Die Forderung nach individualisiertem Unterricht steht im Kontext des Diskurses um einen besseren Umgang mit HeterogenitÀt. Obschon es immer schon im Bestreben guter Lehrender gewesen sein mag, auch den einzelnen Lernenden didaktisch im Blick zu haben, gibt es nach einer Welle in den 1970er Jahren derzeit eine erneute Hinwendung zu jenem Unterricht, der explizit die Förderung der Individuen zum Ziel hat [1].
Die sich als Schulbegleitforschung verstehende 276 Seiten umfassende Studie von Miriam Hellrung hat das Anliegen zu untersuchen, âwie Lehrerinnen und Lehrer die Anforderungen bewĂ€ltigen, die fĂŒr sie mit der Implementation individualisierten Unterrichts verbunden sindâ (13). Dazu befragte sie im Rahmen ihrer Dissertation neun Lehrende zweier Hamburger Schulen, die versuchen ihren Unterricht mehr zu individualisieren. Die Studie ist in fĂŒnf Teile aufgeteilt (Forschungsfeld und Fragestellung, theoretische Bezugspunkte und empirische Befunde, Forschungsansatz und Untersuchungsmethoden, Ergebnisse und theoretische und praktische Implikationen).
Hellrung beschreibt in den ersten beiden Kapiteln des ersten Teils, wie die beiden fokussierten Schulen dazu kamen, ihren Unterricht zu verĂ€ndern, und in welcher Form dem Anspruch des individualisierten Unterrichts versucht wird zu entsprechen. An den beiden betrachteten Schulen werden folgende Elemente eingesetzt: individualisierter Unterricht in einzelnen FĂ€chern (mit Einsatz eines Logbuchs zur Strukturierung des Lernens), fĂ€cherĂŒbergreifende Projektarbeit und die Arbeit in sogenannten WerkstĂ€tten, in denen die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler âsich interessengeleitet im musisch-kĂŒnstlerischen, handwerklichen oder sportlichen Bereichâ (24) betĂ€tigen. Eine der beiden Schulen setzt auch auf Altersmischung.
Im dritten Kapitel nennt Hellrung die drei âFragestellungen der Untersuchungâ: âWelche Anforderungen sind fĂŒr die Lehrerinnen und Lehrer mit der Implementation individualisierten Unterrichts verbunden?â, âInwieweit nehmen die Lehrerinnen und Lehrer die Anforderungen individualisierten Unterrichts individuell als Herausforderungen fĂŒr ihr berufliches Handeln wahr?â und âWelche Formen des Umgangs mit den Anforderungen individualisierten Unterrichts entwickeln die Lehrerinnen und Lehrer?â (34).
Der mit âTheoretische Bezugspunkte und empirische Befundeâ betitelte zweite Teil gliedert sich in drei Kapitel zur âIndividualisierung als Gestaltungsprinzip von Unterrichtâ, âals Gegenstand schulischer Entwicklungsarbeitâ und âals Herausforderung fĂŒr Lehrerinnen und Lehrerâ.
Hellrung stellt im vierten Kapitel âvier wesentliche Merkmale individualisierten Unterrichtsâ vor: Binnendifferenzierung, Kompetenzorientierung, Aufgabenorientierung und Lernprozessorientierung. Dabei bleibt unbegrĂŒndet, wie sie zur Wahl der nicht trennscharfen Merkmale kommt. Die AusfĂŒhrungen zur Binnendifferenzierung sind recht knapp: Zwar erwĂ€hnt die Autorin, dass es schon in den 70er Jahren eine Diskussion zum Thema gab, jedoch wird diese mit ihren VorschlĂ€gen (man denke hier z.B. an Klafki und Stöcker) [2] nicht rezipiert. Sie kommt zum Schluss: âNeu ist an der gegenwĂ€rtigen Erprobung individualisierter Unterrichtssettings, dass sich dabei [âŠ] auf die Ergebnisse internationaler Leistungsvergleichsstudien gestĂŒtzt werden kann und neuere Erkenntnisse der Lerntheorie genutzt werden können, um diese Settings zu begrĂŒnden und zu gestaltenâ (40). Hier wird der Anschein erweckt, dass die didaktischen Wege der Individualisierung inzwischen empirisch belegbarer wĂ€ren als in den 70er Jahren. Dies ist jedoch m.E. nicht der Fall, sondern die Forderung nach Individualisierung wird derzeit in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion lediglich argumentativ in Zusammenhang mit den Ergebnissen der internationalen Leistungsvergleichsstudien gebracht [3]. Ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Abschneiden und dem schulischen Umgang mit HeterogenitĂ€t konnte bisher nicht nachgewiesen werden.
Hellrung konstatiert einen Zusammenhang zwischen âIndividualisierung von Unterricht und der Zielsetzung von selbstreguliertem Lernenâ (39). Individualisierung von Unterricht kann, muss aber nicht in selbstreguliertem Lernen realisiert werden, weshalb sie auch nicht von einem âBedingungsverhĂ€ltnisâ von Individualisierung und Selbstregulation ausgeht (61). Sie begrĂŒndet den Zusammenhang erstens damit, dass dieser an den beiden fokussierten Schulen in den Unterrichtskonzeptionen unterstellt wird. Dies wird plastisch bei der spĂ€teren LektĂŒre der Interviews, aus denen hervorgeht, dass dort vor allem der Weg der Individualisierung ĂŒber das Bearbeiten von ArbeitsblĂ€ttern gewĂ€hlt wird. Folgerichtig vertieft Hellrung in den spĂ€teren Ăberlegungen auch âAufgabenkultur und Lernprozessberatung in individualisierten Unterrichtssettingsâ (Kap 4.2.) und âSelbstreguliertes Lernen als Ziel individualisierten Unterrichtsâ (Kap. 4.3). Zweitens analysiert sie, dass jeder individualisierte Unterricht, der âvon einem aktiv-konstruktiven LernverstĂ€ndnis getragenâ wird, impliziert, âdass die Lernenden durch das Setting zur Selbstregulation ihrer Lernprozesse aufgefordert sind und dazu befĂ€higt werdenâ (61). Da sie erkennen kann, dass die LehrkrĂ€fte an den betrachteten Schulen alle das âaktiv-konstruktivistische LernverstĂ€ndnisâ teilen und danach auch erfolgreich handeln, begrĂŒndet sich fĂŒr sie der Zusammenhang. Die Auseinandersetzung lĂ€sst die Diskussion anderer Realisierungen der Idee des individualisierten Unterrichts vermissen.
Das fĂŒnfte Kapitel diskutiert âIndividualisierung des Unterrichts als Gegenstand schulischer Entwicklungsarbeitâ und ordnet das Betrachtungsfeld der unterrichtszentrierten Schulentwicklung zu. Es thematisiert die derzeitigen Spannungsfelder zwischen der Forderung nach besserem Umgang mit HeterogenitĂ€t und der sogenannten Output-Orientierung der Bildungsstandards und erörtert in Anlehnung an Arno Combe [4] drei Spannungsfelder bei der Implementation individualisierten Unterrichts: Individualisierung als Problem der LehrermentalitĂ€t, als praktisch-organisatorisches und als lerntheoretisches Problem.
Im sechsten Kapitel stellt Hellrung Uwe Hericks Konzept beruflicher Entwicklungsaufgaben von Lehrerinnen und Lehrern [5] zu Beginn der BerufstĂ€tigkeit nebst empirischen Befunden vor. Die vier von Hericks benannten Entwicklungsaufgaben Kompetenz, Vermittlung, Anerkennung, Institution werden fĂŒr ihre Studie in âberufliches Selbstkonzept, Vermittlungskonzept, Anerkennungskonzept, Kooperationskonzeptâ (93) modifiziert. Damit ârekonstruiertâ sie im Unterschied zu Hericks nicht âdie individuelle BewĂ€ltigungsdimension der Lehrenden [âŠ] in ihrer berufsbiografisch-prozessualen Verlaufslogik, sondern als ,Handeln-Könnenâ der Lehrerinnen und Lehrer in den Anforderungssituationen des individualisierten Unterrichtssettings und des Schulentwicklungsprozessesâ (95).
Im dritten Teil erlĂ€utert Hellrung den Forschungsansatz und die Untersuchungsmethoden: Sie orientiert sich am Konzept der Schulbegleitforschung, deren Ziel es sei, âdurch die begleitende Rekonstruktion und Evaluation von Schulentwicklungsprozessen den Selbstbildungsprozess von Praktikerinnen und Praktikern sowie die Weiterentwicklung des Praxisfeldes zu unterstĂŒtzenâ (103). Zur methodischen Herangehensweise gehören bei ihr neben der Auswertung von sieben rekonstruktiv angelegten âerzĂ€hlgenerierenden Leitfadeninterviewsâ (108) die Auswertung schulischer Dokumente sowie zweier Experteninterviews mit jenen Lehrenden, die die schulischen Konzepte entwickelt haben (109). Die Ergebnisse der Interviewauswertung werden an Lehrende zur PrĂŒfung (âkommunikative Validierungâ (105)) und als Anregung zur Reflexion gegeben.
Diskutabel ist der gewĂ€hlte methodische Blick auf das Lehrerhandeln: Hellrung geht davon aus, dass die Lehrenden Konzepte ihres âHandeln-Könnensâ (95) parat haben und diese auch verbalisieren können. Sie schreibt: âBei der BewĂ€ltigung von situationsspezifischen Anforderungen [âŠ] greifen Lehrerinnen und Lehrer auf die erfahrungsgestĂŒtzte Typisierung von Situationen und auf daraufhin entwickelte Handlungsmuster zurĂŒck. Im individuellen Bearbeitungsstand der vier Entwicklungsaufgaben manifestiert sich demnach das ,Handeln-Könnenâ der Lehrenden in spezifischen Anforderungssituationen ihrer beruflichen Praxis â(118). Muss man nicht, z.B. mit Blick auf Schöns Handlungstypus des âtacit-knowing-in-actionâ, davon ausgehen, dass es auch implizite Bestandteile von professionellem pĂ€dagogischen Handlungswissen gibt, die handlungsleitend, aber nicht oder nur schwer verbalisierbar sind [6]?
Im vierten Teil werden die Ergebnisse prĂ€sentiert. Kapitel 9 gibt anhand von drei Fallstudien, die Hellrung entlang der Entwicklungsaufgaben strukturiert, interessante Einblicke in die Arbeit der Lehrenden. Die Lehrenden berichten,eingebettet in berufsbiografische EindrĂŒcke, von der praktischen Umsetzung des individualisierten Unterrichts.In Kapitel 10 âFallĂŒbergreifende Anforderungsstruktur des individualisierten Unterrichtssettingsâ arbeitet Hellrung sogenannte âHauptanforderungskategorienâ aus den Interviews mittels âtheoretischer Kodierungâ im Sinne der GroundedTheory (vgl. 121) heraus: âEtablierung von Lernstrukturenâ(201), âBewĂ€ltigung der individuellen Lernprozessberatungâ (207), âGestaltung von nicht-individualisierten Unterrichtsphasenâ (213), âEtablierung einer kollegialen Aufgabenkulturâ (217) und âEinbindung in den Schulentwicklungsprozessâ (221).
Im elften Kapitel setzt Hellrung die Untersuchungsergebnisse in Beziehung zum Hericksâschen Modell beruflicher Entwicklungsaufgaben und findet heraus, dass die in Kapitel 10 genannten Hauptanforderungskategorien jeweils zu zwei Entwicklungsaufgaben passen, wodurch fĂŒr Hellrung die gestiegene âKomplexitĂ€t der Anforderungenâ im Vergleich zu Berufseinsteigern deutlich wird (254).So ist bspw. die Anforderung an Lehrende, gemeinsam Aufgaben zu entwickeln, ein âZusammenspiel von Vermittlungskonzept und Kooperationskonzeptâ (232). Damit sieht sie Hericks Konzept bestĂ€tigt und schĂ€tzt ihre Arbeit als âPrĂ€zisierung des Konzeptsâ und als âeine Ausdifferenzierung der Anforderungsdimensionenâ eines individualisierten Unterrichts (256) ein. AuĂerdem dimensioniert sie das Bild, welches sie von den einzelnen Interviewpartnern gewonnen hat, in verschiedenen bipolaren Begriffsnetzen, die sie induktiv aus dem Material gewinnt, wie z.B. zwischen âEngagementâ und âAbwehrâ in Bezug auf den Schulentwicklungsprozess (246). Ein ResĂŒmee wird von ihr nicht gezogen, es geht Hellrung darum, die unterschiedlichen âHandlungskonzepteâ zu zeigen. Bei den âĂberlegungen zu den beruflichen Entwicklungsperspektiven der Lehrerinnen und Lehrerâ (Kap. 11.2.6) bewertet sie den Umgang der verschiedenen Lehrerpersönlichkeiten mit dem Einsatz individualisierten Unterrichts, was dem Leser bisweilen psychologisierend erscheinen kann.
Hellrung empfiehlt im 12. Kapitel denjenigen Schulen, die sich in Ă€hnlichen Prozessen befinden, dass sie âverbindliche Kooperationsstrukturenâ unter den Lehrenden schaffen, die ZustĂ€ndigkeiten klĂ€ren und eine âKultur der WertschĂ€tzungâ etablieren sollen (257). Adressiert an bildungspolitische EntscheidungstrĂ€ger empfiehlt sie eine Steigerung der finanziellen Ausstattung der Schulen (RĂ€ume, Personal) und individuelle Fortbildungen der Lehrenden. Zum Schluss berichtet Hellrung noch davon, dass sie in Lehrerfortbildungen mit Lehrenden entlang der vier Entwicklungsaufgaben und der Ergebnisse der Studie einen âSelbstklĂ€rungs- und Reflexionsprozessâ eingeleitet hat, der aus ihren Augen mit einem âpraxisrelevanten Erkenntnisgewinn verbunden warâ (263).
Insgesamt hĂ€tte das Aufgreifen der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um den Umgang mit HeterogenitĂ€t im Unterricht genauer ausfallen können. Auch eine Reflexion der Ergebnisse vor diesem Hintergrund wĂ€re denkbar gewesen. AbschlieĂend lĂ€sst sich sagen, dass die Untersuchung trotz der genannten Kritikpunkte interessante Einblicke in das Selbsterleben von Lehrenden gibt, die eine Individualisierung des Unterrichts versuchen.
[1] vgl. Kunze, I. / Solzbacher, C. (Hrsg.) (2009): Individuelle Förderung in der Sekundarstufe I und II. Baltmannsweiler; Trautmann, M. / Wischer, B. (2008): Das Konzept der Inneren Differenzierung â eine vergleichende Analyse der Diskussion der 1970er Jahre mit dem aktuellen HeterogenitĂ€tsdiskurs. In: Zeitschrift fĂŒr Erziehungswissenschaft 10, Sonderheft 9, 159-172.
[2] Klafki, W. / Stöcker, H. (1976): Innere Differenzierung des Unterrichts. In: Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik 22, 497-523.
[3] vgl. Trautmann / Wischer a.a.O.
[4] Combe, A. (2006): Schulentwicklung als Herausforderung fĂŒr die LehrerprofessionalitĂ€t â zur âIndividualitĂ€tsvergessenheitâ der deutschen Schule. In: Boenicke, R. u.a. (Hrsg.): Innovative Schule entwickeln. Heidelberg, 37-47.
[5] Hericks, U. (2006): Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe. Rekonstruktionen zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern. Wiesbaden.
[6] Schön, D. (1987): Educating the reflective practitioner. San Francisco.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Lehrerhandeln im individualisierten Unterricht
Entwicklungsaufgaben und ihre BewÀltigung
Opladen / Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2010
(276 S.; ISBN 978-3-86649-338-4; 29,90 EUR)
Cornelia Arend-Steinebach (Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Cornelia Arend-Steinebach: Rezension von: Hellrung, Miriam: Lehrerhandeln im individualisierten Unterricht, Entwicklungsaufgaben und ihre BewĂ€ltigung. Opladen / Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649338.html
Cornelia Arend-Steinebach: Rezension von: Hellrung, Miriam: Lehrerhandeln im individualisierten Unterricht, Entwicklungsaufgaben und ihre BewĂ€ltigung. Opladen / Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649338.html