Der Band „Bildung der Imagination“ vertieft fachdidaktische Forschung mit Grundlagentheorien des imaginären Lernens. Einleitend wird das argumentative Spannungsfeld der Vorstellungsbildung ambivalent beschrieben: Vorstellungen sind individuell und sozial konstruiert (11), die Einbildungskraft hat eine physische wie kulturelle Seite (12), Imagination sei poietisches Vorstellen wie vernehmendes Einbilden (13) und der Bezug zu anderen Vorstellungen könne resonant wie hermeneutisch (15) sein. Deutlich machen die Herausgeber, dass Vorstellungsbildung nicht auf Bildlichkeit beschränkt werden darf, weil die reduzierte didaktische Folge, die Lernsituationen mit Bildern anzureichern, gerade gegen eine Vorstellungsbildung arbeiten könnte.
Der über 600seitige Band untergliedert sich nach der Einleitung in 9 Kapitel. Das 2. Kapitel beschäftigt sich mit anthropologischen, philosophischen und pädagogischen Grundlagen. Das 3. Kapitel nimmt sich des Untertitels „Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen“ an. Danach wird die Vorstellungsbildung in verschiedenen Kontexten (u.a. Sprachdenken, Welterschließung, Mathematik, Religion) thematisiert.
Peter Fauser beginnt mit der Feststellung: „Ohne Vorstellung geht nichts“ (61). Er illustriert dies an Beispielen und fundiert es philosophisch, neurobiologisch und evolutionär anthropologisch (Tomasello). So plausibel sein „vorstellungstheoretisches Strukturmodell“ und das „Modell verständnisintensiven Lernens“ auch harmonieren und didaktisch nutzbar erscheinen, so suspekt, weil völlig kritiklos, erscheint die „Brücke“ des neurobiologischen Konstruktivismus (Roth) zwischen Philosophie (Kant, Arendt, Heidegger u.a.) und Lerntheorie. Wie erhellend es dagegen sein kann, wenn man sich auf eine theoretische Position beschränkt, zeigt Helmut Pape am semiotischen Pragmatismus von Peirce. Für seine Argumentation ist zentral, dass Vorstellungen nicht als starre Abbildungen in uns gedacht werden, sondern als relationales und prozessuales Handeln, um ihre Veränderung, d.h. Bildung zu ermöglichen.
Mit Anke Thyens Artikel empfiehlt sich das Buch anzufangen, denn hier bekommt man Lust mehr über Vorstellungsbildung zu erfahren. Zentral ist ihre einleuchtende Kritik daran, dass Vorstellungen überwiegend bildlich, d.h. visuell vorgestellt werden. Die fatale Folge dieses Missverständnisses für die Didaktik sei: Um Vorstellungen zu bilden, muss Unterricht anschaulich sein. Im Gegenteil, meint Thyen: Warum das Lamento gegen einen „verkopften“ Unterricht – Lernen passiere doch im Kopf (118). Und damit Lernen passiert, bedarf es der Irritation einer Vorstellung durch eine andere. Jochen Krautz teilt die Auffassung des Vorstellens als interpersonal-resonantes Beziehungs- und Handlungsgefüge und dekonstruiert, am Beispiel des Phantasiebegriffs in der Kunstpädagogik, die subjekttheoretische Annahme, Vorstellungen hat das Subjekt oder macht sie sich im inneren selbst.
Unter einer dezidiert bildungstheoretischen Perspektive betrachtet Malte Brinkmann die Übung der Imagination als praktische Entbildung (sic!) von Gewohnheiten und Einbildung von Neuen (152). Dabei greift er auf die „Geistlichen Übungen“ von Ignatius von Loyola zurück, um eine historische Fülle von Formen der Imaginationsübungen zu heben, die überraschend didaktisch konkret werden. Der Beitrag von Ulrich Heinen unternimmt ein ähnliches historisches Kunststück, wenn er vom 17. Jh. mit Sanderson (1658) erst auf die Antike und dann ins Heute blickt. Er zeigt wie tradierte Kunstlehre auf die Frage antwortet, ob und wenn ja inwiefern Vorstellungkraft der Übung zugänglich ist. Auch Jochen Schieren argumentiert mit Rudolf Steiners Blick auf Goethe dafür, dass die Vorstellungsbildung Praktiken des Fähigkeitserwerbs unterliegen. Steiner beziehe sich dabei auf Goethes Erkenntnisansatz, dass sinnliche Anschauung künstlerisch geübt werden könne. Hubert Sowa beendet das 2. Kapitel und kommt mit der Thematisierung kooperativer Vorstellungsbildung wieder im heutigen Unterrichtsgeschehen an. Didaktisches Können bestehe vor allem darin, über eine kommunikative Zielsetzung "gemeinsam teilbare Vorstellungen" (270) zu verstehen. Bildhandeln erfolge nicht im „innen“, sondern auf andere bezogen, so seine zentrale These.
Im 3. Kapitel „Bildliche Vorstellungsbildung“ verbindet Alexander Glas Blickbewegungen von Rezipienten mit ihrem sprachlich artikulierten Sinnverstehen. So faszinierend die Möglichkeit des Eye-Tracking-Systems auch ist, werden die Daten dennoch erst durch die konventionell erhobenen Sinnzuweisungen der Schüler bedeutsam. Constanze Kirchner setzt sich tiefenhermeneutisch mit Kinderzeichnungen auseinander, um auf ihre latenten Bedeutungen als Ausdruck unbewusster psychischer Prozesse aufmerksam zu machen. Didaktisch hat das zur Folge, dass zur Ausbildung von Imaginationsvermögen nicht Zeichenübungen nach der sichtbaren Wirklichkeit, sondern Symbolisierungsprozesse von Vorstellungsbildern aus Träumen, Wünschen und Visionen zu empfehlen sind. Zwar geht es Bettina Uhlig mit ihrer Fallstudie eines Imaginationsprofils um genau den von Kirchner skeptisch betrachteten Vorgang, der zeichnerischen Auseinandersetzung mit einer Bildvorlage, doch gelingt es ihr gerade damit eine Vorstellungsbildung konkret am Beispiel aufzuzeigen, weil sie interessante Differenzen aufzeigen kann zwischen Zeichnungen mit und ohne unmittelbare Anschauung. Monika Miller betrachtet die Entwicklung der Raumdarstellung in Kinderzeichnungen und fragt inwiefern Raum-Wahrnehmung, räumliche Imagination und die Konventionen etablierter Darstellungssysteme zusammenspielen. Gabriele Lieber hebt die Bedeutung der Bildliteralität in ästhetischen Lehr-Lernprozessen hervor. Indem Sie auf die Rolle der Sprache in Wahrnehmungs-, Imaginations- und Darstellungsprozessen aufmerksam macht, leitet sie zum nächsten Kapitel „Vorstellungsbildung und Sprachdenken“ über.
Die Kapitel- und Artikellänge nimmt im Vergleich zu den ersten drei stark ab. Die Fachdidaktiken werfen Spotlights auf die Vorstellungsbildung in ihren Kontexten. Im 4. Kapitel wird die Vorstellungsbildung in Zusammenhang mit Akten des Narrativen gesetzt: z.B. beim Lesen von Gedichten und Romanen, beim Formulieren von Texten, beim Betrachten eines Bilderbuchs und im Fremdsprachen- sowie bilingualem Unterricht. Wer sich konkret für Sprachdidaktik und die Verbindung von Imagination und Narration interessiert, sollte (und kann dies problemlos) dieses Buch mit einem konkreten Text aus diesem Kapitel beginnen und dann über die Einleitung des 4. Kapitels von Alexander Gals zu den Texten der Grundlagen übergehen.
Im 5. Kapitel zur „Vorstellungsbildung in der Sach- und Welterschließung“ sammeln sich Beispiele kindlichen Verstehens von Welt und naturwissenschaftlichen Phänomen. Bei kindlichen Erfahrungen mit Wasser, vorgestellten schlafenden Fischen, der Farbe von Kohlenstoffatomen, Visualisierungen im Physikunterricht, Subjektiven Kartographien und visueller Wahrnehmung in der Grundschule werden Verstehensprozesse im Zusammenhang mit Imaginationsbildung analysiert.
Es folgen auf den letzten 100 Seiten noch 5 kurze Kapitel zur mathematischen, körperlichen, geschichtlichen, religiösen und philosophischen Vorstellungsbildung. So philosophisch wie der Band begonnen hat endet er auch mit Anke Thyens „Gedankenlandkarten für den Philosophie- und Ethikunterricht“ (659). Die Methode des Kartographierens, die schon in dem Beitrag von Egbert Daum thematisiert wurde, erweist sich als plausibler Methoden-Trend in der Forschung zur Imaginationsbildung.
Der 2. Band „Bildung der Imagination“ ist für eine breite Leserschaft gedacht, von der Bildungsphilosophie bis zur Fachdidaktik, von Studierenden bis zu WissenschaftlerInnen und er überzeugt gerade durch die thematische Fokussierung auf Imagination, wobei die Vorstellung von „Bildung“ bis auf wenige Ausnahmen auf Lernen reduziert wird.
EWR 14 (2015), Nr. 5 (September/Oktober)
Bildung der Imagination
Band 2: Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen
Oberhausen: Athena 2014
(680 S.; ISBN 978-3-89896-554-5; 29,50 EUR)
Gabriele Weiß (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele Weiß: Rezension von: Sowa, Hubert / Glas, Alexander / Miller, Monika (Hg.): Bildung der Imagination, Band 2: Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen. Oberhausen: Athena 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389896554.html
Gabriele Weiß: Rezension von: Sowa, Hubert / Glas, Alexander / Miller, Monika (Hg.): Bildung der Imagination, Band 2: Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen. Oberhausen: Athena 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389896554.html