Unter pränataler Diagnostik versteht man vorgeburtliche Untersuchungsverfahren, mit deren Hilfe gezielt nach Abweichungen der biologischen (zumeist genetischen) Ausstattung ungeborener Kinder gesucht wird. Im Großen und Ganzen handelt es sich um die gezielte Suche nach Kindern mit Down-Syndrom (Trisomie 21), aber auch mit Verschlussstörungen des Neuralrohrs (Spina bifida, Anencephalus) oder Fehlbildungssyndromen. Angesichts weitgehend fehlender Therapiemaßnahmen sehen sich werdende Eltern, die einen pathologischen Befund erhalten, vor die Entscheidung gestellt, die Schwangerschaft – oftmals in einem fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadium – fortzusetzen oder abbrechen zu lassen. Dies bedeutet, dass aus an sich gewünschten Kindern unerwünschte Kinder werden, weil bei ihnen ein biologischer Makel festgestellt wurde.
Die Entscheidung für oder gegen das Leben des Kindes ist - ungeschönt betrachtet - also eine Lebenswert-Entscheidung. Je offensiver PND angeboten und je selbstverständlicher PND in Anspruch genommen wird, umso mehr setzt sich die (Erwartungs-)Haltung durch: Behinderung muss nicht mehr sein, Behinderung ist vermeidbar und soll vermieden werden. Welche Auswirkungen diese darin zum Ausdruck kommende Geringschätzung auf gesellschaftlicher Ebene hat, wird in der Literatur gelegentlich problematisiert, auch melden sich vereinzelt AutorInnen mit Behinderung zu Wort, die aus sozialwissenschaftlicher Perspektive und / oder mit behinderungspolitischem Hintergrund ihre Kritik u.a. am Diskriminierungspotenzial der PND formulieren. Mit Jan Gerdts qualitativ-empirischer Studie liegt der Versuch vor, „Perspektiven behinderter Menschen im Diskurs um pränatale Diagnostik zu bestimmen und diese zu konkretisieren“ (373).
Gerdts geht es in seiner Studie, die im Jahre 2009 unter gleichnamigem Titel als Dissertation an der TU Dortmund (Fakultät Rehabilitationswissenschaften) angenommen wurde, um die „subjektive[n] Bedeutungen des Wissens um die eigene potentielle Vermeidbarkeit“ (10). Die Arbeit beinhaltet drei Themenschwerpunkte: Theoriegrundlagen (2. und 3. Kapitel), Methodengrundlagen (4. Kapitel) und Ergebnispräsentation und -interpretation (5.-8. Kapitel).
Im Themenschwerpunkt Theoriegrundlagen finden sich die Kapitel „Pränatale Diagnostik“ sowie „Kränkungs- und Diskriminierungspotenziale der pränatalen Diagnostik“.
Das zweite Kapitel (Pränatale Diagnostik) ist sehr knapp gehalten, an manchen Stellen nicht auf dem neuesten Stand und zumindest missverständlich: So wird etwa mit dem Triple-Test ein Verfahren vorgestellt, das seit der Einführung des Combined-Tests (Erst-Trimester-Screening) – zumindest in Österreich – so gut wie kaum mehr durchgeführt wird; auf den Combined-Test wird nicht eingegangen. An anderer Stelle ist zu lesen: „Und je weiter die Mechanismen der Vererbung […] und die allgemeine genetische Entschlüsselung des Genoms voranschreiten, umso größer wird die Zahl der feststellbaren, sich potenziell schädlich auswirkenden Abweichungen (Dederich 2000, S. 264)“ (37). Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms wurde im Jahre 2003 für abgeschlossen erklärt – auch dieser Hinweis fehlt. Dies hängt wohl damit zusammen, dass in jenem Kapitel, in dem es um „Perspektiven der Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik“ geht, die verwendeten Quellen aus den Jahren 1997 (!) bis 2004 stammen. Anzumerken ist bezüglich des zweiten Kapitels auch, dass im Unterkapitel „Beratung im Rahmen von Pränataldiagnostik“ zwar auf die ärztliche Beratung eingegangen, die psychosoziale und psychologische Beratung mit keinem Wort erwähnt wird.
Im dritten Kapitel – dem Kernstück des theoretischen Teils der Studie – wird die Argumentation der Diskriminierung deskriptiv herausgearbeitet – und zwar aus vier Perspektiven: In Kapitel 3.1 geht es um die publizierte Kritik an der PND aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung – es geht um die Frage, „welche Bedeutungen Menschen mit Behinderungen dem selektiven Potenzial der pränatalen Diagnostik beimessen und welche daran geknüpften Konsequenzen antizipiert werden“ (41). In den von Gerdts gesichteten Publikationen von Menschen mit Behinderung, Behindertenverbänden und Selbsthilfegruppen finden sich Reflexionen der eigenen potenziellen Vermeidbarkeit (3.1.1), die Thematisierung selektiver Schwangerschaftsabbrüche als komplexe Bewertung von Behinderung (3.1.2), die Fokussierung auf die eugenischen Grundlagen der PND (3.1.3) sowie auf entsolidarisierende und diskriminierende Folgen der PND (3.1.4).
Diese Kritik von Menschen mit Behinderung wird von Gerdts in Kapitel 3.2 in die „wissenschaftliche Argumentationsfigur einer genetischen Diskriminierung überführt“ (11) – dies gelingt nur, indem das Verständnis von „genetischer Diskriminierung“ erweitert wird: von direkten und unmittelbaren auch auf indirekte und weniger offensichtliche Formen genetischer Diskriminierung (73).
In Kapitel 3.3 werden bundespolitische sowie behindertenpädagogische Stellungnahmen zur „genetischen Diskriminierung“ ins Visier genommen. Es handelt sich dabei zum einen um Stellungnahmen von Ethik-Kommissionen (3.3.2), zum anderen um behindertenpädagogische Beiträge in Sammelbänden, Fachzeitschriften sowie um Monographien, in denen (auch) auf ethische Aspekte der Behindertenpädagogik Bezug genommen wird.
Die ausgewählten behindertenpädagogischen Bezugsquellen überraschen ein wenig, da beispielsweise Beiträge keine Erwähnung finden, die zentral das Diskriminierungspotenzial der PND problematisieren. Eine überblickhafte Darstellung der Rezeption pränataldiagnostischer Themen- und Fragekomplexe innerhalb der Behindertenpädagogik wäre aus meiner Sicht wünschenswert gewesen, da LeserInnen möglicherweise den Eindruck gewinnen könnten, behindertenpädagogischen AutorInnen ist zur Problematik PND nicht mehr eingefallen, als in diesem relativ kurzen Textabschnitt zu lesen ist.
In Kapitel 3.4 werden drei theoretische Reflexionsansätze zur „genetischen
Diskriminierung“ dargestellt: der rechtsphilosophische Ansatz (W. Lübbe), der philosophisch-ethische Ansatz (D. Birnbacher) sowie der soziologisch-empirische Ansatz (W. van den Daele). Diesen Ansätzen und ihren Argumentationen ist gemein, dass „sie grundsätzlich die Kritik behinderter Menschen an pränataler Diagnostik zu relativieren versuchen“ (84).
Das Kapitel 3.5. beinhaltet die Zusammenfassung und Entwicklung der Forschungsfragen. Fokussiert werden abstrakte Reflexionen der PND – losgelöst von der eigenen Person –, subjektive Bedeutungen sowie der Zukunftsausblick von Menschen mit Behinderung.
Im vierten Kapitel wird sehr ausführlich eingegangen auf die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (4.1) sowie auf methodologische Voraussetzungen der Studie (4.2). Konkrete Ableitungen der theoretischen Grundlagen auf die empirische Studie sind in Kapitel 4.3 nachzulesen, das Studiendesign vorgestellt wird schließlich in Kapitel 4.4.
Die Zielsetzung, schreibt Gerdts, „lag in erster Linie nicht in der Überprüfung von Kränkungs- und Diskriminierungsargumentationen an Menschen mit Behinderungen, sondern vornehmlich in der Explikation aus Betroffenenperspektive.“ (122; i.O. kursiv.) Es wurden 25 problemzentrierte Interviews (Witzel) geführt – 5 Interviews mit Männern und 19 Interviews mit Frauen mit Behinderung zwischen 18 und 55 Jahren. Als Einschlusskriterium wurde die „potenzielle Diagnostizierbarkeit der als Behinderung bezeichneten (genetischen) Auffälligkeit nach gegenwärtigen medizinischen Standards und damit die eigene potenzielle Vermeidbarkeit durch Pränataldiagnostik“ (122) bestimmt: unter anderem Dysmelie (verkürzte Extremitäten), Spina bifida und / oder Hydrocephalus, Osteogenesis Imperfecta („Glasknochenkrankheit“), Ulrich-Turner-Syndrom und spinale Muskelatrophie.
Die Symptomatik musste sich schon von Geburt an gezeigt haben. Als Ausschlusskriterium wurde das Alter bestimmt: Keine Interviews wurden mit Personen geführt, die jünger als 18 Jahre alt waren – Gerdts wollte aus forschungsethischen Gründen junge Menschen in der Phase der Identitätsfindung nicht mit der heiklen Thematik (etwa die eigene potenzielle Vermeidbarkeit) konfrontieren. Sehr irritierend ist der Hinweis, dass Gerdts aus demselben Grund keine Menschen mit Down-Syndrom befragte – so als ob Menschen mit Down-Syndrom jenseits der Adoleszenz sich unaufhörlich in der Phase der Identitätsfindung befänden.
Das gewonnene Datenmaterial ausgewertet wurde nach der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Ph. Mayring, unterstützt mit der Software MAXqda 2007. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt zum einen aus einer horizontal-interindividuellen Perspektive (Kapitel 5), aus der die Argumentationen – fallübergreifend – aller InterviewpartnerInnen dargestellt werden. Kapitel 6 präsentiert die Ergebnisse aus vertikal-individueller Perspektive, indem drei „ausgewählte Einzelfälle intensiv in ihrer Ganzheit und Individualität betrachtet und dargestellt werden“ (132). Kapitel 7 beinhaltet die Interpretation der empirischen Ergebnisse, abgeschlossen wird die Arbeit mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick (Kapitel 8).
Wenngleich eine „tendenziell bis deutlich kritische“ (368, 373) Haltung gegenüber der PND festzustellen ist, kann von einer einheitlichen Betroffenenperspektive nicht gesprochen werden: und zwar sowohl auf der abstrakten als auch auf der subjektiven Reflexionsebene. Neben der Heterogenität ist mit Gerdts auch „der Tiefgang der individuellen Auseinandersetzungen mit Pränataldiagnostik und der
eigenen potenziellen Vermeidbarkeit“ (275) hervorzuheben. Die InterviewpartnerInnen sind nicht nur teilweise außerordentlich gut über PND informiert und hoch reflektiert – eine Interviewpartnerin versieht im eugenisch-ökonomischen Kontext ihre Kritik an einer Gesellschaft, die mit Hilfe der PND ihre Vielfalt verliert, mit einem Schuss Humor, wenngleich sie selbst ihre Bemerkung als zynisch bezeichnet. Es mag mit dem Zynismus bioethischer Argumentationen (vgl. auch 3.4) zusammenhängen, die das von Betroffenen kritisierte Diskriminierungspotenzial der PND als (bloß) persönliche emotionale Kränkung (ab)werten, dass ich an der folgenden Bemerkung weniger Zynismus, als vielmehr –l wie gesagt – eine gesunde Portion Humor wahrnehme: „aber zynisch sag ich manchmal: Ich werd der Menschheit ein paar Gene von mir zur Verfügung stellen […] für den Fall, dass sie dermaßen einfältig geworden ist, dass sie wieder jemanden braucht, der zur Vielfalt beiträgt“ (190).
Empfehlenswert ist dieses Buch deshalb, weil meines Wissens erstmals nicht nur abstrakte Reflexionen über PND von Menschen mit Behinderung zur Kenntnis gebracht werden, sondern im Rahmen einer empirischen Studie auch die Bedeutung der Pränataldiagnostik für die eigene Person thematisiert wird – dies ermöglicht einen kleinen, jedoch erkenntnisreichen Einblick in die innere Welt von Menschen, die im Bewusstsein leben, gesellschaftlich geduldet zu sein. Dies gilt, wie oben angedeutet, nicht für alle InterviewpartnerInnen, aber für viele. Eine befragte Frau mit Dysmelie (verkürzte Extremitäten) sagte: „der Strick zieht sich um unseren Hals immer […] enger, und ‚um unseren Hals‘ mein ich, um Menschen, die nach mir noch so geboren werden möchten wie ich bin“ (230).
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Bedeutungen von pränataler Diagnostik für Menschen mit Behinderungen
Eine qualitative Studie
Bochum / Freiburg: projekt verlag 2009
(401 S.; ISBN 978-3-8973-3198-3; 28,50 EUR)
Andrea Strachota (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Strachota: Rezension von: Gerdts, Jan: Bedeutungen von pränataler Diagnostik für Menschen mit Behinderungen, Eine qualitative Studie. Bochum / Freiburg: projekt verlag . In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389733198.html
Andrea Strachota: Rezension von: Gerdts, Jan: Bedeutungen von pränataler Diagnostik für Menschen mit Behinderungen, Eine qualitative Studie. Bochum / Freiburg: projekt verlag . In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389733198.html