Zunächst vorab: Wolfgang Jantzen hat gemeinsam mit Georg Feuser als Begründer einer „Materialistischen Behindertenpädagogik“ das Fach Sonder- / Behindertenpädagogik auf einschneidende Weise in den 1970er bis 90er Jahren reformiert. Verbunden war hiermit vor allem eine Abkehr von der geisteswissenschaftlichen Tradition des Faches, hin zu einer multiperspektivischen und interdisziplinären Verständigung über Behinderung – wobei Jantzen Behinderung paradigmatisch als Lupe für gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse verstand.
Das unter dieser Perspektive großangelegte Projekt einer fachübergreifenden synthetischen Humanwissenschaft konnte aber sein hochgestecktes Ziel nicht erreichen – einmal angesichts der fachbezogenen Ausdifferenzierung der Universitäten und andererseits aufgrund einer klaren marxistischen Ausrichtung des gemeinsamen Theorievorschlags. Nichtsdestotrotz hat die „Materialistische Behindertenpädagogik“, wie sie sich selbst definierte, vor allem Einsichten in die gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse des Phänomens Behinderung hervorgebracht wie auch differenzierte Hinweise in Bezug auf die psycho-physischen Niederschläge isolierender Bedingungen eines „Behindertseins“ erarbeitet. Damit hat sie nicht nur Anschlüsse für medizinische, psychologische, soziologische und historische Forschungen geliefert – wobei letztere nunmehr u.a. unter der Flagge der Disability Studies segeln; sie hat auch Grundlagen zu einem aktuellen sozialrechtlichen Verständnis von Behinderung vorgelegt, welches auf einer Verknüpfung von sozialen, psychischen und physischen Dimensionen basiert. Eine solche Definition vertritt nicht nur inzwischen die Weltgesundheitsorganisation, sondern liegt auch dem Behinderungsverständnis der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde. Und sie hat ein pädagogisches Verständnis für die Bedingungen des Behindertwerdens eröffnet, in der eine rehistorisierende Diagnostik in einem Konzept von Dialog und Kooperation im Zentrum steht und damit einer defektologischen, caritativen und vor allem paternalistischen Perspektive eine endgültige Absage erteilt. Hiermit ist die „Materialistische Behindertenpädagogik“ nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern auch das bislang uneingeholt geschlossenste Theoriegebäude des Fachs (Feuser hat vor allem im Bereich der Didaktik ergänzend gearbeitet).
Aber ein Problem bleibt: abgesehen von den sozio-historischen Teilen ist die Arbeit aufgrund der vielen neurowissenschaftlichen Bezüge nur schwer nachvollziehbar. Bietet nun die 1998 gehaltene und inzwischen auf der Grundlage eines unbearbeiteten Vorlesungstranskripts veröffentlichte Version eine Abhilfe? (Überarbeitungen wurden nur hinsichtlich der aktuellen Prüfung der zitierten Internetquellen vorgenommen.) Die Rezensentin muss gestehen: Jein.
Einerseits referiert der Text die einschlägigen Bausteine der Materialistischen Behindertenpädagogik (Behinderungsverständnis, Sozial- und Ideengeschichte, Integration und Enthospitalisierung, Psychologie der Behinderung, Diagnostik, Pädagogik und Therapie) in einer gut verständlichen Sprache und in einer gut nachvollziehbaren systematischen Reihenfolge, andererseits – und dies ist dem nicht überarbeiteten Vortragsstil geschuldet – sind diese Referate aber dann doch z.T. auch assoziativ, exemplarisch und wenig vollständig (bis hinein in Literaturverweise, wo amüsanterweise auch der Referent mit „ist mir gerade entfallen“ zitiert wird, z.B. 160). Zudem bezieht sich der Autor verständlicherweise auf seine Zeit, d.h. Entwicklungen nach 1998 werden nicht mehr aufgenommen (auch hier bedauert die Rezensentin die fehlende Nachbearbeitung des Ursprungstextes) – und insofern bleibt zuweilen unklar, ob es sich hier noch um den aktuellen Stand beispielsweise der Entwicklungs- und Kognitionsforschung handelt. Und – was am schwersten für Studierende am Studienanfang wiegt – bleibt der Text gegenüber anderen Autor_innen des Fachs und benachbarter Fächer immun, d.h. eine Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössisch vorgetragenen Positionen unterbleibt, sofern diese nicht direkt in das eigene Theoriemodell integrierbar sind. Insofern können gerade Studienanfänger_innen (noch) nicht nachvollziehen, von welchen anderen denkbaren Positionen sich die dargelegten systematisch absetzen. Auch ist der Gesprächston, indem der Vorlesungstext gehalten ist, geradezu eine Einladung, mitzusprechen, was aber naturgemäß in der präsentierten Buchform dann nur ein innerer Dialog bleiben kann, aber immerhin.
Dennoch empfiehlt sich der Text auf folgenden Gründen: Erstens liegt hiermit eine leichter lesbare Darstellung der Grundzüge der Materialistischen Behindertenpädagogik vor, die genutzt werden kann, um anschließend in einer vertieften Lektüre Jantzens Hauptwerk, die in zwei Bänden vorliegende „Behindertenpädagogik“ zu rezipieren. Zweitens finden sich für Jantzen-Kenner interessante biographische Verweise auf die Theorieentwicklung (so z.B. der Hinweis auf einen Aufsatz von 1967 zu Isolation und Persönlichkeit, der offenbar zentral für die Entwicklung des Verständnisses von Behinderung als Isolationskategorie war; vgl. 169). Und drittens enthält der Text so wunderbar nachdenklich machende Passagen, für die sich die Auseinandersetzung mit diesem Theorieansatz immer wieder lohnt: „Man muss also in allen Lebensprozessen Psychisches finden oder man gerät in unauflösbare Widersprüche.“ (206) Oder: Erscheinungsformen von Behinderung sind „nicht als Symptome zu sehen, die auf etwas ganz erschreckendes hinweisen, sondern als Symbole zu sehen, die Erleben ausdrücken.“ (237) Und viertens schließlich ist der Text auch ein Zeitdokument, der die Entwicklung der „Materialistischen Behindertenpädagogik“ anhand vielfältiger biographischer Annotationen im Text entfaltet.
Zusammenfassend resümierend lässt sich damit festhalten, dass die bemerkenswerte Leistung der Edition einer kompletten Vorlesungsmitschrift nicht nur ein wichtiges historisches Dokument ist, sondern auch durch das jetzige Erscheinen ein wichtiger Beitrag dafür vorliegt, die „Materialistische Behindertenpädagogik“ im gegenwärtigen Kontext der Inklusionsdebatten und einer weitgehend einseitigen Perspektive auf das Fach Sonderpädagogik wieder ins Gespräch zu bringen. Denn das Fach hat nicht nur eine defektologische, geisteswissenschaftliche Tradition, sondern eine sehr ernstzunehmende wissenschaftliche Entwicklung vorzuweisen, die auch heute noch zentrale Anknüpfungspunkte für Weiterentwicklungen – auch im interdisziplinären Austausch von Neurowissenschaften, Soziologie, Erziehungswissenschaften, historischer Bildungsforschung und der Philosophie – bietet. Sie wird auch noch lange Zeit das einflussreichste Kompendium des Faches bleiben.
EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)
Einführung in die Behindertenpädagogik
Eine Vorlesung
Reihe: International Cultural-historical Human Sciences, Band 53
Reihe: International Cultural-historical Human Sciences, Band 53
Berlin: Lehmanns 2016
(342 S.; ISBN 978-3-86541-832-6; 29,00 EUR)
Vera Moser (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Moser: Rezension von: Jantzen, Wolfgang: Einführung in die Behindertenpädagogik, Eine Vorlesung Reihe: International Cultural-historical Human Sciences, Band 53. Berlin: Lehmanns 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386541832.html
Vera Moser: Rezension von: Jantzen, Wolfgang: Einführung in die Behindertenpädagogik, Eine Vorlesung Reihe: International Cultural-historical Human Sciences, Band 53. Berlin: Lehmanns 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386541832.html