ihre beruflichen Leistungsmöglichkeiten?“ (14). Mit den Ergebnissen der Überblicksdarstellung kann er die erste Frage implizit auch positiv, die zweite Frage ergänzend beantworten. Zwar räumt er ein, dass, mittels der schon erwähnten Erweiterung der Forschung, solche Prozesse höchst individuell und von den je unterschiedlichen Lebensvollzügen und -erfahrungen der einzelnen Akteure abhängig sind. Doch die bereits oben erwähnten Ergebnisse der Forschungen könnten den positiven Einfluss ästhetischer Bildung auf Transferwirkungen durchaus beweisen, und diesen somit gleichsam im Sinne diverser Kompetenzen für eine erfolgreiche Meisterung der leistungsorientierten Berufskarriere auch verteidigen.

Zusätzlich bemüht Rittelmeyer auch einen prominenten Klassiker der ästhetischen Bildung – Friedrich Schiller –, um die Argumente für die aus der Transferforschung gewonnenen Befunde zu verstärken. Der Autor wagt hier in Ansätzen eine Verschränkung von neurologischer Hirnforschung und der Ästhetik der Aufklärung – eine Verbindung, die durch ihren sprachlichen Stil mitunter ungewollt komisch wirkt. So bezeichnet er die längerfristige Aktivierung bestimmter Hirnareale und deren Leistungssteigerung durch ästhetische Erfahrungen als „dichterische Ausbildung der Hirnarchitektur“ (75), welche für die Verbesserung von mathematischen und künstlerischen Tätigkeiten genutzt werden könne. Deutlicher und expliziter in Bezug auf Schiller wird Rittelmeyer da, wo er die Erkenntnisse der sog. chronobiologischen und psychophysiologischen Forschung schon in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen [2] rudimentär angelegt sieht. Die „schmelzende“ oder „anspannende“ Kunst sei für je unterschiedliche Menschentypen von Vorteil, um Rhythmisierung und Harmonisierung, also ein „ausgeglichenes Menschsein erfahrbar“ zu machen (113). Rittelmeyer lädt darüber hinaus die Künste normativ insofern auf, als dass er eben diese Auswirkungen auf den Menschen als qualitative „Wesensmerkmale“ (106) verstanden wissen will. Neben den über die empirische Forschung nachgewiesenen Transfereffekten und deren Nutzen für die erfolgreiche Meisterung des Alltags und anspruchsvoller Berufskarrieren in der spätmodernen Gesellschaft wird die Kunst mit Schiller und der Hirnforschung von Rittelmeyer essentialisiert und zum harmoniestiftenden und beruhigenden Agens erzieherischer Bemühungen eingedampft.

So wird Schiller bei ihm als Chancengeber für kognitive, emotionale und soziale Kompetenzgewinnung mit der Autorität der Tradition herangezogen, um die unabänderlichen Wesenseigenschaften der Kunst in Bezug auf deren pädagogischen Gewinn festzuschreiben. Die impliziten Ziele der Studie sowie die normativen Setzungen der Untersuchung – orientiert an Berufskarriere, Meisterung des chaotischen Alltags und Besänftigung des Individuums in einer solche Bedürfnisse hervorrufenden Welt – haben dann, beim genaueren Hinschauen, wenig mit dem dereinst von Schiller konzipierten neuhumanistischen Bildungsversprechen zu tun. Sicher sah Schiller den historischen Ausweg der leidgeplagten, unfreien und zerstückelten Menschheit durch die pädagogische Hoffnung in die Kunst und die Schönheit vorgegeben. Gerichtet auf Transzendenz, also auf eine Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht, bewahrt das Rekurrieren auf das theoretische Erbe Schillers noch eine Spur des Utopischen. Die Verteidiger einer Kultur allerdings, die über Hirnforschung und bloße empirische Befunde mit Schillerzitaten gespickte Leistungspotentiale für eine Bewältigung des Alltags und des Berufslebens im Bestehenden als politisches Ziel einfordern, müssten sich wohl dem Vorwurf Schillers aussetzen, entgegen der menschlichen Freiheit den Trieb zur gesellschaftlichen Verbesserung nicht zu befördern, sondern den leidenden Gehorsam als alternativlosen Lebensentwurf zu präsentieren. Sie wären die Initiatoren von dichterischen Hirnarchitekturen, um deren Verdienst sie wohl kein an Schiller ernsthaft interessierter Theoretiker und Praktiker beneiden würde.

[1] Bspw. die folgenden Publikationen: Rittelmeyer, Christian (2016): Bildende Wirkungen ästhetischer Erfahrungen: Wie kann man sie erforschen? Eine Rahmentheorie. Weinheim: Beltz Juventa; Rittelmeyer, Christian (2014): Aisthesis: Zur Bedeutung von Körper-Resonanzen für die ästhetische Bildung. München: kopaed.
[2] Schiller, Friedrich (1962): Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, In: Wiese, Benno von (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe. Zwanzigster Band. Philosophische Schriften. Erster Teil. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 309–412, hier S. 320.
Clemens Bach (Jena / Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Clemens Bach: Rezension von: Rittelmeyer, Christian: Warum und wozu ästhetische Bildung?, Ãœber Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Oberhausen: ATHENA-Verlag 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389896674.html