EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)

Helga Kelle (Hrsg.)
Kinder unter Beobachtung
Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik
Opladen: Barbara Budrich Verlag 2010
(287 S.; ISBN 978-3-86649-301-8; 29,90 EUR)
Kinder unter Beobachtung Entwicklungsbeeinträchtigungen von Kindern haben laut Statistiken zugenommen. Flankierend werden Maßnahmen ausgebaut, die der Früherkennung von Entwicklungsrisiken und Gefährdungen dienen. So beschloss das Bundeskabinett jüngst den Entwurf eines neuen Kinderschutzgesetzes, welches darauf abzielt, ein dichtes Netz von Institutionen zu knüpfen, die auf Problemfälle aufmerksam werden und einschreiten können, wie Kindergärten und Jugendämter sowie Ärzte und Hebammen. Vor dem Hintergrund des Ausbaus von Instrumenten der Beobachtung von Kindern fokussieren die Beiträge des Sammelbandes, welche auf dem DFG-Projekt „Kinderkörper in der Praxis“ beruhen, auf den praktischen Vollzug entwicklungsdiagnostischer Verfahren. Im Vordergrund stehen nicht die auf den ersten Blick naheliegenden Fragen, warum Kinder mehr Entwicklungsbeeinträchtigungen aufweisen oder was man dagegen tun könnte. Die Autorinnen drehen analytisch das „Verhältnis von Ursache und Wirkung“ (96) um und nehmen eine wissenssoziologische und praxistheoretische Perspektivenerweiterung vor. Es geht um die Exploration derjenigen Wissensbestände, Maßstäbe und Normierungen, die in die angewandte Entwicklungsdiagnostik eingehen und auf deren Grundlage Kinder als „unauffällig“ oder „auffällig“ klassifiziert werden.

Die Autorinnen analysieren zwei Formen staatlich institutionalisierter, medizinischer Entwicklungsbeobachtung. Auf der Grundlage von teilnehmenden Beobachtungen, ethnographischen Interviews und Dokumentenanalysen rekonstruieren sie die praktische Durchführung von Kindervorsorgeuntersuchungen (U2-U9), die bei Kindern kontinuierlich bis zum Alter von fünf Jahren von niedergelassenen Kinder- und Jugendmedizinern durchgeführt werden. Des Weiteren werden die Schuleingangsuntersuchungen beleuchtet, die Mediziner der kinder- und jugendärztlichen Dienste der Gesundheitsämter vor dem Schuleintritt vornehmen. Als „entwicklungsdiagnostische Wissenskulturen“ (27) konzipiert, geraten somit die wissenschaftlichen Disziplinen und Testverfahren selbst in den Blick.

Für diesen Perspektivenwechsel machen die Autorinnen Ansätze aus der Akteur-Netzwerk-Theorie, der empirischen Wissenschaftsforschung, der Soziologie der Medizin und Prävention sowie der Gouvernementalitätsforschung heuristisch fruchtbar um einen „Bruch mit dem Selbstverständlichen“ (184) herbeizuführen. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich in ethnographischer Perspektive darauf, wie medizinische und pädagogische Wissensbestände, menschlichen Akteure, Tests sowie materiale Arrangements ihren Gegenstand – die „kindliche Entwicklung“ – praktisch und situativ hervorbringen; wie die Normen kindlicher Entwicklung prozessiert werden und Kinder als „normal“ oder „abweichend“ klassifiziert werden. In 18 Arztpraxen in Hessen beobachteten sie insgesamt 103 Kindervorsorgeuntersuchungen sowie 132 Schuleingangsuntersuchungen.

Der Band ist in drei Abschnitte unterteilt. Unter der Rubrik „Instrumentierung der Entwicklungsdiagnostik und Repräsentation von Entwicklung“ analysieren Helga Kelle und Rhea Seehaus Kinderuntersuchungshefte aus England, der Schweiz, Österreich und Deutschland ausgehend von der Annahme, dass diese einen „Erziehungskontext für Eltern“ (41) darstellen. Anhand einer Analyse der textuellen, grafischen und ikonischen Gestaltung arbeiten die Autorinnen u.a. heraus, dass die Vorsorgehefte die Entwicklungsbeobachtung des Kindes teils mehr, teils weniger als Elternaufgabe adressieren. Je stärker die jeweilige diagnostische Kultur und die Vorsorgen auf die Früherkennung von Krankheiten fokussiert sind, so Kelle und Seehaus, desto „weniger werden Eltern Beobachtungsaufgaben zugewiesen“ (89). Je stärker das Dokument auf die Erhaltung von Gesundheit fokussiert, wie in der Schweiz und in England, desto nachdrücklicher bekommen Eltern die Aufgabe der Beobachtung der Entwicklung ihres Kindes und damit die Verantwortung für seine Gesundheit zugeschrieben.

Auf die zeitliche Dimension von „Entwicklung“ fokussiert der Beitrag von Sabine Bollig. Sie arbeitet u.a. heraus, welche zeitlichen Strategien Ärzte anwenden, um mit einem strukturellen „Zeitproblem“ (101) der Entwicklungsbeobachtung praktisch umzugehen. Dieses Zeitproblem gründet in einer gleichermaßen vorsorgend als auch individuell angelegten Entwicklungsdiagnostik. Darüber hinaus zeigt sie, dass auch die entwicklungsdiagnostischen Untersuchungsprogramme selbst auf einer spezifischen zeitlichen Anordnung beruhen: Die Vorsorgeuntersuchung orientiert sich an einer „altersgerechten“ Entwicklung. Eine adäquate Untersuchung darf daher nur in einem bestimmten Zeitfenster bzw. Alter des Kindes stattfinden, worauf dann die Eltern oftmals in der Art reagieren, dass sie ihre Kinder möglichst spät im vorgegebenen Untersuchungszeitfenster vorstellen.

Die zeitliche Anordnung der Schuleingangsuntersuchungen hingegen ist auf eine „externe Referenz“ (120), den in zwei bis elf Monaten anstehenden Schuleintritt, ausgerichtet. Der Maßstab zur Beurteilung der kindlichen Entwicklung ist hierbei die Schulfähigkeit, welche für den Zeitpunkt des Schuleintritts prospektiv ermittelt wird. Während also in den Kindervorsorgeuntersuchungen die kindlichen Kompetenzen zum Lebensalter in Bezug gesetzt werden, bildet in den Schuleingangsuntersuchungen ein „gesetztes Entwicklungsalter“ (125) die Referenz für Kinder verschiedenen Alters, da das zum Einsatz kommende Testverfahren „Screening des Entwicklungsstandes“ (S-ENS) auf fünfeinhalbjährige Kinder hin normiert ist.

Im Abschnitt „Praktiken des Testens“ führen Katharina Stoklas und Anna Schweda auf Grundlage der Beobachtung von visuomotorischen Tests bei Schuleingangsuntersuchungen aus, dass die Testprodukte, aufgrund derer eine Beurteilung der visuomotorischen Fähigkeiten des Kindes erfolgt, von Arzthelferinnen, Kind und Elternteilen gemeinsam erarbeitet werden. Dies betrifft auch standardisierte Testinstrumente, welche die visuelle Wahrnehmung sowie Fertigkeiten der Hand-Auge-Wahrnehmung erfassen sollen. Stoklas und Schweda zeigen, dass die Arzthelferinnen die Hilfen bei der Testdurchführung zum Teil demonstrativ geben und pädagogische Interaktionsmuster adaptiert werden.

Der Beitrag von Anna Schweda geht darauf ein, wie Kinder bei Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen von „als-ob-Spielen“ ihre Interessen und Spielvorstellungen einbringen. Ärzte hingegen nutzen „spielerische Rahmungen“ (157) in Form von Nachahmungs- und Rollenspielen um motorische, sprachliche und kognitive Fähigkeiten informell zu überprüfen. Diese spielerischen Anleihen weisen jedoch, wie Schweda zeigt, eine „paradoxe Logik“ (174) auf: Zum einen sind die Anforderungen sehr komplex, mit denen die Kinder in der Testinteraktion konfrontiert werden. Zum anderen ändern sich oftmals die Testkriterien im Verlauf der informellen Testsituation, z.B. wenn spielerische Elemente eingesetzt werden um die motorischen Fertigkeiten eines Kindes hervorzubringen, jedoch im Testverlauf die Überprüfung der sozialen Kompetenz in den Vordergrund rückt.

Marion Ott arbeitet unter der letzten Rubrik „Ausdifferenzierung einzelner Kompetenzen und Entwicklungsaufgaben“ heraus, wie in Grobmotorikuntersuchungen beobachtbare Fertigkeiten als messbare Leistungen hervorgebracht werden. Hierbei wird erstens der Referenzkontext der medizinischen Diagnostik aufgerufen, in dessen Horizont „Leistung“ auf Fertigkeiten bezogen ist, anhand derer Kompetenzniveaus oder Entwicklungsrisiken eruiert werden. Zweitens spielt der Referenzkontext des Sports eine Rolle, welcher durch die Inszenierung eines Wettbewerbs aufgerufen wird und in dessen Horizont „Leistung“ potenziell auf die Überbietung der Leistungen anderer Personen oder bestimmter altersspezifischer Erwartungen bezogen ist.

Vor dem Hintergrund, dass die Durchführungspraktiken des Grobmotoriktests gegenüber den standardisierten Testvorgaben stark modifiziert sind, problematisiert Ott zudem, inwieweit die epidemiologische und individualdiagnostische Funktion des in den Schuleingangsuntersuchungen verwandten Tests überhaupt miteinander vereinbar sind. Denn die Ergebnisse des im S-ENS enthaltenen Grobmotorik-Tests gehen in das sog. „Motorik-Modul“ ein, das beansprucht, bundesweit repräsentative Normen für die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern zu generieren.

Helga Kelle problematisiert im letzten Beitrag des Bandes u.a., dass die instrumentell gestützten Sprachüberprüfungen konzeptionell auf die deutsche Sprache und auf Einsprachigkeit ausgerichtet sind. So stellt das Testverfahren, das die Ärzte mehrheitlich in den Vorsorgen verwenden, nicht fest, ob Sprachfehler auf eine grundlegende Spracherwerbsstörung hinweisen oder aber dem Erwerbsstand in der Zweitsprache Deutsch geschuldet sind. In den Schuleingangsuntersuchungen gibt zwar der S-ENS die Überprüfung des Migrationshintergrundes bzw. der Mehrsprachigkeit vor und klassifiziert die Kinder in fünf „Kompetenzniveaus“ (237) der deutschen Sprache. Jedoch werden die Kriterien dieser Einsortierung auf der Ebene des Testes nicht ausgeführt.

Ärzte unterlassen es zudem, Kinder, die in ein bestimmtes (defizitäres) Kompetenzniveau der deutschen Sprache einsortiert wurden, von der Durchführung einzelner Tests des S-ENS auszuschließen, wie es der Test vorschreibt. Diese „individualdiagnostisch motivierte Inklusion mehrsprachiger Kinder“ (254) in den S-ENS hat Kelle zufolge auf epidemiologischer Ebene den problematischen Effekt, dass die sprachliche Auffälligkeit einer Gruppe unter allgemeine sprachliche Störungen subsumiert wird und so in die Gesundheitsberichterstattung eingeht, wodurch Kinder mit mehrsprachlichem Hintergrund epidemiologisch fehlrepräsentiert sind.

Fazit: Die Stärke des Bandes liegt in der theoriegeleiteten, methodisch konsequenten Umsetzung des aus praxistheoretischer und wissenssoziologischer Perspektive innovativen Erkenntnisinteresses, das den „Bruch mit dem Selbstverständlichen“ mit Blick auf die zur Anwendung gebrachten wissenschaftlichen Disziplinen der Entwicklungsdiagnostik stringent vollzieht. Der Band besticht zudem durch die materiale Veranschaulichung, mit der die Autorinnen ihre Ausführungen anhand der Beobachtungsprotokolle entwickeln. Besonders aufschlussreich ist die Verbindung von Dokumenten- bzw. Instrumentenanalyse und ethnografischer Rekonstruktion der praktischen Nutzung der Instrumente: Hier zeigt sich u.a., dass standardisierte Tests nicht „falsch“ durchgeführt werden, sondern eine Bandbreite von Durchführungspraktiken vorliegt und sich oftmals bereits auf der Ebene des Instruments bzw. der Testaufgaben Inkonsistenzen finden lassen. Zur Verständlichkeit der (für nicht entwicklungsdiagnostisch Bewanderte) manchmal komplizierten Materie tragen mehrere Abbildungen und Darstellungen bei.

Gefehlt hat mir ein Gesamtfazit, welches die Ergebnisse der einzelnen Beiträge vor dem Hintergrund des theoretischen und historischen Problemaufrisses zur Entwicklungskindheit und der eingangs vorgestellten theoretischen Bezüge situiert, auch wenn die meisten Beiträge sich dadurch auszeichnen, dass sie ihre empirischen Ergebnisse sehr dezidiert auf theoretische Fragestellungen und Forschungsdebatten rückbeziehen. Spannend wäre es zudem gewesen, etwas darüber zu erfahren inwieweit „Entwicklung“ praktisch auch mit Geschlechternormen oder anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit und Differenz verknüpft ist. Den Wert und Innovationsgehalt der einzelnen Beiträge, die eine höchst lesenswerte Binnensicht auf die institutionalisierten, entwicklungsdiagnostischen Verfahren der Beobachtung von Kindern ermöglichen, schmälert dies nicht.
Eva Sänger (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eva Sänger: Rezension von: Kelle, Helga (Hg.): Kinder unter Beobachtung, Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik. Opladen: Barbara Budrich Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649301.html