EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)

Reimer Kornmann / Brigitte Ramisch-Kornmann
Lernen im Abseits
Erfahrungen mit handelndem Unterricht in der Sonderschule für Lernbehinderte
2. Auflage
Berlin: Lehmanns 2012
(158 S.; ISBN 978-3-86541-461-8; 14,95 EUR)
Lernen im Abseits Achtundzwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung wurde 2012 das Buch „Lernen im Abseits. Erfahrungen mit Handelndem Unterricht in der Sonderschule für Lernbehinderte“ von Reimer Kornmann und Brigitte Ramisch-Kornmann im Rahmen der Reihe ICHS PRAXIS neu aufgelegt. Herausgeber Hartmut Giest und Georg Rückriem möchten solchen Veröffentlichungen ein „angemessenes Forum der Präsentation und Diskussion“ eröffnen, die praktische Erfahrungen und Beispiele „mit der Anwendung der theoretischen Konzeption der Kulturhistorischen Psychologie bzw. der Tätigkeitstheorie in zahlreichen gesellschaftlichen Praxisfeldern“ darstellen und besprechen.

Kornmann und Ramisch-Kornmann dokumentieren mit ihrem Buch ihren Versuch, selbst beobachtete, verhängnisvoll bewertete Realitäten in der Schule in Angriff zu nehmen und, orientiert am Konzept des „Handelnden Unterrichts“, aus der „Kunstform“ Schule eine „Lebensform“ werden zu lassen – ein Ansatz, der auf Schülerseite zu mehr Erfolg, Freude und Motivation und auf Lehrerseite zu erhöhter Zufriedenheit führen soll und kann. Im Mittelpunkt von „Lernen im Abseits“ stehen die Darstellungen der Unterrichtspraxis von Brigitte Ramisch-Kornmann.

Nachdem in den ersten beiden Kapiteln der Ursprung und die Grundsätze der Arbeit verdeutlicht werden, zeigt das dritte Kapitel die Grundzüge des Konzepts des Handelnden Unterrichts auf. Dem Handelnden Unterricht liegt die Aneignungstheorie zu Grunde, die von der kulturhistorischen Schule entwickelt wurde. Wesentlich in der Aneignungstheorie ist, dass sich die kognitive Entwicklung eines Menschen in erster Linie durch die aktive, handelnde Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand vollzieht. Aneignung heißt in diesem Fall, dass sich der Lernende Wissen und Fähigkeiten von historisch-gesellschaftlich entstandenen Prozessen und Produkten erarbeitet.

Ramisch-Kornmann und Kornmann befassen sich in ihrem Buch ausführlich mit dieser Theorie und den Möglichkeiten, die die kulturhistorische Schule für eine Verbesserung in der schulpraktischen und diagnostischen Arbeit in sich trägt. Ihre Erkenntnisse ließen sie in die eigene Gestaltung des Unterrichts und in das theoretische Fundament des Buches einfließen. Aufgrund ihrer engen Zusammenarbeit in den unterschiedlichen Rollen als Sonderschullehrerin und Hochschullehrer gelingt es den AutorInnen par excellence, die „Erfahrungen mit Handelndem Unterricht in der Sonderschule für Lernbehinderte“ in einem Gleichgewicht und Zusammenspiel von Theorie und Praxis darzustellen.
Im dritten, theoretisch gewichteten Kapitel wird diese enge Verbindung von Theorie und Praxis ausgearbeitet. Kornmann bringt die theoretischen Grundsätze des Konzepts mit realen, schulischen Abläufen und Problemen in Beziehung und stellt zahlreiche Vorzüge, aber auch mögliche Begrenzungen des Handelnden Unterrichts in der Sonderschule für Lernbehinderte dar.

In den Kapiteln vier und fünf zeigt sich dann am konkreten Fall, dass die Umsetzung des Handelnden Unterrichts in der Förderschule kein mühelos realisierbarer und kursorisch begehbarer Weg ist, sondern vieler Voraussetzungen und Ausdauer bedarf. Brigitte Ramisch-Kornmann beschreibt die notwendigen Prämissen und ihre persönlich eingesetzten pädagogischen Methoden und Schachzüge sehr anschaulich. Verweigerung, Unterrichtsstörungen, Aktivitätsdrang, antisoziales Verhalten, mangelnde und fehlende Lernvoraussetzungen oder nicht vorhandenes Interesse der Eltern – bei allen Schwierigkeiten und pädagogischen Maßnahmen bei der Umsetzung des handelnden Unterrichts, die sie aufführt, wird eindrücklich und anerkennenswert deutlich, dass der Arbeit mit den Kindern ein sehr respektvoller und emphatischer Umgang zu Grunde liegt: Jeder Mensch ist einzigartig und jeder Mensch ist lernfähig!

Die Veranschaulichungen machen deutlich, dass der handelnde Unterricht in seiner arbeitsteiligen Durchführung, in der jedes Kind einen eigenen Beitrag zum Gesamtprojekt leisten kann, unterschiedlichste Zugänge für die individuelle Entwicklungsförderung bietet. Hier wird aus einem Fundus praktischer Erfahrungen geschöpft, die durch die vorausgegangene theoretische Grundlegung kontextualisiert sind und die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.

Das sechste und letzte Kapitel zeigt anschließend mit Bildern und abgedruckten Schülerschriften die praktischen Beispiele auf, die Ramisch-Kornmann mit ihrer Klasse erarbeitet und erlebt hat. Ihr Vorgehen charakterisiert sich durch Projekte, die sich auf Inhalte und Produkte menschlicher Arbeit beziehen. Ein Besuch einer Druckerei oder das Vorhaben einer Blumenzucht, die Klasse muss sich informieren, nachfragen, einladen, dokumentieren, notieren, anwenden und vieles mehr. Der Leser findet zahlreiche Anregungen aufgrund der Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler und wird überrascht sein, wie viele Ansatzpunkte und Einbringungsmöglichkeiten Vorhaben, wie ein Besuch einer Bäckerei, bieten können. Die ausführlichen Darstellungen der Unterrichtspraxis und Arbeit von Brigitte Ramisch-Kornmann demonstrieren, dass unterschiedlichste Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten der Kinder auf differenten Ebenen in den Unterricht einfließen können, Beachtung finden und somit Bedeutung haben. Es wird auf diesem Weg jedem Kind ermöglicht individuelle Fähigkeiten zur bestmöglichen Entwicklung zu nutzen.

Diese Erkenntnisse machen das Buch heute im Diskurs der Inklusion auf einer anderen Ebene als 1984 zu einem sehr interessantem und hilfreichem Werk, das zweifellos zahlreiche Anregungen für einen inklusiven Unterricht dokumentiert. Das Ziel der Neuauflage, Eingang in die Diskussion zur Inklusion zu finden, ist daher nur erstrebens- und wünschenswert. Die Autoren zeigen im Rahmen des Handelnden Unterrichts überzeugende, verständliche Möglichkeiten und Formen, die sich wohl zum heutigen Zeitpunkt als inklusive Prinzipien beschreiben und umsetzen lassen. Dabei merken die Autoren an, dass die in allen schulischen Organisationsformen anwendbaren, inklusiven Prinzipien eine Arbeitseinstellung und -konzeption einfordern, die sich bewusst gegen eine Aussonderung von Schülerinnen und Schülern richtet.

Um auch die Erstauflage an dieser Stelle historisch in besonderem Maße zu würdigen, ist zu erwähnen, dass die Autoren, vor allem hinsichtlich der Entwicklungsperspektive, ihrer Zeit deutlich voraus waren. Anders als z.B. die reduktionistischen Ansätze von Klauer und Bleidick verfolgen Kornmann und Ramisch-Kornmann den Grundsatz, dass jeder Mensch lernfähig ist und Menschen am „Lernen behindert“ werden, denen Gelegenheiten zur Persönlichkeitsentwicklung vorenthalten werden.

Über den Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs hinaus, ist die Arbeit von Kornmann und Ramisch-Kornmann für Lehramststudierende ebenso wie für angehende und erfahrene (Sonder-) Pädagogen, die sich heute in der Inklusionsdebatte und den Schulentwicklungen zurecht finden müssen, eigene Grundsätze und Wege des Unterrichts erbauen müssen, eine sehr gut lesbare, anschauliche und theoretisch untermauerte Arbeit zur Orientierung, Hilfestellung und Ergänzung des eigenen fachlichen Repertoires. Darüber hinaus birgt sie, vor allem durch die Verzweigung zwischen Praxis und theoretischem Unterbau, die Möglichkeit, für erfahrene Lehrkräfte etwaige Barrieren des eigenen Denkhorizonts abzubauen und neue Blickwinkel einnehmen zu können.

Fern von Illusionen sehen Kornmann und Ramisch-Kornmann die erschwerten Verhältnisse individueller und kollektiver Fundamente für ein sinnhaftes schulisches Lernen. Umso wesentlicher und bedeutsamer sind Unterrichtsformen, die es jedem Kind ermöglichen, eigene Kräfte entdecken und einbringen zu können, um auf diesem Weg Bedeutsamkeit des eigenen Handelns und der eigenen Person erfahren zu können. Für das erstrebenswerte Ziel Schülerinnen und Schüler zu selbstbewussten, selbsttätigen, handlungsfähigen Menschen zu verhelfen, sind diese Erfahrungen unerlässlich.
Anna Külker und Birgit Lütje-Klose (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna Külker und Birgit Lütje-Klose: Rezension von: Kornmann, Reimer / Ramisch-Kornmann, Brigitte: Lernen im Abseits, Erfahrungen mit handelndem Unterricht in der Sonderschule für Lernbehinderte 2. Auflage. Berlin: Lehmanns 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386541461.html