EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)

Hans-Jürgen von Wensierski / Claudia Lübcke (Hrsg.)
‚Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause‘
Biographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland
Opladen / Berlin / Toronto: Budrich 2012
(434 S.; ISBN 978-3-86649-056-7; 44,00 EUR)
‚Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause‘ Mit ihrer Monographie präsentieren Hans-Jürgen von Wensierski und Claudia Lübcke umfangreiche und hochaktuelle Ergebnisse einer von 2006 bis 2008 durchgeführten biographisch orientierten Studie, die, wie sie proklamieren, „jenseits gängiger Stereotype den spezifischen Pluralismus in den Lebensentwürfen und den Lebensstilen junger Muslime in Deutschland nachzeichnet“ (11). Die Publikation richtet den Fokus auf die Prozesse des Aufwachsens sowie auf die Lebenswelten junger MuslimInnen in Deutschland. Ausgehend von der Frage: „Wie stellt sich die Struktur und der Prozessverlauf der Jugendphase von Muslimen in Deutschland dar?“ (ebd.), rekonstruieren die AutorInnen in der Tradition der Biographie- und Jugendforschung mit qualitativem Instrumentarium Biographien von über 100 muslimischen Jugendlichen mit mehrheitlich türkisch-familialem Migrationshintergrund. Dabei erarbeiten sie ein Konzept zur Erfassung der strukturalen wie prozessualen Spezifika (der Gestaltung) der Jugendphase von MuslimInnen in Deutschland. Aufgezeigt wird vor allem die bindende Kraft muslimischer Milieus und deren normativer Einfluss auf die Genese von Orientierungsmustern sowie die Lebensführung junger MuslimInnen.

Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt. Während sich die AutorInnen im ersten der Thematik Alltags- und Lebenswelten junger Muslime in Deutschland widmen, wendet sich das zweite Kapitel der Kurzdarstellung des methodischen Zugangs zu. Anschließend folgt eine in ihrer Detailliertheit beeindruckende Darstellung von 17 Fallstudien zu Biographien junger MuslimInnen, die in einer Typologie mündet. Diese Typologie umfasst Muster der Jugendphase im „Spannungsverhältnis zwischen eher säkularen Jugendbiographien und solchen mit einer eher religiös strukturierten Lebensführung“ (18). Die Publikation schließt mit einer Diskussion und Zusammenfassung der Ergebnisse.

Im ersten Kapitel der Studie wird ein fundierter und umfassender Überblick über den Forschungsstand zu MuslimInnen in Deutschland dargestellt und zum Teil kritisch diskutiert, wobei Wensierski/Lübcke hier bereits einige wesentliche Thesen sowie eine Erläuterung des zentralen Ergebnisses ihrer Arbeit einfließen lassen. Demzufolge lässt sich die soziale Struktur der Jugendphase von MuslimInnen als islamisch-selektives Bildungsmoratorium charakterisieren (vgl. 25), das sich in prägnanter Weise hinsichtlich familialer Bindungen bzw. deren Transformation sowie der Partnerschafts- und Sexualmoral von verbreiteten, individualisierten Jugendphase-Modellen der Gegenwart unterscheidet; wenngleich in anderen Bereichen analoge Strukturmerkmale ausgemacht werden. Ähnlichkeiten mit einer individualisierten Jugendphase heben Wensierski/Lübcke insbesondere bzgl. der Relevanz eines erweiterten Bildungsmoratoriums, der Freizeitkultur und des Konsumverhaltens hervor, aber auch bzgl. der Einbindung in Peergroups und Jugendkulturen. Insgesamt ergibt sich, so die AutorInnen, „das vertraute Bild einer freizeitkulturellen Jugendphase in altershomogenen Szenen, die auch verstärkt im außerfamiliären Sozialraum der Städte und der kommerziellen Angebote der Kultur- und Freizeitindustrie stattfindet“ (21) – dies aber eben häufig vor dem Hintergrund der angedeuteten milieubedingten Unterschiede.

Im Anschluss an die Darstellung dieser Strukturhypothese stellen die AutorInnen sowohl angemessen umfangreich als auch präzise den Stand der Forschung zu MuslimInnen im Kontext von Familie, Religiosität, Bildungssystem, Jugendkulturen sowie Sexualmoral/-erziehung und Sexualität dar. Auch hier deuten sie bereits Aspekte ihrer o.g. Hypothese an – bspw. in Bezug auf die Sexualmoral jugendlicher MuslimInnen, hinsichtlich derer sie nachzeichnen, dass Vorstellungen einer verbotsorientierten und asketischen Haltung sehr populär und islamische Normen, Sexualität betreffend, entsprechend weitgehend „orientierungsleitend und bindend“ (133) sind.

Im Methodenteil wird das Vorgehen in der Studie verdeutlicht: Die zustande gekommenen 107 narrativen Interviews mit – je zur Hälfte männlichen und weiblichen – 20- bis 30-jährigen SunnitInnen, SchiitInnen und AlevitInnen „der sog. Zweiten Generation“ (135) mit unterschiedlichen Bildungshintergründen wurden biographieanalytisch ausgewertet und um eine thematische Querschnittsanalyse ergänzt (vgl. 137ff).

In dem als Hauptteil der Studie ausgewiesenen dritten Teil werden die Ergebnisse der Auswertung von 17 Interviews detailliert dargestellt. Die Falldarstellungen werden systematisch einer komplexen Typologie mit zahlreichen Subtypen bzw. Variationen zugeordnet, die sich an „vier zentralen Typen“ (13) orientiert: Die Typen 1 und 2 zeichnen sich durch eine große Nähe zum „Modell einer [an der] westlich-liberalen Adoleszenz orientierten Jugendphase“ (23) und durch säkulare bzw. rudimentär religiöse Bezüge aus. Für die „religiös orientierten Typen 3 und 4“ (24) sind die skizzierten Unterschiede in Bezug auf ein individualisiertes, liberales Jugendmodell von großer Bedeutung (u.a. in Bezug zur Transformation familialer Bindungen, zur Sexualmoral und zu Partnerschaften). Die Jugendphase weist hier zwar auch verlängerte Bildungsphasen mit einer individualisierten Gestaltung berufsbiographischer Lebensentwürfe und der Teilhabe an kommerziellen Alltagskulturen sowie Peers auf, sie bleibt aber mit „tendenziell traditionellen Konventionen, Normen und Werten der muslimischen Milieus verbunden“ (25).

Nach Wensierski/Lübcke stellen „die Religion und die islamischen Milieus in Deutschland“ (410) für alle Typen wesentliche Strukturmerkmale für die Gestaltung der Jugendphase dar. Die AutorInnen verstehen den Islam in Anlehnung an Geertz als „kulturelles System, das über soziale Institutionen, über Traditionen, Rituale und Konventionen in der Lebenswelt der Jugendlichen verankert ist“ (408). Der forschende Blick liegt in der Studie insofern v.a. auf jenen sozialen und religiös begründeten Werten, die über muslimische Milieus normativen Einfluss auf die Art und Weise der Ausgestaltung von Jugendbiographien nehmen – und dies relativ unabhängig davon, ob die jungen MuslimInnen nun eine säkulare oder an religiösen Normen orientierte Jugendphase leben: Auch für säkulare Jugendliche „bildet […] das Konzept des ‚islamisch-selektiven Bildungsmoratoriums‘ so etwas wie einen normativen Horizont ihres islamischen Herkunftsmilieus, zu dem sie sich jeweils legitimatorisch verhalten und gegen den sie sich ggf. abgrenzen müssen“ (413).

Im abschließenden Teil der Studie erfolgt eine knappe und zusammenführende Darstellung der Ergebnisse sowie deren Diskussion.

Die innovative und umfangreiche Studie veranschaulicht in imposanter und facettenreicher Weise die Pluralität und Heterogenität der Lebensentwürfe muslimischer Jugendlicher in Deutschland. Die damit vermittelten Erkenntnisse und die Breite der dargestellten, rekonstruktiv gewonnenen Ergebnisse zu den Biographien muslimischer Jugendlicher in Deutschland lassen dabei über manche Schwächen der Publikation hinwegsehen. Diese finden sich insbesondere hinsichtlich der begrifflichen Erfassung verschiedener Phänomene: So bringt bspw. die häufig verwendete und dichotomisierende Gegenüberstellung orientalisch vs. westlich eher Verzerrungen der Komplexität des Phänomenbereichs mit sich, als einen analytischen Mehrwert. Nichtsdestotrotz ist die vorgestellte Studie ein Meilenstein in der erziehungswissenschaftlichen Forschung zu jungen MuslimInnen, der einlädt, daran anknüpfend weitergehende jugendtheoretische und andere Forschungsfragen zu formulieren und die in der Studie von Wensierski und Lübcke erarbeiteten Erkenntnisse auf diese Weise zu vertiefen.
Stefan E. Hößl (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefan E. Hößl: Rezension von: Wensierski, Hans-Jürgen von / Lübcke, Claudia: ‚Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause‘, Biographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland. Opladen / Berlin / Toronto: Budrich 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649056.html