„Das Thema des Buches ist die Beziehung in der Pädagogik und Sonderpädagogik. Ich gehe das Thema vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Theorien sowie im Hinblick auf die beiden Komponenten ‚Fürsorglichkeit’ und ‚Konfrontation’ nach. Ich möchte einen Beitrag zur Theorie der Sonderpädagogik leisten, wobei ich die Bedeutung moderner psychoanalytischer Konzepte hervorhebe. Meine Ausführungen sollen helfen, von einer manchmal plakativen und undifferenzierten Betonung des Aspekts ‚Beziehung’ in der sonderpädagogischen Arbeit wegzukommen und eine fundierte Reflexion dessen zu ermöglichen, was in der schulischen und erzieherischen Arbeit mit sozial auffälligen Jugendlichen geschieht.“ So lautet ein zentraler Absatz der Einleitung, in dem Fitzgerald Crain selbst das Programm und den Anspruch seines Buches zusammenfasst.
Dieses Programm wird dann auf mehr als 350 Seiten in einer sehr gehaltvollen Art und Weise entfaltet. Beeindruckend ist dabei einerseits die differenzierte Vertrautheit des Autors mit all den unterschiedlichen Ausprägungen und Verzweigungen der psychoanalytischen Theoriebildung im 20. Jahrhundert, andererseits aber auch sein didaktisches Geschick, dem Leser dieses überaus komplexe Feld in einer Art und Weise zu präsentieren, dass sowohl die Unterschiede zwischen den einzelnen psychoanalytischen Positionen markant hervortreten als auch die von den unterschiedlichen psychoanalytischen Theorieansätzen jeweils abzuleitenden pädagogischen Sicht- und Handlungsweisen deutlich werden. Dabei wird insgesamt ein umfangreiches Panorama von psychoanalytischen Schulen, Ansätzen und Richtungen, das hier mit den Namen Freud, Aichhorn, Redl/Wineman, Hartman, Mahler, Spitz, Klein, Fromm, Winnicott, Kohut, Kernberg, Stern, Fonagy, Benjamin u.a. nur angedeutet werden kann, kenntnisreich entfaltet. Dies geschieht zudem auf eine Art und Weise, die die bisweilen etwas esoterische, metapsychologische Fachsprache der Originaltexte vermeidet und die zentralen Charakteristika in prägnanter, gut lesbarer und anschaulicher Sprache zusammenfasst.
Im Zentrum stehen dabei immer wieder die folgenden Fragen: Wie werden aus der jeweiligen Position die bedeutsamen Persönlichkeit prägenden Beziehungsprozesse in früher Kindheit beschrieben? Wo werden die typischen Klippen, Gefährdungen und Störungen jener sensiblen Entwicklungsprozesse gesehen? Und: Mit welchen intrapsychischen Strukturbildungen werden diese in Zusammenhang gebracht? Inwieweit führen diese früh geprägten problematischen intrapsychischen Strukturen dann wiederum zu typischen Formen der Bedürftigkeit, der Wahrnehmung, der Wahrnehmungsverzerrung, des Selbsterlebens und der Selbstpräsentation in späteren sozialen Kontexten? Wie müssen aus dieser Perspektive „förderliche Umwelten“, Beziehungsstrukturen in pädagogischen Einrichtungen gestaltet sein, damit sie die Chance dafür bieten, dass es nicht nur auf der Verhaltensebene zur situativen Anpassung und momentanen Reduktion von Problemverhalten kommt, sondern dass eine tatsächliche Veränderung der zugrunde liegenden psychischen Strukturen möglich wird?
Den Erfahrungshintergrund des Buches stellt dabei die mehr als 20-jährige Tätigkeit des Autors in einem Schulheim für sozial auffällige männliche Jugendliche zwischen zwölf und zwanzig Jahren dar. Ein Jugendlicher namens Kevin, der mit knapp 14 Jahren in das Schulheim eintrat und dann etwa fünf Jahre in der Einrichtung blieb, und der mit seinem einerseits aggressiven und provokativen, andererseits kleinkindhaft jammerndem, nervigem und maßlosem Verhalten für alle Mitarbeiter häufig „ein großes Fragezeichen“ darstellte, dient dabei als paradigmatischer Fall, auf den die unterschiedlichen psychoanalytischen Theorieansätze dann jeweils bezogen werden. An diesem konkreten Beispiel macht der Autor deutlich, welche spezifischen Aspekte in den unterschiedlichen psychoanalytischen Perspektiven jeweils besonders in den Horizont der Aufmerksamkeit rücken, welche Deutungen der Entwicklungsgeschichte, des Selbsterlebens und der unbewussten Handlungsmotive Kevins damit impliziert sind und welche pädagogischen Handlungsperspektiven damit jeweils nahe gelegt werden. Der „Fall Kevin“ wird also gewissermaßen durch die unterschiedlichen psychoanalytischen Positionen – klassische triebtheoretische Position, strukturtheoretische Position, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie, Theorie der Intersubjektivität – ‚durchdekliniert’.
Dabei wird deutlich, dass die unterschiedlichen Theorieansätze jeweils unterschiedliche hoch elaborierte „Deutungsbaukästen“ darstellen, um das, was sich in der frühkindlichen Lebens-, Beziehungs-, Phantasie-, Wunsch- und Verdrängungsgeschichte eines Menschen zugetragen hat, zu (re)konstruieren. Angesichts eines Jungen wie Kevin, der aufgrund der Schwierigkeiten, die er mit sich und seiner Umwelt hat, irgendwann in einer heilpädagogischen Einrichtung landet und dessen Entwicklungsgeschichte nur recht vage aus anamnetischen Elterngesprächen bekannt ist, steht freilich auch der psychoanalytisch versierte Pädagoge bzw. Erziehungsberater durchaus vor einer „paradoxen Situation“: „Wir wissen sehr viel im Allgemeinen und zugleich wenig Sicheres im besonderen Fall von Kevin“ (308). Von daher bleiben die Rekonstruktionen des konkreten „Dort und Damals“ der individuellen frühkindlichen Beziehungsgeschichten natürlich stets hochspekulativ.
Den unterschiedlichen psychoanalytischen Theorien über die für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung maßgeblichen inter- und intrapsychischen Prozesse, kommt nach Crain jedoch eine wichtige „heuristische Funktion“ zu. Sie stellen eine „notwendige Suchhilfe“ dar, die es den Personen, die mit Kevin arbeiten, erlauben, sich „das große Fragezeichen“, das Kevins Verhalten zunächst für sie darstellte, verständlicher zu machen, sich ein, wenn auch immer vorläufiges, so doch allmählich stimmigeres, kohärentes Bild davon zu machen, was diesen Jungen umtreibt.
Dabei stellt Crains Buch keineswegs nur eine distanzierte historische Überblicksdarstellung der pädagogisch relevanten psychoanalytischen Deutungsmuster dar. Das konstruktivistisch-relativistische Argument, „dass Theorien immer Konstruktionen von Wirklichkeit, dass sie niemals ‚wahr’ und deshalb beliebig wählbar“ seien (27), weist er klar zurück. Ausdrücklich bekennt er sich zu seiner Überzeugung „von der Gültigkeit einer modernen psychoanalytischen Theorie, ihrer empirischen Überprüfbarkeit und ihrer praktischen Relevanz“ (ebd.). Das bedeutet auch, dass er durchaus einen Erkenntnisfortschritt innerhalb der historischen Entwicklungslinie sieht, die er präsentiert.
Seine ganze Darstellung läuft sehr eindeutig auf eine „psychoanalytische Position der Intersubjektivität“ zu. In dieser Position, in der er zentrale Aspekte der Objektbeziehungstheorie und der Selbstpsychologie aufgehoben sieht, und die maßgeblich beeinflusst ist von den Ergebnissen der modernen Baby- und Kleinkindforschung, stellen die Bedürfnisse nach Selbstbehauptung und Anerkennung die zentralen Motivationskräfte des Menschen dar. Auch ältere, lange Zeit eher marginalisierte psychoanalytische Positionen, wie etwa Erich Fromms Lehre von den „existentiellen Bedürfnissen“ und vom Gegensatz zwischen „biophilen“ und „nekrophilen“ Grundstrebungen kommen darin plötzlich zu neuen Ehren.
Das im Prinzip optimistische anthropologische „Credo“ dieses Ansatzes wird an einer Stelle auf folgende Formel gebracht: „Die Theorie der Intersubjektivität geht von einem pluralistischen Motivationskonzept aus. Menschen möchten sich binden; dies ist ein primäres Bedürfnis und dient zugleich der Abwehr von Angst und Unsicherheit. Menschen möchten anerkannt werden. ... Menschen haben den Wunsch nach Gegenseitigkeit, sie möchten als einzigartig anerkannt werden und ihrerseits andere als einzigartig anerkennen. Menschen möchten sich selbst behaupten, sie möchten etwas bewirken. Sie möchten sich als eine kohärente und autonome Person empfinden und als solche von anderen anerkannt werden. Diese Bedürfnisse können im optimalen Fall befriedigt werden. In einem solchen Fall ist das Selbstempfinden von der Erfahrung bestimmt, lebendiger Mittelpunkt und Gestalterin oder Gestalter des eigenen Lebens zu sein. In vielen Fällen vermag sich das Potential jedoch nicht zu entfalten. Selbstachtung und Selbstbehauptung sind in einem solchen Fall vielleicht nur auf Kosten anderer Menschen erreichbar“ (200f.).
Das Buch handelt nun überwiegend von den lebensgeschichtlichen Einschränkungen dieses Potentials, von den kompensatorischen Bemühungen der Subjekte, von den vielfältigen problematischen Umwegen doch irgendwie zu Selbstachtung und Selbstbehauptung zu kommen, und von den (sonder)pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen, jene ursprünglichen Potentiale wieder freizulegen.
Die Schlüsselbegriffe, auf die Crain hier die erforderliche pädagogische Haltung bringt, heißen „Fürsorglichkeit“ und „Konfrontation“. Diese pädagogische Grundspannung als solche ist natürlich nicht neu. Sie spielte als Polarität von „Annehmen“ und „Herausfordern“, von „Halten“ und „Zumuten“ in der psychoanalytischen Pädagogik – und nicht nur dort – schon immer eine wichtige Rolle. Das Buch bietet jedoch in der Tat wertvolle Heuristiken, subtile Such- und Verständnishilfen dafür, wie diese Balance zwischen Fürsorglichkeit und Konfrontation in konkreten Situationen bei konkreten Kindern aussehen könnte.
Dabei muss man freilich feststellen, dass die Seite der pädagogischen Bedeutsamkeit von Fürsorglichkeit, Verständnis und Empathie in diesem Buch deutlich stärker entwickelt ist als jene Seite der „Konfrontation“, welche in der pädagogischen Praxis aber meist die heikle, schwierigere Seite darstellt. In dieser Hinsicht ist bei Crain mehr allgemein von der Notwendigkeit des Grenzen-Setzens die Rede und es finden sich noch ein paar Bemerkungen, dass Pädagogen zwar Konfliktbereitschaft zeigen, dabei aber nicht ihre eigenen Hass-, Wut-, und Rachegefühle agieren dürften, dass ein „regressives Schonklima“ zu vermeiden sei, dass Regeln und Konsequenzen bei Regelübertretungen klar formuliert sein sollten und dass Möglichkeiten der Wiedergutmachung Selbstwert kränkenden Strafen vorzuziehen seien. An diesem Punkt hätte man sich noch etwas mehr Konkretion gewünscht. Etwa durch die differenzierte Beschreibung und Analyse gelungener und misslungener pädagogischer „Grenzsetzungsversuche“ bei Kevin: In welchen Situationen wurden auf welche Art und Weise und mit welchen Überlegungen welche Formen der „Konfrontation“ gegenüber Kevin versucht? Welches Maß an Einsicht und Klärung, welches Maß an Widerstand und Empörung, wurde damit bei Kevin ausgelöst? Welche Emotionen waren dabei bei den beteiligten Pädagogen im Spiel? Welche „Gegenübertragungsreaktionen“? Welche Konsequenzen hatten diese konfrontativen Episoden für die weitere Beziehungsgestaltung?
Da gerade der Begriff „konfrontative Pädagogik“ innerhalb der Sozial- und Sonderpädagogik in jüngerer Zeit zu einer Art „Markenzeichen“ geworden und mit Konzepten und Vorgehensweisen assoziiert ist, mit denen der Verfasser dieses Buches sicherlich nicht viel am Hut hat, wäre eine stärkere Abgrenzung und Klarstellung sinnvoll gewesen. Pädagogisch wirksame, gelassene und doch prägnante Grenzsetzung, respektvolle, nicht-verletzende Konfrontation, gelungene Konfliktgespräche nach Regelverletzungen, die nicht zu Ausflüchten und Gegenvorwürfen, sondern zu Einsicht und Wiedergutmachungsbereitschaft führen – all dies gehört sicherlich zu den anspruchsvollsten Künsten im pädagogischen Feld und hier hätte man gerne noch ein bisschen mehr Anschauung und Erläuterung gehabt.
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
FĂĽrsorglichkeit und Konfrontation
Psychoanalytisches Lehrbuch zur Arbeit mit sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen
GieĂźen: Psychosozial 2005
(369 S.; ISBN 978-3-898-06439-2; 29,90 EUR)
Rolf Göppel (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rolf Göppel: Rezension von: Crain, Fitzgerald: FĂĽrsorglichkeit und Konfrontation, Psychoanalytisches Lehrbuch zur Arbeit mit sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen. GieĂźen: Psychosozial 2005. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389806439.html
Rolf Göppel: Rezension von: Crain, Fitzgerald: FĂĽrsorglichkeit und Konfrontation, Psychoanalytisches Lehrbuch zur Arbeit mit sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen. GieĂźen: Psychosozial 2005. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389806439.html