In den letzten Jahren wurde die „klassische“ vergleichende Erziehungswissenschaft von den großen Assessment-Studien von OECD und IEA fast überrollt. Ihre Sichtbarkeit im Reigen der Disziplin schrumpfte immer mehr. Deswegen ist es umso wohltuender, dass sich auf dem Feld etwas tut. An einzelnen Standorten in Deutschland werden Studien erstellt, die sich dem Vergleich der Bildungssysteme bzw. konkreter pädagogischer Praktiken annehmen und diese erforschen. An der Universität Mainz wird seit einigen Jahren zum Schulsystem in Frankreich und Deutschland geforscht. Hierzu wurden dieses Jahr eine Dissertation von Nina Meister sowie ein Sammelband vorgelegt, die Einsichten in die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des jeweiligen Landes bieten.
Nina Meister hat Unterrichtsanfänge in deutschen und französischen Schulen analysiert. In sechs Fallrekonstruktionen versucht sie, die „Mikrostrukturen des Unterrichtsgeschehens von innen her aufzuschließen“ (9). Das Datenmaterial wurde 2005/06 in verschiedenen Schulfächern der Grund- und Sekundarschule sowie dem Collège per Audio- und Videoaufzeichnung erhoben und anschließend transkribiert. Die Autorin betont, dass die regionale Lage und die soziale Zusammensetzung für die Schulen in beiden Ländern vergleichbar waren. Das Alter der Schülerinnen und Schüler betrug ca. 11/12 Jahre. In ihrer Arbeit geht es Meister nicht um einen klassischen Ländervergleich, sondern vielmehr darum, die impliziten normativen Ansprüche an Schule und Unterricht zu rekonstruieren. Das Ergebnis zeigt dann durchaus länderspezifische Unterschiede und kann diese näher bestimmen. Den sechs Fallrekonstruktionen schickt Meister einzelne Kapitel zur Fragestellung, zu den Schulsystemen in beiden Ländern und ihrem methodischen Vorgehen voraus. Im Anschluss an die Arbeiten von Werner Helsper begründet Meister plausibel, dass Unterrichtsanfänge als Auftaktsituationen des Unterrichts, die die soziale Ordnung herstellen müssen, Auskunft über das Verhältnis der Lehrerin zur Schulklasse und umgekehrt geben.
Die Arbeit ordnet sich der hermeneutisch-rekonstruktionslogischen Unterrichtsforschung zu. Bislang gibt es erst wenige Arbeiten, die den Versuch unternehmen, fremdsprachiges Material zu analysieren. Meister schätzt somit ihre „Sonderstellung“ (15) richtig ein. Ihre Ausführungen zum Vorgehen bei der Analyse des fremdsprachigen Materials sind erhellend, denn sie zeigen, wie schwierig, aber lösbar es ist, mit fremdsprachigen Transkripten zu arbeiten. Meister führt aus, dass die Anwendung der Prinzipien Wörtlichkeit, Sequentialität und Kontextfreiheit der objektiven Hermeneutik die InterpretInnen (Nicht-MuttersprachlerInnen) vor große Probleme stellte. So erläutert die Autorin das Problem der Wörtlichkeit am Ausdruck „tout le monde“, der nicht schlicht mit „alle“ übersetzt wurde, sondern zu Interpretationen führte, die die ganze Welt ins Spiel brachten. Ähnliches passierte in Bezug auf die Satzstruktur oder auf das implizite Regelwissen. Forschungspragmatisch sind diese Ausführungen hilfreich und interessant und umso verständlicher ist die Verwunderung, die Meister in diesem Kapitel äußert, dass darüber so wenig in der Forschungsliteratur zu finden ist. Die Probleme wurden in diesem Falle so gelöst, dass erstens mit dem originalsprachlichen Material gearbeitet wurde, Übersetzungsmöglichkeiten nur als Deutungshilfen verwendet wurden und zweitens MuttersprachlerInnen an den Interpretationen beteiligt wurden, die ihr implizites Regelwissen einbringen konnten.
Meister arbeitet für alle Unterrichtsanfänge die Autorität der Lehrperson heraus. Das ist kein überraschendes Ergebnis, ist doch die Lehrperson die zentrale Figur, die den Unterricht beginnen lässt und von der aus die Stunde gestaltet wird. Als spezifische Strukturen zeigt Meister, dass diese Autorität der Lehrperson an die An- oder Aberkennung der Autorität von Seiten der SchülerInnen gebunden ist. Dabei ist die Lehrperson damit befasst, sich Respekt zu verschaffen. Manchmal werden – bei falschen Antworten – einzelne SchülerInnen vor der Klasse vorgeführt und dies als Defizit der Person zugeschrieben. Auf den Ländervergleich abgehoben konstatiert Meister, dass die deutschen Unterrichtsanfänge von dem erzieherischen Zugriff auf die Klasse bestimmt sind. Dieser ist jedoch oft nicht klar formuliert und bleibt somit diffus. Die Lehrerinnen sind darauf konzentriert, die gewünschte SchülerInnenrolle herzustellen. Dies führt dazu, dass SchülerInnen zunächst als defizitär wahrgenommen werden: sie müssen erst noch das richtige Rollenhandeln erlernen. Dagegen steht in Frankreich möglichst schnell der Vermittlungsinhalt im Zentrum. Das Faktenwissen hat Vorrang, so dass die Lehrperson als unpersönlich erfahren wird. Dabei unterstellt sie, dass die SchülerInnen die Fähigkeit zu richtigem Rollenhandeln besitzen und muss nicht fehlendes Wissen einem Defizit der Person zuschreiben. Dieser Befund ist interessant, weil er zeigen kann, wie das unterschiedliche Rollenverständnis und die an sie gebundenen Erwartungen sich in der konkreten Handlung niederschlagen und das Verhältnis von Lehrperson und SchülerIn bestimmen. Meister ordnet ihn mit Hilfe der Kategorien von Nähe und Distanz in einen größeren Zusammenhang ein. Beide Konstrukte erläutert sie mit Rückgriff auf Talcott Parsons pattern variables. Für eine pädagogische Deutung stützt sie sich auf Helspers Nähe-Distanz-Antinomie und auf das Muster der pädagogischen Permissivität von Andreas Wernet.
Sie gelangt dabei zu einer Typenbildung ihrer Fälle. Es kristallisieren sich die drei Idealtypen Erzieherin, Wissensvermittlerin sowie ein Sonderfall, den Meister als „Anwesende“ begrifflich fasst, heraus. Diese Typenbildung ist tatsächlich mehr als ein Ländervergleich. Sie ermöglicht es, ein empirisch gesättigtes Wissen über Muster der Unterrichtsanfänge in Frankreich und Deutschland zu erhalten. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass diese lesenswerte Monographie einen wichtigen Einblick in die Arbeit mit fremdsprachigen Transkripten bietet und über den französischen Unterrichtsbeginn aufklärt.
Das Lesen erschwert haben die Teile der Arbeit, die den Forschungsprozess (vom ersten Kontakt mit den Schulen bis zur Wiedergabe der Gespräche) en détail thematisieren; dies scheint für eine solche Arbeit irritierend kleinteilig. Verwirrend sind auch die unterschiedlichen Zusammenfassungen der Rekonstruktionen, die sich wie Kaskaden verhalten. Hier wäre ein konziserer Zugriff wünschenswert gewesen.
Die von Nina Meister herausgestellten Einsichten in die Mikrostrukturen des Unterrichts lassen sich durch den Sammelband „Schule und Unterricht in Frankreich“ in einen größeren Kontext einordnen. Der Band enthält 15 Artikel zu den Themenbereichen Diversität, Interkulturalität und Mehrsprachigkeit im französischen Schulsystem, Schule und Unterricht aus deutscher und französischer Sicht, Unterricht und Schule als Lebenswelt sowie Lehrerbildung in Deutschland und Frankreich. Dies ist eine gelungene Mischung, da sowohl Spezifisches – wie der Umgang mit Mehrsprachigkeit – als auch Generelles – wie Unterrichtspraxen und die Lehrerausbildung – thematisiert werden.
Die Stärke des Bandes ist es, in unterschiedlichen Aspekten aktuelle Entwicklungen in Frankreich zu analysieren und dabei empirische Einsichten zu vermitteln. So bildet sich quer über die einzelnen Texte hinweg eine Verdichtung des Wissens in einzelnen Bereichen. Zu diesem Wissen gehört, dass Schule und Unterricht in Frankreich auf die Wissensvermittlung fokussiert. Dies hat weitreichende Folgen, angefangen von der Lehrerausbildung, über das Unterrichten bis hin zur Gestaltung und dem Erleben von Auslandsaufenthalten.
Im Themenbereich „Interkulturalität und Mehrsprachigkeit im französischen Schulsystem“ wird die Grundkonzeption des französischen Schulsystems deutlich. Anhand des Umgangs mit Diversität in der Schulklasse (Delory-Momberger), mit Migrationskindern (Montandon) sowie mit Mehrsprachigkeit (Kunkel und Stratilaki) zeigt sich, dass sich die französische Schule als „Schule der Republik“ (Delory-Momberger, 17) versteht. Diese setzt sich zum Ziel, aus den Schülerinnen und Schülern Bürgerinnen und Bürger des französischen Staates zu machen. Dazu gehört u.a., die Dominanz der französischen Sprache, die zur Einheit des französischen Staates beiträgt, auch im Unterricht durchzusetzen (nach Ingrid Gogolin der monolinguale Habitus). Dazu verhält sich nicht nur die Politik, sondern Studien können zeigen, dass auch Lehrerinnen und Lehrer Mehrsprachigkeit nicht als Ressource, sondern als Defizit wahrnehmen und auf sie entsprechend reagieren.
Die nächsten zwei Themenbereiche widmen sich dem Unterricht in beiden Ländern. Drei der vergleichenden Beiträge nehmen sich der Thematik des Schüleraustauschs an. Dies ist eine interessante Form, die zwar durch die Schule erst ermöglicht wird, sich aber zugleich als Erweiterung des unterrichtlichen Lernens begreift. Colin, Wallenhorst und Egloff geben Einblicke in ihre Studien zu Austauschen. Colin und Wallenhorst konzentrieren sich in ihren Beiträgen auf das einjährige Voltaire-Programm, während Egloff Interviews mit Teilnehmenden an Austauschen und Seminaren des Deutsch Französischen Jugendwerks führte, die teilweise viele Jahre zurückliegen.
Interessant sind neben dem Versuch, etwas über Langzeitwirkungen von Austauschen zu erfahren (Egloff präsentiert zwei Fälle: als biographische Selbstverständlichkeit und als unbekanntes Terrain, 126), dass Colin zum Schluss kommt, dass die im Voltaire-Programm einjährigen Austausche sich ggf. auch für Schülerinnen und Schüler eigneten, die in der Schule auffällig wurden und Probleme haben. Denn der Austausch ermöglicht es den Jugendlichen, zu ihrem Leben in Distanz zu treten und eine neue Perspektive auf das bisherige einzunehmen. Dieser Konklusion steht jedoch ein anderes Analyseergebnis entgehen: Laut Colin „bleibt der französische Schüler auch im Ausland ein französischer Schüler, der außerhalb der französische Schule ohnehin nichts Entscheidendes lernen kann“ (85). Denn die französischen SchülerInnen müssen weiterhin Hausaufgaben der französische Schule erledigen, was wiederum nach Colin den Jugendlichen zupass kommt, da es verdeckt, dass sie mit der freien Zeit, die die deutsche Schule am Nachmittag bereit hält, nichts anzufangen wissen. Auslandsaufenthalte treten hier als eine Form des Lernens auf, die sich gegen die Institution Schule richtet – Schule tritt zugunsten einer Zone zurück, die es ermöglicht, jugendliche Eigenständigkeit zu entwickeln. Hiermit stehen sie nach Colin in der Tradition der Bildungsreisen, denn „durch den Umweg über das Ausland ist es dem Jugendlichen möglich, sein eigens Selbst mit neuen Augen wahrzunehmen“ (94).
Dem Unterricht selbst widmen sich die Beiträge von Meister, Knipping und Schelle. Während Meister einen exemplarischen Einblick in ihre Arbeit zu Unterrichtsanfängen im Vergleich gibt, konzentriert sich Knipping in ihrer Studie auf den Mathematikunterricht und hier speziell auf die Vermittlung von Beweisen. Sie kann zeigen, dass es zwischen den Ländern Unterschiede gibt, die sich auf das jeweils andere Verständnis von Schule – als Wissensvermittlung in Frankreich, als Bildung von Persönlichkeit in Deutschland – zurückführen lassen. So zeigt sich im Mathematikunterricht in Frankreich, dass hier die Begründung des mathematischen Satzes und damit seine sprachliche Ausrichtung im Vordergrund stehen, während der deutsche Mathematikunterricht bei Anwendungsproblemen ansetzt und auf Gegenständlichkeit fokussiert. Die jeweilige Ausrichtung führt in Frankreich zur Betonung des vermittelten Wissens, während im deutschen Mathematikunterricht das erzieherische und organisatorische Moment im Vordergrund steht. Meister und Knipping zeigen das Vorgehen der Typenbildung als sinnhaftes Verstehen von Unterrichtspraxen. Das Unterschiedliche tritt aufgrund der sich im Unterrichten ausdrückenden Norm zu Tage. Die Arbeiten von Meister und Knipping können vergleichend gelesen werden und vermögen zu erklären, worin das Klischee der Strenge französischer Schule und das Chaotische der deutschen gründen: in einem je unterschiedlichen Verständnis der Schule insgesamt und damit in der unterschiedlichen Ausrichtung des didaktischen Handelns. Schelle wiederum analysiert eine Unterrichtssequenz aus dem französischen Film „Être et Avoir“ und ein Unterrichtstranskript und kann zeigen, wie unterschiedlich die Aspekte des Selbst- und Weltverstehens bei Jugendlichen sind.
Weißenos Artikel ergänzt die empirischen Blicke auf Unterricht, indem er anhand einer Analyse von französischen Politikunterrichtsbüchern den Vorrang des Wissens in der französischen Schule aufzeigt, während Holstein das unterschiedliche Selbstverständnis der Schulen in seinem Beitrag anhand von Fotografien von Internatswebsites analysiert. Dieser Beitrag ist nicht nur deshalb interessant, weil er an der Selbstdarstellung von Internaten ansetzt, sondern weil der das vergleichende und methodische Vorgehen erhellend problematisiert. So nimmt Holstein die Bildinterpretation zum Anlass, das Vorgehen des Vergleichs zu schärfen.
Im letzten Themenbereich widmen sich die Beiträge zum einen der Unterrichtsforschung und zum anderen der Lehrerausbildung in Frankreich. Altets Beitrag liefert eine Übersicht über die in Frankreich hermeneutisch oder interpretativ arbeitenden Forschungsgruppen. Dabei betont sie, dass das zu erforschende, pädagogische Tun zu kurz verstanden wird, wenn es als reine Technik begriffen wird. Erst die Aktualisierung von Konzepten im konkreten Handeln ist es, was den pädagogischen Professionellen auszeichnet. Die Beiträge von Nadot, Demarcy und Flitner berichten über den Stand der Lehrerausbildung und deren aktuelle Entwicklungen in Frankreich. Dabei erfährt man, wie anders diese im Nachbarland organisiert ist und wie sehr auch sie sich aufgrund der Bologna-Reformen und der PISA-Ergebnisse im Umbruch befindet. Hier eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, die Ergebnisse der Reformen der Lehrerausbildung an Universitäten und an Schulen ertragreich zu diskutieren. Der letzte Beitrag in diesem Sammelband, von Holstein, Schelle und Meister verfasst, gibt schließlich einen Einblick in die Forschungsarbeiten aus der Lehrerbildung an der Universität Mainz. Er greift somit das Thema in anderer Weise empirisch auf.
Sowohl die Dissertation von Nina Meister als auch der Sammelband von Schelle, Holstein und Meister geben einen vielfältigen Einblick in die Forschung über Schule und Unterricht in Frankreich und Deutschland. Der Blick auf die Möglichkeiten interpretativer Verfahren mit fremdsprachigem Material wird geweitet und es entstehen deutsch-französische Forschungsperspektiven, die es wert wären, aufgegriffen und fortgesetzt zu werden.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Sammelrezension Schule und Unterricht in Frankreich und Deutschland
Wie beginnt der Unterricht?
Hermeneutische Rekonstruktionen von Unterrichtsanfängen in Frankreich und Deutschland
Opladen / Berlin / Toronto: Budrich UniPress Ltd. 2012
(218 S.; ISBN 978-3-86388-008-8; 24,90 EUR)
Schule und Unterricht in Frankreich
Ein Beitrag zur Empirie, Theorie und Praxis
MĂĽnster / New York / MĂĽnchen / Berlin: Waxmann 2012
(300 S.; ISBN 978-3-8309-2652-8; 29,90 EUR)
Sieglinde Jornitz (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sieglinde Jornitz: Rezension von: Meister, Nina: Wie beginnt der Unterricht?, Hermeneutische Rekonstruktionen von Unterrichtsanfängen in Frankreich und Deutschland. Opladen / Berlin / Toronto: Budrich UniPress Ltd. 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388008.html
Sieglinde Jornitz: Rezension von: Meister, Nina: Wie beginnt der Unterricht?, Hermeneutische Rekonstruktionen von Unterrichtsanfängen in Frankreich und Deutschland. Opladen / Berlin / Toronto: Budrich UniPress Ltd. 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388008.html