Die Dissertation von Renate Rohde widmet sich den rassistisch und rechtsextrem motivierten Brandanschlägen und Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und Mölln 1992. Genauer fragt die Autorin nach den zivilgesellschaftlichen Reaktionen und Verarbeitungen beider Fälle und legt damit den Schwerpunkt auf die demokratische Gegenwehr. Methodisch verknüpft die Arbeit ethnografische, teilnehmende Beobachtungen mit Dokumentenanalysen und qualitativen Interviews. So entsteht eine durchaus umfassende Datengrundlage die erstens aus teilnehmenden Beobachtungen von mehreren Besuchen in den Städten besteht, zweitens informelle Gespräche und Interviews mit vor Ort lebenden Personen und Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Initiativen verarbeitet und drittens Unterlagen aus den städtischen Archiven einbezieht. Mit diesem multiperspektivischen Ansatz vermag es Renate Rohde, die Mikroperspektive von lokalen Akteur*innen mit makrosoziologischen Einordnungen über die Wendezeit und die Kontinuitäten des organisierten Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland zu verbinden. Die Ergebnisse der umfassenden Erkundungen sind für alle, die sich dem Schutz unserer Demokratie verschrieben haben, gewinnbringend.
Zugleich ist die Arbeit nicht ohne Schwächen. Sowohl strukturell als auch inhaltlich stellen sich nach der intensiven Lektüre einige, zum Teil grundsätzliche Fragen.
Rohde teilt ihre Arbeit in zwei Abschnitte: „Theoretische Grundlagen“ und „empirische Forschungsstrategie“. Doch ein Blick auf die Kapitelübersicht lässt diese Ordnung ins Wanken geraten: Die ersten Kapitel widmen sich zwar den üblichen Schritten, bei denen das Untersuchungsdesign und die methodologische Einbettung erläutert werden, zentrale Begriffe entsprechend dem aktuellen Forschungsstand vorgestellt, sowie Forschungshypothesen formuliert werden. Einiges ist hier sehr schnell abgearbeitet und hätte mehr Erläuterung bedurft (bspw. nehmen die Forschungshypothesen nicht einmal eine Seite ein). Angesichts der angekündigten „theoretischen Grundlagen“ verwundert zudem, dass in diesem Abschnitt auch bereits eine recht ausführliche Rekapitulation der Geschehnisse in Rostock-Lichtenhagen und Mölln enthalten ist, in die auch Interviewsequenzen – und damit eindeutig empirisches Material – einfließen. In Kapitel 7 und 8 wiederum, die Teil der „empirischen Forschungsstrategie“ sind, geht es um die Phänomenologie des Rechtsextremismus vor und nach der Wende sowie das Konzept der Zivilgesellschaft. Die Ausführungen basieren aber weder auf dem empirischen Material der Dissertationsschrift noch auf forschungsstrategischen Überlegungen, so wie die Einordnung laut Kapitelübersicht nahelegen würde. Auch das kurze Kapitel 9, mit einem Überblick zur jeweiligen Stadtgeschichte, erschließt sich an dieser Stelle nicht. Zum einen ist der*die Leser*in zu diesem Zeitpunkt bereits gut mit den lokalen und zeitgeschichtlichen Kontexten vertraut und hätte die relevanten Details der Stadtgeschichte auch an anderer Stelle erfahren können, zum andern bleibt offen, warum der historische Abriss Teil der „empirischen Forschungsstrategie“ ist. Kurz gesagt: Die Struktur der Arbeit ist verwirrend und hätte einer Bearbeitung bedurft.
Trotz dieser Probleme legt Rohde einen lesenswerten Einblick in die zivilgesellschaftlichen Reaktionsweisen und gesamtgesellschaftlichen Einbettungen der rechtsextremen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und Mölln vor. Gerade in den Interviewsequenzen mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen kommen Aspekte zum Vorschein, die die bisherigen Wissensbestände über die Vorfälle 1992 ergänzen und zugleich relevant sind für die nach wie vor aktuelle Frage, wie Rassismus und Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft sinnvoll bekämpft werden können. Die entsprechenden Passagen finden sich vor allem in Kapitel 5, 8 und 11.
Dennoch enthalten auch die analytischen Kapitel (ab Kapitel 5) einige inhaltliche bzw. methodologische Schwächen, die nachfolgend entlang einiger inhaltlicher Zusammenfassungen diskutiert werden.
Kapitel 5 rekonstruiert zunächst, was in Rostock-Lichtenhagen und Mölln 1992 passierte. So werden die mehrtägigen pogromartigen Ausschreitungen und gewalttätigen Übergriffe vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen eindrücklich geschildert. Dabei kommen Personen zu Wort, die die Situation selbst erlebt haben und ihre Eindrücke von den tagelangen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schildern. Die Rekonstruktion thematisiert auch recht ausführlich das Versagen von Stadt und öffentlichen Stellen. Daneben zitiert Rohde Rechtsextremismus-Expert*innen wie Hajo Funke und Andrea Röpke, die auf Vorläufer und Kontinuitäten der rassistischen Gewalt hinweisen. Leider bleibt es aber bei einer punktuellen Bezugnahme auf wissenschaftliche und publizistische Diskussionen, die in den letzten Jahren durchaus differenziert Ursachen und Bedeutung der Tat aufgearbeitet haben (siehe hierfür bspw. Prenzel 2012 [1], Mohr 2012 [2]).
Parallel zu Rostock-Lichtenhagen rekapituliert die Autorin auch die Mordanschläge von Mölln. In der Rekonstruktion fragt sie zunächst nach möglichen Verbindungspunkten zwischen beiden Taten, die aber von den interviewten Expert*innen nicht bestätigt werden können. Vielmehr eignen sich als direkte Vergleichspunkte für Rostock-Lichtenhagen die rassistischen Übergriffe im sächsischen Hoyerswerda im Herbst 1991 bzw. für Mölln der Mordanschlag von Solingen 1993. Obgleich also die beiden Ereignisse keine direkten Verbindungslinien aufweisen, stellt Rohde sehr deutlich eine diskursive Verbindungsstelle der beiden Ereignisse heraus: Die Täter*innen von Mölln fühlten sich durch Rostock-Lichtenhagen bestärkt und zum Handeln aufgerufen (57). Der*die Leser*in erfährt weiterhin in der Besprechung des Fall Mölln einiges über Verlauf und Inhalt des Gerichtsprozesses, wie etwa der Diskussion um die rechtsextreme Gesinnung der zwei jungen Männer, die die Mordanschläge auf zwei von türkischen Familien bewohnten Häusern verübt hatten. Von den fallspezifischen Beschreibungen losgelöst, zeigt Rohde in diesem Kapitel auf, dass Mölln durchaus einen Wendepunkt für den gesamtgesellschaftlichen Diskurs über rechtsextreme und rassistische Gewalt darstellte (51).
Kapitel 5 endet mit einem zusammenfassenden Vergleich, der leider mit einer an anderer Stelle bereits geäußerten, verharmlosenden Ursachenbeschreibung für Rostock-Lichtenhagen beginnt. So hatte Rohde bereits auf S. 35 im Zuge der insgesamt abwägenden Darstellung einen Hinweis aufgenommen, der als Ursache für „Aggression und Ablehnung besonders gegenüber Asylsuchen und Ausländerinnen und Ausländern“ fehlende individuelle Perspektiven der früheren DDR-Bürger*innen in der Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs benennt. Damit wird ein Ursachen-Wirkungsverhältnis nahe gelegt, das in jedem Fall unvollständig ist, aber auch eine Täter-Opfer-Umkehr beinhaltet. Obgleich an anderer Stelle die Verwurzelung von Ressentiments und Abwertung im Alltag zur Sprache kommt, ist die Diskussion damit doch zumindest missverständlich und verkürzt. Und auch gegen die in der Zusammenfassung gefasste Formulierung in Bezug auf Rostock-Lichtenhagen „Es lief alles schief, was nur schieflaufen konnte.“ (56) muss an dieser Stelle deutlich Einspruch erhoben werden. Es war keine ungünstige Aneinanderreihung von Zufällen, sondern ein gewaltsamer Ausbruch (des gesamtgesellschaftlich verankerten) Rassismus, auf den staatliches Versagen folgte. Auch die von Rohde vielfach besprochene inhumane Situation vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber war nicht, wie es einige Passagen des Buches nahe legen, Ursache, sondern allenfalls Katalysator für einen gewaltbereiten Rassismus.
Das Kapitel 6 befasst sich mit einer umfangreichen Darstellung der methodologischen Orientierungen, so etwa einer teilnehmenden Beobachtung bei einer Demonstration und Archivarbeiten. Diese Abschnitte hätten bei der Überarbeitung der Dissertationsschrift stärkerer Kürzungen bedurft. Gerade die erzählenden Episoden über An- und Abfahrt der Forschungsaufenthalte sind zwar womöglich zur Darlegung der Methode in einer Dissertationsschrift von Belang, aber als Publikation für den*die Leser*in wenig gewinnbringend.
Dagegen umfasst Kapitel 7 eine umfassende Einsichtnahme in die Entwicklung der rechtsextremen Erlebniswelt sowohl in der DDR, der Bonner als auch der Berliner Republik. Gerade die in Archivaufenthalten eingesehenen Dokumente geben ein eindrückliches Zeugnis über den jeweiligen zeitpolitischen Umgang mit Rechtsextremismus.
Kapitel 8 widmet sich sodann der Erinnerungskultur in beiden Orten. Auch hier fängt Rohde mit ihren Interviews Perspektiven und lokale Diskurse ein, die für eine größere Debatte über den Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt in Deutschland wegweisende Hinweise enthält. Stark sind die Ausführungen vor allem, weil sie den Akteur*innen weitreichenden Raum für ihre Perspektiven geben. Dennoch wäre die ein oder andere Einordnung hilfreich, da die Interviewpartner*innen mitunter Thesen aufstellen oder Narrative bedienen, deren Überprüfung während der Forschungsaufenthalte durchaus möglich gewesen wäre. Schließlich stellt Kapitel 10 die zivilgesellschaftlichen Akteure in den Mittelpunkt. Damit kommt Rohde auf die Ausgangsfrage der zivilgesellschaftlichen Reaktionsweisen auf die rassistischen und rechtsextremen Taten zurück. Sie charakterisiert hier verschiedene Initiativen, für die sie jeweils umfangreiches Interviewmaterial verarbeitet. Die Auszüge sind durchaus interessant zu lesen, auch wenn die Darstellung in einer Aneinanderreihung der Initiativen zu überdenken gewesen wäre.
Hinter den zahlreichen gewinnbringenden empirischen Einsichten fällt das zusammenfassende Fazit der Autorin zurück. Rohde präsentiert hier acht Forschungsthesen, die sich aus ihrer Arbeit ableiten. Dabei wechselt sie auf eine makrosoziologische Ebene, welche die Ergebnisse zum Teil trivial erscheinen lassen (z.B. zivilgesellschaftliches Engagement sei nicht selbstverständlich; 228). Hierin offenbaren sich die großen Herausforderungen einer methodischen Orientierung, die gleichzeitig qualitative Datenerhebungs- und Datenauswertungsmethoden verwendet und diese kombiniert mit einer Forschungslogik, die Forschungshypothesen formuliert und überprüfen will.
Abschließend bleibt festzuhalten: Rodes Dissertationsschrift ist lesenswert ob der zahlreichen und umfassenden Interviewsequenzen und ethnografischen Beobachtungen aus Rostock-Lichtenhagen und Mölln. Das Buch weist strukturelle und methodologische Schwächen auf. Am schwersten wiegt aber die teils fehlende Sensibilität für die Funktionsweise rechtsextremen und rassistischen Denkens und Handelns. Eine stärkere Einbeziehung der Betroffenenperspektive hätte dem womöglich entgegenwirken können.
[1] Mohr, Markus (2012): Vier Tage im August. Vor 20 Jahren kam es in Rostock-Lichtenhagen zum Pogrom. Standpunkte 12/2012.
[2] Prenzel, Thomas (Hrsg.) (2012): 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Kontext, Dimensionen und Folgen der rassistischen Gewalt. Rostocker Informationen zu Politik und Verwaltung, Heft 32.
EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)
Zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus
Eine ethnografische Studie zu Initiativen in Rostock und Mölln
Opladen/Berlin/Toronto: Budrich UniPress 2019
(246 S.; ISBN 978-3-86388-802-2; 34,90 EUR)
Franziska Schmidtke (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Franziska Schmidtke: Rezension von: Rohde, Renate: Zivilgesellschaftes Engagement gegen Rechtsextremismus, Eine ethnografische Studie zu Initiativen in Rostock und Mölln. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich UniPress . In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388802.html
Franziska Schmidtke: Rezension von: Rohde, Renate: Zivilgesellschaftes Engagement gegen Rechtsextremismus, Eine ethnografische Studie zu Initiativen in Rostock und Mölln. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich UniPress . In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388802.html