
Nach einleitenden Bemerkungen zum Forschungsstand und zum eigenen Vorgehen beschäftigt sich Banach in ihrem ersten Hauptteil „Die Fürsorgeerziehung der ‚Inneren Mission’“ zunächst mit Johann Hinrich Wicherns (1808-1881) Verständnis von Mission als Verbindung von Verkündigungsarbeit mit dem diakonischen Auftrag christlicher Liebestätigkeit. Der evangelische Theologe gilt wegen des Aufbaus des „Rauhen Hauses“ in Hamburg – einer Rettungsanstalt für verwahrloste und schwer erziehbare Kinder und Jugendliche – und der Initiierung des „Centralausschusses für die Innere Mission“ heute gemeinhin als ein Vorläufer moderner Fürsorgeerziehung sowie als Gründungsfigur der Diakonie. Weiter beschreibt Banach, wie sich Fürsorgeerziehung als Arbeitsfeld der Inneren Mission etablierte – sowohl in der als auch gegen die Tradition Wicherns. In Folge der rechtlichen Festschreibung von Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung im Preußen der Kaiserzeit führten die Einrichtungen der Inneren Mission zunehmend diesen ‚Sonderfall‘ öffentlicher Erziehung durch. Wie dieser Auftrag praktisch erfüllt wurde, beleuchtet die Verfasserin exemplarisch an der Organisation der Ricklinger Fürsorgeerziehungsanstalt sowie an der Strukturierung des Alltags in dieser Anstalt, der für die Zöglinge größtenteils durch ‚eiserne’ Disziplin und harte körperliche Arbeit bestimmt war. Anschließend bringt sie die rigide Pädagogik der Ricklinger Anstalt mit dem Theologieverständnis ihres langjährigen Direktors Johannes Voigt in Verbindung. Entlang der zeitgenössischen Unterscheidung von ‚liberaler’ vs. ‚positiver’ Theologie kommt Banach zur Einschätzung, dass die theologischen Grundlagen Voigts auch nach damaligen Maßstäben als äußerst konservativ einzuordnen sind: Der Erzieher sollte darauf hinwirken, dass sich der Zögling für den christlichen Lebensweg entscheidet, andere „Lebensentwürfe, individuelle Interessen, Bedürfnisse, Fähigkeiten bzw. andere Weltanschauungen fanden in diesem Fürsorgeerziehungsmodell keinen Platz“ (119).
In ihrem zweiten Hauptteil zeigt Banach auf, dass die repressive Pädagogik des Landesvereins für Innere Mission und der Ricklinger Fürsorgeerziehungsanstalt zur Zeit der Weimarer Republik in theoretischer wie in praktischer Hinsicht Konkurrenz erhielten: Vor einem moderneren weltanschaulichen Hintergrund formulierte pädagogische Konzepte, wie beispielsweise die liberalen Positionen der neu gegründeten Gilde Soziale Arbeit, ließen die Ricklinger Fürsorgeerziehung und ihr auf klaren Hierarchien gegründetes sowie auf Missionierung zielendes Erziehungsverständnis bereits vor dem Rechtsstreit unter Rechtfertigungsdruck geraten. Gleiches resultierte aus der Gründung zweier eigener Landesaufnahmeheime durch die Provinz, die in ihren Konzeptionen ‚reformpädagogischen’ Gedanken nahe standen und bevorzugt mit Fürsorgezöglingen belegt wurden. Der Landesverein für Innere Mission reagierte, derart in die Defensive geraten, mit einer dezidiert konfrontativen Haltung gegenüber der laizistischeren politischen Ordnung der Weimarer Republik und betonte den christlich-missionarischen Charakter der eigenen Arbeit.
Ende 1929 – und hier setzt Banachs dritter und letzter Hauptteil ein, der sich dem „Ricklinger Fürsorgeprozess“ im engeren Sinne widmet – wurde gegen drei Erzieher der Anstalt die Anklage erhoben, mehrere ihrer Zöglinge körperlich misshandelt zu haben. Obwohl die Aussagen der klagenden jungen Männer in einigen Details widerlegt wurden, schenkte das Gericht ihrer Version der Geschichte mehr Glauben als den Aussagen der Erzieher, die die ihnen zur Last gelegten Taten bestritten. Die Beschuldigten wurden in erster Instanz des Prozesses zu Haftstrafen zwischen zwei Wochen und zwei Monaten verurteilt. An den Verfahren gegen die Angestellten der Inneren Mission waren zwei pädagogische Fachleute maßgeblich beteiligt, die ‚reformerischen‘ Gedanken nahestanden: Wilhelm Osbahr, Leiter der ‚Vorzeigeanstalt’ „Schloss Heiligenstedten“, war in der ersten Instanz als Gutachter tätig, und Erich Weniger wurde in der Berufungsverhandlung mit der Ausarbeitung eines Vergleichs beauftragt, der von den beiden Parteien angenommen wurde.
Progressive Kreise, wie die um Curt Bondy, fühlten sich durch den Prozess in ihrer Position bestätigt, für einen selbstkritischen Umgang der Fürsorgeerziehung mit eigenen Missständen einzutreten. Die Vertreter der Inneren Mission hingegen fühlten sich als Opfer einer Politisierung der Erziehungsfürsorge. Eine Anpassung der erzieherischen Grundsätze an die sich im Zuge von Demokratisierung und Pluralisierung verändernden pädagogischen Orientierungen hätte vor dem Hintergrund ihres Deutungsmusters einen Verrat der eigenen christlich-konservativen Identität bedeutet. Tatsächlich war das Urteil des Prozesses, so die Interpretation Banachs, nicht mit den theologisch-weltanschaulichen Prämissen der Inneren Mission vereinbar: Dass den Aussagen der ungläubigen Zöglinge mehr Vertrauen geschenkt wurde als den Repräsentanten der christlichen Institution, lief dem hegemonialen Selbstverständnis der strenggläubigen Protestanten zuwider. Die Autorin kommt zu dem Schluss, „dass trotz des Urteils und der Einigung der beiden Parteien im Vergleich weiterhin zwei Auffassungen über die Fürsorgeerziehung in Ricklingen bestehen“ (212).
Banach beschließt die Arbeit mit einem kurzen „Resümee“, wobei sie ausführlich einen zeitgenössischen Standpunkt Erich Wenigers zur Vermittlung von konfessioneller und staatlicher Fürsorgeerziehung zitiert, der neben der Benennung einiger gemeinsam geteilter Überzeugungen jedoch in erster Linie durch eine gewisse Skepsis dahingehend geprägt zu sein scheint, wie das religiöse Ziel der Rettung praktisch mit der pädagogischen Idee der Freiheit zu vermitteln sei. Ferner plädiert sie für eine differenzierte, historisch exakte Beurteilung des Konflikts zwischen Fachlichkeit und Konfessionalität in der Fürsorgeerziehung, die sie als die beiden widerstreitenden Positionen definiert. Das letzte Wort jedoch bleibt normativ: „In Anlehnung an die Ziele der ‚modernen‘ Pädagogik zur Zeit der Weimarer Republik“ (223) formuliert sie einen kleinen Forderungskatalog an die heutige Fachöffentlichkeit. Diese wird u.a. dazu aufgefordert, sich für ein Kinderrecht auf gewaltfreie Erziehung, gegen geschlossene Unterbringung und für den Vorrang von Fachlichkeit gegenüber Wirtschaftlichkeit in den Erziehungshilfen einzusetzen.
Vom „Resümee“ einmal abgesehen, zeichnet sich Banachs Rekonstruktion in erster Linie durch eine quellennahe Rekonstruktion der zeitgenössischen Umstände und des historischen Geschehens aus. Stilistisch schlägt sich dies in teils ausführlichen wörtlichen wie indirekten Zitaten aus dem großen Materialfundus nieder, die von der Autorin relativ sparsam kommentiert werden. So äußert sich auch im „Resümee“ erstmals ein Widerspruch expliziter, der sich bis dahin eher unterschwellig durch die historische Rekonstruktion zieht: Die differenzierte, mehrperspektivische und sich schnellen Wertungen verschließende Aufarbeitung der überlieferten Zeugnisse wird bisweilen von einer weitgehend impliziten Deutungsfolie durchkreuzt, gemäß der einer – stets in einfachen Anführungsstrichen mitgeführten – ‚modernen’, reformorientierten und staatlichen Pädagogik der Weimarer Republik das Pendant einer repressiven, autoritären und konfessionellen Anstaltserziehung der Kaiserzeit entgegengesetzt wird. Zweifelsfrei verleitet dieses besonders schwarze Stück konfessioneller Fürsorgeerziehung geradezu zu einer solchen Polarisierung, vor deren Hintergrund pädagogische Geschichte als Erfolgsgeschichte erscheinen muss. „Sozialpädagogische Professionalität“ wird somit zum Idealtypus, der sich zu Recht historisch gegenüber einer diakonisch motivierten Arbeit durchgesetzt hat und auch gegenwärtig wieder gegen ökonomische Interessen und disziplinierende Ansätze zu bewahren ist. Auch wenn sich dieses Deutungsschema in der sozialpädagogischen Diskussion aktuell einiger Zustimmung erfreut, ist es als nicht näher explizierte und begründete Hintergrundannahme, besonders in der hier vertretenen Schärfe, problematisch. Hieraus ergibt sich auch die Konsequenz, dass die Autorin, wie der Untertitel verrät, mit der einen Fürsorgeerziehungsanstalt der Inneren Mission Schleswig-Holstein gleich die gesamte „Evangelische Heimerziehung auf dem Prüfstand“ sieht.
Von dieser Kritik unangetastet bleibt jedoch der Wert der historischen Rekonstruktion. Denn gerade wenn man von der bisweilen polarisierenden und teleologischen Form der Geschichtsschreibung absieht, bleibt die Arbeit nicht weniger als ein fundiert recherchiertes Schaustück für eine repressive, sich religiös definierende Erziehungspraxis, die angesichts gesellschaftlicher, politischer und fachlicher Modernisierungsprozesse zunehmend unter Druck gerät. Die Arbeit gibt Aufschluss über die Beharrungstendenzen der Verantwortlichen des zuständigen „Landesvereins für Innere Mission“ gegenüber den Forderungen nach einer „Pädagogisierung“ (192) der sich konfessionell definierenden Arbeit des Vereins sowie den Immunisierungsstrategien gegenüber der konkreten Kritik, die schlichtweg als „religionsfeindlich“ nivelliert wird. Bemerkenswert ist weiterhin, wie Sarah Banach den theologisch-weltanschaulichen Horizont im Umfeld der Inneren Mission mit den konkreten Aus- und Überformungen der Fürsorgeinstitutionen in Verbindung bringt. Inhaltlich richtet sich ihre Arbeit damit an einen akademischen, an der Geschichte der Sozialpädagogik und der diakonischen Jugendhilfe interessierten Leserkreis.