Eine Schulwahl ist immer eine anforderungsreiche Entscheidung, die von Eltern eine umsichtige Orientierung verlangt. Dies betrifft gerade auch die Entscheidung für private Schulangebote, deren Anteile im deutschen Schulsystem zwar vergleichsweise gering sind, aber stetig wachsen und die insbesondere von kapitalstarken, bildungsorientierten Elternhäusern angewählt werden. Über die Motive, eine Privatschule zu wählen und sich damit vom staatlichen Regelangebot abzuwenden, liegen kaum belastbare Befunde vor. In der Privatschuldiskussion werden verschiedene Gründe genannt, die auch miteinander verknüpft sein können: so etwa (reform)pädagogische Orientierungen und Überzeugungen der Eltern, das Vertrauen auf bessere individuelle Förderung, ein ganzheitliches Lernen ohne Leistungsdruck, die Angst vor dem Scheitern des eigenen Kindes an einer selektiven Staatsschule, die Ablehnung von sozialer Heterogenität und das Streben nach soziokultureller Distinktion usw. Mit der Wahl einer Privatschule geht dann in der Regel zugleich die Erwartung seitens der aufnehmenden Schule einher, dass sich die Eltern nicht nur finanziell durch das Entrichten von Schulgeld, sondern auch inhaltlich aktiv einbringen und sich für die Gestaltung des Schullebens, die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs und die Sicherung der schulischen Infrastruktur engagieren. Vielen Eltern ist dies umgekehrt auch ein wesentliches Anliegen: sie wollen stärker partizipieren. Diese spezifische Konstellation auf dem Privatschulsektor bedingt dann neben anderen Faktoren die sozialen Disparitäten in diesen Schulen und reproduziert ihre soziale Selektivität.
Das Verhältnis von Elternhaus und Schule, die Erziehungspartnerschaft, ist in Freien Schulen in der Regel also völlig anders justiert als in etablierten staatlichen Einrichtungen. Sie ist strukturell durch eine größere Nähe wie Dichte und damit zusammenhängende hohe wechselseitige Erwartungen und Ansprüche gekennzeichnet. Dies betrifft insbesondere solche Freien Schulen, die „von unten“ durch lokale Initiativen als solitäre Einzelschulen gegründet werden. Sie müssen sich gerade in der prekären Phase ihres Aufbaus – oft ohne oder mit nur geringer staatlicher Alimentierung – der kontinuierlichen und zahlreichen Elternmitwirkung sicher sein. In der Regel von Eltern selbst (mit)begründet fehlt ihnen gerade in der Konstitutionsphase die für die Institution Schule als typisch erachtete Trennung von Schule und Familie. Welche Sichtweisen auf Schule Eltern in einer solchen Gründungskonstellation einnehmen, hat Silke Trumpa in ihrer qualitativen Promotionsstudie am Fall einer im südlichen Baden-Württemberg gelegenen Freien Grundschule im Aufbau untersucht. Dazu hat sie mit 18 Elternpaaren vor der Einschulung und nach dem ersten Schuljahr episodische Interviews geführt und mit der Dokumentarische Methode ausgewertet. Eine qualitative Anlage ist für diese Themenstellung von Vorteil, weil sie zum einen die Sinnzuschreibungen und Orientierungsrahmen der Eltern selbst ins Zentrum der Analyse rückt und zum anderen die besonderen familialen Welten ausleuchten kann, die für die jeweilige Verhältnisbestimmung zur Schule von hoher Relevanz sind.
An den drei für die Publikation ausgewählten Eckfällen, die sorgsam dargelegt und rekonstruiert werden, gelingt es Trumpa eindrucksvoll, die Spannungsverhältnisse und Entwicklungsprobleme im Verhältnis von Elternhaus und Freier Schule aus der Elternposition heraus exemplarisch zu explorieren. Der blinde Fleck der Studie liegt im Verzicht, auch auf die Seite der Schule selbst näher einzugehen, was bei dieser Fallstudie, die sich auf eine einzige Schule kapriziert, sicherlich interessant gewesen wäre. So bleibt bis zum Ende der Studie bis auf die Kenntnis darüber, dass es sich um eine neu gegründete Freie Grundschule mit reformpädagogischem Profil (z.B. jahrgangsübergreifendes Lernen) handelt, relativ unklar, welche konkreten pädagogischen Orientierungen und Bildungsentwürfe mit ihr verbunden sind, welche Protagonisten in ihr agieren, wie sie in die lokale Bildungslandschaft eingebettet ist, kurz: es fehlt eine systematische empirische Berücksichtigung des Profils und der Schul- und Lernkultur dieser Schule.
Nachdem Trumpa zu Beginn die Diskussion über und die Kritik am etablierten Verhältnis von Elternhaus und Schule als asymmetrische „stille Partnerschaft“ skizziert und auf Reformbemühungen sowie auf die Ansprüche von immer mehr Eltern auf eine gemeinsam geteilte Erziehungsverantwortung und eine substanzielle Partizipation an Schule hingewiesen hat, sensibilisiert sie vorab ihre empirischen Analysen durch Rekurs auf drei schultheoretische Konzeptualisierungen, indem sie, teilweise bereits auf ihre drei Eckfälle vorausschauend, auch deren Beschreibungslücken andeutet. So berücksichtigt Helmut Fends funktionale Analyse von Schule nach Ansicht Trumpas nicht ausreichend die Sichtweisen von Eltern: „In diesem Konstrukt erscheint die Bedeutung der Elternperspektive verschwindend gering und das Kind fast wie ein manipulierbares Objekt“ (47). Diese Argumentation schießt ein wenig übers Ziel hinaus. Fends alte gesellschaftstheoretisch bzw. funktionalistisch justierte Analyse ist durchaus in der Lage, mit der Erziehungsfunktion auch solche Leistungen einzubeziehen, die die Schule im Kontext des Funktionswandels für Familien vermehrt erbringen muss, und Fends Subjektbegriff ist sicherlich weniger deterministisch, als die Autorin es hier darstellt. Nichtsdestotrotz macht sie darauf aufmerksam, dass die Berücksichtigung der Elternposition in der Fend’schen Schultheorie randständig behandelt wird. Mit Bezug auf Ulrich Oevermann akzentuiert Trumpa die Bedeutung der Eltern für die Stiftung und Aufrechterhaltung pädagogischer Arbeitsbündnisse, und sie referiert Andreas Wernets Parsons-Interpretation, die in besonderer theoretischer Schärfe den Dualismus bzw. die Strukturdifferenzen von Familie und Schule betont.
In einer originellen Bezugnahme auf volkswirtschaftliche Überlegungen Albert Otto Hirschmans zum Umgang mit Qualitätsverlust in Gewerbe- und Dienstleistungsorganisationen und dadurch ausgelösten Dynamiken im System versucht Trumpa, die Mechanik der Reaktionsweisen in der Abkehr von der Staatsschule zu modellieren: Die Abwanderung aus dem Staatsschulwesen führt laut Trumpa nicht zu Anstrengungen einer Qualitätsverbesserung, weil „die Leistung eines öffentlichen Unternehmens ... relativ unempfindlich gegenüber Abwanderung ist“ (74) und es geringen Widerstand und zugleich noch relativ viel Loyalität einer indifferenten Mehrheit im System selbst gibt. Die Abwanderung in Privatschulen zieht eine soziale Entmischung von Lerngruppen im staatlichen Schulsystem nach sich und trägt dort zur Minderung von Widerstandspotenzial bei. So wird soziale Ungleichheit im Bildungswesen gefördert und zugleich die Erneuerungsfähigkeit des staatlichen Systems vermindert. Mit Bezug auf ihre Eckfälle weist Trumpa darauf hin, dass diese Effekte von Privatschul-Eltern durchaus als Dilemma wahrgenommen würden; sie seien sich der strukturellen Konsequenzen ihrer Abwanderung aus dem Staatsschulsystem bewusst. Darüber hinaus geht Trumpa davon aus, dass die beschriebenen Mechanismen ebenso im Kontext der Privatschule selbst wirken können, dort aber insofern gemäßigt, als die qualitätsorientierten, aktiven und anspruchsvollen Eltern eine größere Loyalität für ihre Schule aufbrächten und vor einer wiederholten Abwanderung intensiver Einfluss auf Fehlentwicklungen zu nehmen versuchten. Aus diesen theoretischen Sensibilisierungen ergibt sich als Anfrage an die empirische Analyse, inwieweit auch Schulen in freier Trägerschaft von den Spannungsverhältnissen und Verwerfungen im Verhältnis von Schule und Familie betroffen sind, ob sich auch in ihrem Feld unüberschreitbare Limitierungen der Elternpartizipation auftun und welche Probleme in der Elternarbeit zu beobachten sind.
In der ersten Interviewrunde präsentieren sich die Eltern als sachkundige Experten ihrer Schulwahl, was auf die Notwendigkeit einer fundierten Elterninformation in der Elternarbeit verweist. In der zweiten Interviewrunde werden die schulischen Befindlichkeiten der Kinder und die Wahrnehmungen der Lehrerpersönlichkeiten zur Richtschnur der eigenen Positionierungen der sich nun nach dem ersten Schuljahr stark mit ihrer Freien Schule identifizierenden Mütter und Väter, woraus sich die Bedeutung eines konstruktiven, wertschätzenden Umgangs mit Eltern, aber auch die Notwendigkeit einer offenen Reflexion der Grenzen der partikularen Elterninteressen ergibt. Diese partikularen Elterninteressen stellen für Trumpa gerade für Freie Schulen ein Risiko dar: Sie macht auf die Problematik einer Behinderung des Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozesses der sich im Aufbau befindenden Schule durch das elterliche Engagement in der Vorstandsarbeit aufmerksam, in der leicht die partikularen Interessen einzelner Eltern oder von Elterngruppen in den Vordergrund gerückt würden, die in der informellen Hierarchie der Elternschaft weiter oben stünden. Auch die Vorstandsarbeit ist insofern – mit Bezug auf Oevermann – professionalisierungsbedürftig, als „die Vorstandsmitglieder ihr diffuses Agieren als ganze Personen um spezifisches Rollenhandeln ergänzen müssen, um eine Organisation aufzubauen und zu betreiben, in der professioneller Unterricht möglich ist“ (256). Trumpa verschärft diese kritische Betrachtung noch durch ihren Zweifel an der Tragfähigkeit der Vereinsstruktur und ihr Plädoyer für andere Formen der Trägerschaft.
Die von Trumpa bestimmten drei Eckfälle entstammen unterschiedlichen Milieus, verfügen über ungleiche familiäre, soziokulturelle und materielle Ressourcen und führen unterschiedliche Gründe der Schulwahl an, gemeinsam ist ihnen die späte Elternschaft, die Form der traditionellen Kernfamilie und der Umstand, dass es sich bei ihren einzuschulenden Kindern um Erstgeborene handelt, bei denen – so Trumpa – die Schulwahl noch wesentlich sorgsamer abgewogen würde. Die drei Väter positionieren sich kritischer mit Verweis auf mögliche Leistungseinbußen gegenüber der Freien Schule, während die Mütter die pädagogischen und programmatischen Elemente hervorheben und die Entscheidungsfindung – auch dies fallübergreifend – in besonderer Weise durch ihre eigenen Überlegungen und Abwägungen dominieren. Zum einen ist für alle drei rekonstruierten Eckfälle ein Motiv zentral, das gar nicht im engeren Sinne ein spezifisch privatschulisches ist, sondern sich auf das ganztägige Betreuungsangebot stützt: „der Wunsch nach einer schulfreien Zeit, in der keine Hausaufgaben das Familienleben belasten oder (zer)stören“ (243). Darüber hinaus spielen die Wertschätzung des pädagogischen Profils der Schule eine Rolle im Sinne einer geöffneten schulischen Lern- und Entwicklungsumgebung, die Nähe der Lehrkräfte zu den Kindern, die Hilfe in Erziehungsfragen sowie die elterlichen Teilhabechancen. Gesellschaftspolitische bzw. -kritische Orientierungen lassen sich in den Fällen nicht entdecken, wohl aber gibt es Versuche, gleichsam in einer Art Sekundärlegitimation die Privatschulwahl durch Verweis auf positive Effekte auf die Qualitätsentwicklung benachbarter Staatsschulen zu rechtfertigen, was aus theoretischer Sicht aus dem oben beschriebene Dilemma der Abkehr vom Staatsschulsystem resultiert. Trumpa kann insbesondere an einem Fall herausarbeiten, wie wichtig das Gründungsmilieu der Schule für die Einbettung in ein soziales Netzwerk bei Eltern mit großen Kontaktbedürfnissen sein kann und wie stark insbesondere negative eigene schulbiographische Erfahrungen der Eltern auf die Schulwahl ausstrahlen können. Sie fasst die Motive abschließend zu drei Funktionen zusammen: Entlastung, Optimierung und Kompensation. In die Entscheidung spielen auch die unterschiedlichen familiären Ressourcenlagen hinein, und zwar insofern, als die Abkehr von der Regelschule angesichts etwa eines unzureichenden staatlichen Betreuungsangebots für die einen alternativlos ist, während das Kind der anderen auch eine Regelschule hätte besuchen können, dessen Eltern aber aus pädagogischen Überzeugungen heraus für die Privatschule votiert haben. Trumpa entwickelt davon ausgehend die These eines „Gap“ in der Elternschaft (244ff): Die Elternschaft speise sich aus unterschiedlichen Milieus, und es fehlten gemeinsame Orientierungen. In dieser Heterogenität und den differenten Hintergründen, die zur Wahl der Schule motivieren, sieht Trumpa dann ein Problem, wenn ressourcenreiche Eltern, die ja über die Alternative eines (Wieder)eintritts in die staatliche Schule verfügen, sich abwenden und dies zu einer Entmischung der Elternschaft und infolgedessen wiederum zu einem Qualitätsverlust der Freien Schule führt.
Trumpa gelingt es, an den drei Eckfällen ihrer Studie zum einen die vielfältigen Sichtweisen einer durchaus heterogenen Privatschulelternschaft wie auch zum anderen die besondere Strukturprobleme des Verhältnisses von Elternhaus und Freier Schule herauszuarbeiten, und zwar auch gerade deshalb, weil sie die Fallrekonstruktionen konsequent in übergreifende (schul)theoretische Konzeptualisierungen und Reflexionen einbettet. Dabei vermeidet sie eine vorgängige theoretische Subsumtion ihrer Empirie und nutzt diese vielmehr auch dazu, gängige theoretische Setzungen in Frage zu stellen. Trumpas Arbeit bietet einen allerersten aktuellen empirischen Zugang zum Thema, der sich auf das Beispiel einer lokal getragenen Freien Grundschule mit reformpädagogischem Profil bezieht. Angesichts der Variation im Feld der Privatschulen sollten Folgestudien die empirische Basis weiter verbreitern und dabei auch die verschiedenen Schultypen, Trägerformen und konzeptionellen Hintergründe systematisch ausleuchten. Dabei wäre es auch weiterführend, wenn in solchen Studien die Seite der Schulen samt ihrer jeweiligen Schul- und Lernkultur über eigene empirische Zugänge einbezogen und in ihren Passungsmomenten zu den Elternmilieus rekonstruiert werden würde.
EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)
Elternperspektiven – Rekonstruktionen an einer Freien Schule
Studien zur Bildungsgangforschung, Band 31
Opladen & Farmington Hills, MI: Barbara Budrich 2010
(276 S.; ISBN 978-3-86649-346-9; 29,90 EUR)
Till-Sebastian Idel (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Till-Sebastian Idel: Rezension von: Trumpa, Silke: Elternperspektiven – Rekonstruktionen an einer Freien Schule, Studien zur Bildungsgangforschung, Band 31. Opladen & Farmington Hills, MI: Barbara Budrich 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649346.html
Till-Sebastian Idel: Rezension von: Trumpa, Silke: Elternperspektiven – Rekonstruktionen an einer Freien Schule, Studien zur Bildungsgangforschung, Band 31. Opladen & Farmington Hills, MI: Barbara Budrich 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649346.html