Hinter dem sehr allgemeinen Titel des Buches verbirgt sich im Kern eine differenzierte und anspruchsvolle Studie (die Habilarbeit der Autorin) über ein „bildungspolitisches Großexperiment zum Abbau sozialer Ungleichheit“ (14) in den 1950er bis 1960er Jahren in der DDR – die Gründung und Schließung der Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF). Die 1946 gegründeten Vorstudienanstalten bzw. -abteilungen wurden 1949 in Arbeiter- und Bauernfakultäten umgewandelt. Bereits 1962 erfolgte de facto ihre Schließung (bis auf eine ABF an der Bergakademie Freiberg) per ZK-Beschluss (198ff.).
Der Fokus der Untersuchung liegt auf der bildungspolitischen Situation der DDR der 1950er Jahre. Im Zentrum stehen die ABF als Synonym für „gegenprivilegierende Bildungspolitik“ (ein recht „unhandlicher“ Begriff), die als eigenständige Fakultäten an 13 Universitäten angegliedert waren, mit dem Ziel, bildungsferne Schichten (v. a. Arbeiter und Bauern) zum Abitur und Hochschulstudium zu führen. Vorwiegend am Beispiel der ABF Greifswald wird im Hauptteil der Studie anhand umfangreicher Primärquellen und selbst erhobenen sozialwissenschaftlichen Daten (narrative Interviews, standardisierter Fragebogen) sehr fundiert und eindrucksvoll dargestellt, inwieweit die anvisierte Zielgruppe diese Möglichkeiten nutzte und in welchem Maße die Arbeiter- und Bauernfakultäten zur Aufhebung des tradierten Zusammenhanges zwischen Bildung und sozialer Ungleichheit beigetragen haben. Damit hat Miethe einen bedeutsamen Beitrag zur Bildungsgeschichte geleistet.
Grundlegend werden von der Autorin im 1. Kapitel verschiedene theoretische Ansätze dargestellt, diskutiert und modifiziert, die bisher zur Erklärung des Zusammenhangs von Bildung und sozialer Ungleichheit in der SBZ/DDR diskutiert bzw. auf die Bedingungen in der DDR übertragen worden sind. Dies sind: (1) das marxistisch geprägte, in der DDR bei Politikern bevorzugte Erklärungskonzept der Brechung des Bildungsmonopols der herrschenden Klasse, (2) der sozialisationstheoretische, (3) der modernisierungstheoretische und (4) der reproduktionstheoretische Erklärungsansatz, (5) Bourdieus Konzeption des kulturellen und politischen Kapitals sowie (6) der Political-Process-Ansatz, auch bezeichnet als Ansatz politischer Gelegenheitsstrukturen. Für Ihr Anliegen, die ABF nicht als isolierte Bildungsinstitution, sondern im Gesamtkontext des sich verändernden Bildungssystems der DDR zu betrachten, werden die unter (5) und (6) genannten theoretischen Ansätze als besonders geeignet eingeschätzt und ausgiebig erörtert.
Zum einen erweist sich die von ihr vorgenommene weitere Differenzierung der Konzeption Bourdieus vom politischen Kapital in „ererbtes politisches Kapital“ (z.B. soziale Herkunft als Arbeiter) und „erworbenes politisches Kapital“ (z.B. systemloyales Verhalten durch SED-Mitgliedschaft) als methodisch tragfähig, um bildungspolitische Entwicklungen und Verhaltensweisen größerer Personengruppen, insbesondere solcher „sonstiger“ Herkunft, auch über einen längeren Zeitraum zu erklären. Zum anderen kann mit dem von der Autorin favorisierten Konzept der „politischen Gelegenheitsstruktur“ besonders für die Nachkriegs- und die 1950er Jahre in der DDR erklärt werden, wie politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen den Aufbau bestimmter Bildungsstrukturen erst ermöglichen und diese tatsächlich durch die anvisierte Zielgruppe der Arbeiter und Bauern als Chance genutzt werden. Als Erklärungskonzept für die genannte Problematik halte ich auch einen systemtheoretischen Ansatz für geeignet, denn die Verwirklichung von Möglichkeiten (hier Gelegenheiten) durch den Einfluss bestimmter Rahmenbedingungen vollzieht sich in einem Möglichkeitsfeld mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.
Tatsächlich bestanden nach dem Ende des II. Weltkrieges in Deutschland in allen vier Besatzungszonen gleiche Chancen/Möglichkeiten (Gelegenheiten) für die Umgestaltung des Bildungssystems, die aber sehr unterschiedlich genutzt wurden. Unter dem Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht sind in der SBZ zügig erste Schritte einer grundlegenden Bildungsreform initiiert und durch die neue Regierung/„Arbeiter- und Bauernmacht“ durchgesetzt worden, denn Bildung und Erziehung der „neuen Generation“ waren sowohl für SMAD als auch die SED Schlüsselpositionen zur Durchsetzung und Festigung des Machtanspruchs (so z.B. Entlassung aller Nazi-Lehrer und Ausbildung von „Neulehrern“; Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder sowie Abschaffung der Einklassenschulen bis Mitte der 1950er Jahre – dies in der BRD ca. 20 Jahre später; Zentralisierung des Bildungssystems).
Da es bis 1948 nicht gelungen war, den Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder an den Universitäten wesentlich zu erhöhen, ging die SED zu diesem Zeitpunkt „zu einer gezielten gegenprivilegierenden Bildungspolitik über“ (327ff.). Anfang der 1950er Jahre ist nach Miethe der Zeitraum, in dem für Arbeiter- und Bauernkinder die besten Bedingungen für den Zugang zu höherer Bildung bestanden. Dem kann ich zustimmen. Dabei war die Gründung der ABF als Einrichtung des zweiten Bildungsweges (allein schon quantitativ) nicht das Hauptinstrument der angezielten sozialen Umschichtung. Aber immerhin haben vom Zeitpunkt der Eröffnung der ABF 1948 bis zu ihrer Schließung 1962 35.000 Absolventen das Abitur abgelegt, davon ca. 80 % Arbeiter- und Bauernkinder und 20 % „sonstiger“ Herkunft. Dies waren 10 bis zu 15 % der Studentenschaft an den Universitäten (244). Der Hauptweg der Förderung verlief jedoch über die veränderten Zulassungsrichtlinien an den Oberschulen, die Arbeiter- und Bauernkinder im genannten Zeitraum gegenüber Kindern anderer Schichten deutlich bevorzugten. Damit war die ideologisch begründete Erwartung verbunden, sehr gebildete Personen mit „Klassenstandpunkt“ und politisch loyalem Verhalten für künftige Leitungsfunktionen in Gesellschaft und Wirtschaft zu qualifizieren. Dies ist, wie die Autorin anhand vielfältiger Quellen belegt, in beabsichtigtem Maße nicht gelungen, wodurch sich die Chancen für andere, bildungsnahe Schichten durch Erwerb politischen Kapitals enorm vergrößerten.
Bereits Mitte der 1950er Jahre setzte nach Meinung der Autorin „die administrative Vorbereitung der Schließung der Chancenstrukturen für Arbeiter- und Bauernkinder ein“ (329). Dieser Aussage kann ich nur eingeschränkt zustimmen, da dies sicher nur für die ABF zutrifft. Es ist unstrittig, dass die soziale Umschichtung in den 1950er Jahren mit einem massiven Aufstieg von Personen bildungsferner Herkunft verbunden war und sich die „neue Intelligenz“ der 1980er Jahre zum großen Teil aus Kindern der Bildungsaufsteiger der 1950er Jahre rekrutiert hat. Günstige Möglichkeiten für die „nachwachsende“ Arbeiterschaft hat es bis zum Ende der DDR z.B. durch Vorkurse für Facharbeiter an 20 von insgesamt 53 Universitäten und Hochschulen gegeben, wenn auch nicht in dem Maße, wie von der DDR-Regierung propagiert.
Für die Schließung der ABF hebt die Autorin mehrfach zwei Gründe besonders hervor: zum einen der hohe ökonomische Aufwand (z.B. Stipendien, Internate, Studium außerhalb von Berufstätigkeit), zum anderen die nicht erfüllten hohen (man muss sagen: unrealistischen) Erwartungen bezüglich der fachlichen Leistungen und eines systemkonformen Verhaltens. Letzteres ist m. E. nicht ausreichend belegt. Vielmehr gab es doch ein komplexes Ursachenbündel, eine Gemengelage von Gründen, wie bereits die ausgewerteten Dokumente zeigen. Ich würde der offiziellen Begründung weitgehend zustimmen, dass die neuen Möglichkeiten zur Erreichung der Hochschulreife wie Abiturklassen mit Berufsausbildung, Berufsschulklassen mit Abitur, Abendoberschule und Volkshochschule von den Werktätigen in immer stärkeren Maße genutzt wurden, d.h. die ABF ihre Funktion erfüllt hatten.
Alles in allem liegt hier eine fundierte Studie zum Problem der Bildungsprivilegierung in der DDR vor, die auch angeblich umfangreiche Bildungsdiskriminierung in Oberschulen und Hochschulen in einem anderen Licht erscheinen lässt.
Literatur- und Quellenverzeichnis, Orts- und Sachregister sowie zahlreiche Tabellen und Abbildungen erleichtern die Arbeit.
EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)
Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR
Möglichkeiten und Grenzen einer gegenprivilegierenden Bildungspoltik
Opladen u. Farmingthon Hills: Barbara Budrich 2007
(387 S.; ISBN 978-3-86649-094-4; 36,00 EUR)
Anne Wessel (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anne Wessel: Rezension von: Miethe, Ingrid: Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR, Möglichkeiten und Grenzen einer gegenprivilegierenden Bildungspoltik. Opladen u. Farmingthon Hills: Budrich 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649094.html
Anne Wessel: Rezension von: Miethe, Ingrid: Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR, Möglichkeiten und Grenzen einer gegenprivilegierenden Bildungspoltik. Opladen u. Farmingthon Hills: Budrich 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649094.html