Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten um Reformpädagogik und sexualisierte Gewalt in pädagogischen Institutionen stellt die empirisch angelegte Fallstudie die Ergebnisse mehrerer umfassender Befragungen vor, welche die Autoren unter allen noch erreichbaren ehemaligen Sängern des evangelischen Windsbacher Knabenchors der Abschlussjahrgänge 1947 bis 2010 durchgeführt haben. Im Mittelpunkt ihres Interesses standen allerdings nicht gezielt die Fragen nach sexuellen Übergriffen oder körperlichen Züchtigungen, sondern allgemein die Frage nach der lebensgeschichtlichen Bedeutung der Chorzeit für die ehemaligen Mitglieder des Windsbacher Knabenchors. Liedtke, der bereits Mitte der neunziger Jahre eine Studie über den 1946 gegründeten Knabenchor vorgelegt hatte, und sein Co-Autor interessierten sich primär für die Bedingungen, unter denen die Erfolge dieses deutschlandweit bekannten Knabenchors erzielt wurden. Konkret ging es um die Frage, „was es dem einzelnen Choristen bringt, im anspruchsvollen Knabenchor gesungen zu haben, was bringt es an Bildung, was bringt es für die Gestaltung des eigenen, des familialen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens, was bringt es an Lebensqualität“ (14). Zum besseren Verständnis sei erwähnt, dass die weit überwiegende Mehrheit der Choristen gemeinsam im Internat lebte und dort noch immer lebt.
Um es vorwegzunehmen: In der Geschichte des kirchlichen Knabenchors zählten zu diesen Bedingungen auch einzelne Fälle psychischer oder physischer Gewalttätigkeiten, die sich von der Gründung bis Ende der siebziger Jahre ereignet hatten. Bevor die Autoren ihre Befunde im Einzelnen vorstellen, diskutieren sie knapp deren geschichtlichen Interpretationsrahmen im Spannungsfeld von Chor, Internat und Schule. Dazu zählen die Autoren u.a. personelle Wechsel in Führungspositionen, verschiedene Veränderungen der Aufgabenstellungen von Chor und Internat ebenso wie interne und externe Gründe der Wandlungsprozesse, so etwa der Einstellungswandel gegenüber körperlichen Züchtigungen und angsteinflößendem erzieherischem Verhalten. Der zweite Teil des Buches stellt dann die Ergebnisse der empirischen Befragungen detailliert vor. Es sind Umfragen aus dem Jahr 1996, dann aus dem Jahr 2002 die Befunde, die der Dissertation von Horant Schulz zugrunde lagen sowie weitere Befragungen aus den Jahren 2010 und 2011.
Die einzelnen Befragungen vergleichend kommen die Autoren in einem Zwischenresümee zu dem Ergebnis, dass sich in Windsbach die pädagogische Situation gegenüber der frühen und mittleren Chorgeschichte deutlich verbessert habe, „dass Klagen über körperliche Züchtigungen seitens Erziehungspersonen – Klagen, die ein Begleitstück der früheren Chorgeschichte und wohl ein verschwiegener oder gesellschaftlich akzeptierter Cantus firmus der wesentlich weiter zurückreichenden Internatsgeschichte waren – überhaupt nicht mehr auftauchen, ja so weit zurückliegen, dass sie kaum noch als geschichtliche Erinnerungsstücke den Probanden bekannt sind“ (134 f). Auch das Thema „pädophiler Missbrauch“ tauchte in den Anmerkungen der Probanden nicht auf. Das, so die Autoren, unterscheidet das Windsbacher Internat von anderen vergleichbaren Internaten. Anders verhält es sich bei den körperlichen Züchtigungen in christlicher Tradition, „die rechtlich bereits seit dem 19. Jahrhundert als ‚Körperverletzungen’ einzustufen gewesen wären“ (137). Dennoch lasse sich nicht behaupten, der Zeitraum von der Gründung bis Ende der siebziger Jahre sei eine Periode systematischer gewalttätiger Erziehung gewesen. Ohne im Einzelnen auf die zahlreichen empirischen Befunde der Studie eingehen zu wollen, sollen dennoch einige Tendenzen mitgeteilt werden. Von den drei wichtigen Eckpfeilern, nämlich Chor, Internat und Schule, galt den Probanden wenig überraschend der Chor als gewichtigste Bildungseinrichtung. Denn mit ihm verbanden sich ein hohes musikalisches Anspruchsdenken und zugleich eine große Zahl an persönlichen Erfolgserlebnissen. Überwiegend positiv waren auch ihre Internatserfahrungen. Für beide Befunde gibt es eine zeitliche Zäsur. Seit Ende der siebziger Jahre verbesserten sich alle Umfragewerte für Chor und Internat. Für die Abschlussjahrgänge 1997 bis 2010 verneinten knapp 88% der Befragten die Frage, ob sie es ernsthaft bereut hätten, nach Windsbach gekommen zu sein. 96% gaben an, sie hätten in Chor, Internat und Schule keine Verletzungen erlebt, deren Nachwirkungen noch heute bei ihnen anhalten. Man kann das als Erfolgsbilanz lesen, man kann auch über die restlichen 4% nachdenken.
EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)
Knabenchor – Last, Glück, Lebenschance?
Eine Untersuchung am Beispiel des Windsbacher Knabenchors
Augsburg: Wißner-Verlag 2012
(156 S.; ISBN 978-3-89639-845-1; 19,80 EUR)
Peter Dudek (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Dudek: Rezension von: Liedtke, Max / Schulz, Horant: Knabenchor – Last, Glück, Lebenschance?, Eine Untersuchung am Beispiel des Windsbacher Knabenchors. Augsburg: Wißner-Verlag 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389639845.html
Peter Dudek: Rezension von: Liedtke, Max / Schulz, Horant: Knabenchor – Last, Glück, Lebenschance?, Eine Untersuchung am Beispiel des Windsbacher Knabenchors. Augsburg: Wißner-Verlag 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389639845.html