Auf der Grundlage eigener langjĂ€hriger Praxis in der historisch-politischen Bildungsarbeit legt Elke Gryglewski Ergebnisse einer breit angelegten Praxisforschung vor. Mit Berliner Jugendlichen hat sie Studien- und Projekttage zu Themenfeldern des Nationalsozialismus durchgefĂŒhrt, ebenso wie eine Studienreise nach Israel und eine in die TĂŒrkei. Ausgangspunkt fĂŒr die Auswahl der Teilnehmenden waren Beobachtungen aus der eigenen Bildungspraxis zum Zusammenhang von migrationsbezogenen FamilienhintergrĂŒnden und dem Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Die ZugĂ€nge zur Erinnerung an den Holocaust sind fĂŒr die teilnehmenden Jugendlichen vermittelt durch den Bezug zum Nahostkonflikt und zur aktuellen Situation der PalĂ€stinenser. Es handelt sich um Jugendliche, die im Titel der Studie aufgrund nationaler HerkunftshintergrĂŒnde als zwei Gruppen konstituiert werden und die zugleich eines gemeinsam haben, nĂ€mlich âBerliner Jugendlicheâ zu sein. Diese Gemeinsamkeit ist entscheidend fĂŒr den pĂ€dagogischen Ansatz der durchgefĂŒhrten BildungsmaĂnahmen, der die Anerkennung als Zugehörige zur deutschen Migrationsgesellschaft mit vielfĂ€ltigen Beziehungen zur Erinnerung konzeptionell begrĂŒndet und entfaltet.
Das erste Kapitel widmet sich dem âDiskurs um Erinnerung in der multikulturellen Gesellschaftâ (18). Das in der Formulierung angelegte mögliche MissverstĂ€ndnis, es ginge um kulturell geprĂ€gte ZugĂ€nge zur Erinnerung, löst sich schnell auf, wenn die Autorin ihre Erfahrungen aus der GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik entfaltet und verdeutlicht, welche Bedeutung Zugehörigkeitskonstruktionen und Differenzmarkierungen dabei zukommt. Der unter LehrkrĂ€ften verbreitete Defizitblick auf SchĂŒlerinnen und SchĂŒler âinsbesondere tĂŒrkischer, arabischer und oder palĂ€stinensischer Herkunftâ (23) ist in der Bildungsarbeit der GedenkstĂ€tte Haus der Wannseekonferenz kritisiert und ersetzt worden durch einen anerkennenden und Zugehörigkeit signalisierenden Umgang mit allen Teilnehmenden. Es wird deutlich, dass diese Bildungspraxis insbesondere im Raum auĂerschulischer Bildung konzipiert und erprobt werden konnte, der nicht unter dem Zwang zur Bewertung und Leistungsmessung steht. Es sind die historischen GegenstĂ€nde selbst, von denen der Impuls ausgeht, vielfĂ€ltige ZugĂ€nge und Unterschiede im Bezug auf die in der GedenkstĂ€tte dokumentierten Verbrechen nicht zu ignorieren. SchlieĂlich geht es hier inhaltlich um die Auseinandersetzung mit der Geschichte einer âkĂ€mpfenden Verwaltungâ [1] im Dienst völkischer Reinheit und absoluter IdentitĂ€t.
Empathie wird hier nicht von den Jugendlichen in ihrer Beziehung zu den Opfern der Vernichtungspolitik verlangt, sondern zunĂ€chst einmal ihnen selbst entgegen gebracht. Die Autorin argumentiert auf dem Niveau reflexiver GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik, die sich in den letzten Jahren verstĂ€rkt mit dem Kontext der Migrationsgesellschaft und mit der sozialen HeterogenitĂ€t der Besuchergruppen auseinandergesetzt hat [2]. Dabei erfolgt ihre Argumentation auf der Grundlage breiter Kenntnisse der migrations- und gedenkstĂ€ttenpĂ€dagogischen Fachdiskussion als auch eigener reflektierter Praxis. Darin liegt eine Besonderheit der hier vorgelegten Studie. Die Anlage der Praxisforschung wie auch die Generierung der Ergebnisse stehen in einer Beziehung zur Bildungspraxis an einer GedenkstĂ€tte, die ĂŒber die Umsetzung der Vernichtungspolitik informiert, diese dokumentiert, der Opfer gedenkt und TĂ€terschaft erforscht. Die Erfahrungen aus pĂ€dagogischer GedenkstĂ€ttenpraxis haben die Autorin dafĂŒr sensibilisiert, wie die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die Wahrnehmung gegenwĂ€rtiger Diskriminierungserfahrungen bei denen auslöst, die in der deutschen Gesellschaft als âandereâ betrachtet werden. Erst die Anerkennung dieser Erfahrungen seitens der GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogen eröffnet die Möglichkeit, sich differenziert mit dem zeitgeschichtlichen Gegenstand auseinander zu setzen, Beziehungen zur Gegenwart zu verdeutlichen und das Spezifische der NS-Vernichtungspolitik heraus zu arbeiten. Dabei bezieht sich die Autorin vertiefend auf die erziehungswissenschaftliche Forschung zur GedenkstĂ€ttenarbeit und zum historisch-politischen Lernen. DemgegenĂŒber wird die erziehungswissenschaftliche Forschung zur Migrationsgesellschaft nicht in gleicher Weise berĂŒcksichtigt, weshalb Gryglewski hier den Schwerpunkt auf die PĂ€dagogik der Vielfalt und die PĂ€dagogik der Anerkennung legt und auf die neuere rassismuskritische MigrationspĂ€dagogik weniger eingeht [3].
Anhand ausgewĂ€hlter, erst nach 1990 publizierter Studien zum Geschichtsbewusstsein und zum Geschichtslernen Jugendlicher nichtdeutscher Herkunft entfaltet Gryglewski den Forschungsstand zu historischer Vermittlungsarbeit und Aneignungsprozessen. Sie bietet dabei einen guten Ăberblick ĂŒber die relevanten Forschungsarbeiten aus Sozial- und Erziehungswissenschaft der letzten zwanzig Jahre. Aus den LektĂŒren der Studien arbeitet die Autorin die Diskrepanzen zwischen den Wahrnehmungen der LehrkrĂ€fte und den ârealen Befindlichkeiten ihrer SchĂŒlerschaftâ (39) heraus, geht auf die Bedeutung von Ausgrenzungserfahrungen ein und weist darauf hin, wie gerade aufgrund dieser Ausgrenzung auf Familiennarrative zurĂŒck gegriffen wird, âum ĂŒberhaupt eine Zugehörigkeit erleben zu könnenâ (41). Anhand mehrerer Studien wird deutlich, wie jene ignorierte Ausgrenzung genau die Geschichtsbilder erzeugt, die dann von LehrkrĂ€ften als problematisch und dem historischen Gegenstand unangemessen bewertet werden. Ein eigener Abschnitt ist den Studien zur Erhebung antisemitischer Einstellungen gewidmet. Auch darin wird die Bedeutung der Positionierung zur Mehrheitsgesellschaft betont. Mit antisemitischen Artikulationen wird eine Opposition zur deutschen Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck gebracht.
Entwicklungslinien historisch-politischer Bildung zum Nationalsozialismus und zum Antisemitismus skizziert Gryglewski im folgenden Kapitel. Sie geht dabei auf grundlegende Probleme dieser Bildungsarbeit im Umgang mit den Opfergruppen und auf spezifische Entwicklungen in Ost und West ein und fragt nach der Einbindung des pÀdagogischen Personals in die Reproduktion vorherrschender Muster im gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs. In den letzten Jahren spielt hier das VerhÀltnis nationaler Erinnerungskulturen zur EuropÀisierung und Globalisierung des Holocaust-GedÀchtnisses eine besondere Rolle und hat Einfluss auf die pÀdagogische Thematisierung.
Im Folgenden wird die an der Praxisforschung orientierte methodische Anlage der Studie vorgestellt und die Umsetzung beschrieben. Die eigene Praxisreflexion im beruflichen Kontext der Autorin kommt darin gut zum Ausdruck. Die Autorin stellt ihre Datenerhebung und -auswertung gut nachvollziehbar dar und geht auf das VerhĂ€ltnis der durchgefĂŒhrten Langzeitprojekte und KurzzeitmaĂnahmen ein. Ein wesentliches inhaltliches Element der Projekt- und Studientage bestand in dem Angebot an die Jugendlichen, den eigenen Herkunftsgeschichten nachzugehen. Gryglewski macht deutlich, wie damit das Prinzip der Anerkennung erfahrbar gemacht wurde. Konzeptionell wird der Begriff der Anerkennung im Folgenden entfaltet. ZunĂ€chst wird Anerkennung in ZusammenhĂ€ngen interkultureller PĂ€dagogik und der PĂ€dagogik der Vielfalt betrachtet, wobei die kritische Auseinandersetzung mit den im Anerkennungskonzept enthaltenen Tendenzen zur Reproduktion dominanter Unterscheidungsmuster aufgegriffen wird. Dies halte ich fĂŒr die vorliegende Studie fĂŒr ausgesprochen relevant. Denn die hier durchgefĂŒhrte Forschung erfolgt auf dem Hintergrund einer Reflexion von MachtverhĂ€ltnissen in der Migrationsgesellschaft. Ohne diese machtreflexive Dimension kann das Konzept der Anerkennung naiv werden und ignorant gegenĂŒber den realen Erfahrungen der Zielgruppen. Deshalb wĂ€re das Konzept der Anerkennung durch eine rassismus- und diskriminierungskritische Perspektive zu ergĂ€nzen, die in den theoretischen Orientierungen der vorliegenden Arbeit zu kurz kommt.
In einem ausfĂŒhrlichen Kapitel entwickelt Gryglewski eine Typenbildung der Jugendlichen im VerhĂ€ltnis zu Nationalsozialismus und Shoah. Anders als in vorangegangenen Studien geht es ihr dabei nicht um die Unterschiede im Geschichtsbewusstsein, sondern um unterschiedliche ZugĂ€nge zu den geschichtlichen GegenstĂ€nden, also um die Art des Kontakts und wie dabei soziale Ausgangsbedingungen und Diskriminierungserfahrungen den Zugang bestimmen. In diese Typenbildung flieĂen schriftliche Aussagen der Jugendlichen, Transkripte, GedĂ€chtnisprotokolle und die Beurteilung von Situationen ein. Diese komplexe Anlage macht deutlich, wie die Jugendlichen im Forschungsprozess ernst genommen worden sind. Deshalb ist die Autorin in ihrer Typenbildung eher vorsichtig und beschreibt nicht Extreme, sondern geht auf Tendenzen von eher offen, eher interessiert, desinteressiert, lernend, provozierend bis dogmatisch ein. Dennoch bleibt jede Typenbildung problematisch und spannungsreich gegenĂŒber dem Anspruch der Anerkennung. SchlieĂlich wird versucht, einem wissenschaftlich unhinterfragten BedĂŒrfnis nach Einordnung zu entsprechen, das die SubjektivitĂ€t der Beteiligten immer auch verfehlt. Der Begriff des Typen evoziert eine objektivierende Zuordnung. FĂŒr die Anlage der Studie wĂ€re es aus meiner Sicht stimmiger, hier von Zugangsformen zu sprechen.
Ein offener oder lernender Zugang zur Geschichte der Shoah macht auf eine aktive Geschichtsbeziehung aufmerksam, wĂ€hrend die Typisierung etwas Statisches hat. Gewinnbringend sind die dokumentierten Aussagen der Jugendlichen, die auf viele AlltagsphĂ€nomene im Sprechen ĂŒber den Holocaust hinweisen und verdeutlichen, welche Sprechkonventionen hier bestehen, die problematische Geschichtswahrnehmungen erzeugen, wenn bspw. in der Schule vom âJudendenkmalâ statt vom Deportationsmahnmal in der Berliner LevetzowstraĂe die Rede ist. Die Studie hebt den Einfluss dieser Alltagskommunikation hervor, die den Einfluss der HerkunftshintergrĂŒnde relativiert. Im Anschluss an die Auswertung der Typisierungen werden Erkenntnisse zur Bedeutung der NS-Thematisierung fĂŒr die Auseinandersetzung mit der eigenen Position der Jugendlichen in der deutschen Gesellschaft vorgestellt sowie solche zum Umgang mit Antisemitismus. In diesem Teil der Studie nimmt die Autorin sehr offen selbstkritische Reflexionen vor.
AbschlieĂend werden Empfehlungen fĂŒr die Vermittlung der NS-Geschichte und der Shoah gegeben. Dabei geht Gryglewski noch einmal auf die Besonderheiten ihrer beiden Zielgruppen ein. Sie betont den Mangel an wertschĂ€tzenden Erfahrungen und dem daraus folgend mangelndem Selbstvertrauen. Die Verantwortung dafĂŒr wird in der Ăffentlichkeit hĂ€ufig den Jugendlichen selbst angelastet, âwas zu einer weiteren Verletzung und Perpetuierung des MinderwertigkeitsgefĂŒhls fĂŒhren kannâ (242). Es sind diese Hinweise, die die LektĂŒre fĂŒr die Praxis ausgesprochen wertvoll machen. Der Buchtitel könnte nahelegen, die Herkunft sei der entscheidende Faktor fĂŒr die ZugĂ€nge zum Holocaust. DemgegenĂŒber macht die Studie deutlich, dass vielmehr der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit dieser Herkunft und die damit verbundenen Ausgrenzungserfahrungen die ZugĂ€nge beeinflussen.
Die Arbeit von Elke Gryglewski trĂ€gt zur Weiterentwicklung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses um die Holocaust-Erinnerung in der Migrationsgesellschaft bei und enthĂ€lt darĂŒber hinaus Orientierungen fĂŒr die Bildungspraxis. Dabei sollte sich die Aufmerksamkeit noch stĂ€rker auf das pĂ€dagogische Personal richten, dessen unreflektierte dominanzgesellschaftliche Positionierungen zur Verfestigung problematischer Geschichtsbilder beitragen.
Empfehlenswert ist die Arbeit fĂŒr alle, die in schulischen und auĂerschulischen Kontexten zeitgeschichtliches Wissen vermitteln und fĂŒr alle, die sich dafĂŒr interessieren, welche neuen Dynamiken in den Geschichtsbeziehungen zu den NS-Verbrechen im Kontext der Migrationsgesellschaft entstanden sind. Wertvolle Erkenntnisse der auĂerschulischen zeitgeschichtlichen Bildungsarbeit sind in dem Band verstĂ€ndlich aufbereitet und machen darauf aufmerksam, vor welchen Herausforderungen diese Bildungsarbeit steht, nachdem aus der Erinnerung an den Holocaust ein staatstragendes Element gemacht worden ist [4], das sich aber doch nicht zum Zweck nationaler IdentitĂ€tsstiftung eignet.
[1] Wildt, M.: Generation des Unbedingten. Das FĂŒhrungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Ed. 2002.
[2] Thimm, B. / KöĂler, G. / Ulrich, S. (Hrsg.): Verunsichernde Orte. SelbstverstĂ€ndnis und Weiterbildung in der GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2010.
[3] Scharathow, W. / Leiprecht, R. (Hrsg.): Rassismuskritik Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach: Wochenschau Verlag 2009.
[4] Knigge, V.: Zur Zukunft der Erinnerung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 25/26/2010, S. 10-16.
EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)
Anerkennung und Erinnerung
ZugĂ€nge arabisch-palĂ€stinensischer und tĂŒrkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust
Berlin: Metropol 2013
(302 S.; ISBN 978-3-86331-145-2; 22,00 EUR)
Astrid Messerschmidt (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Gryglewski, Elke: Anerkennung und Erinnerung, ZugĂ€nge arabisch-palĂ€stinensischer und tĂŒrkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust. Berlin: Metropol 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386331145.html
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Gryglewski, Elke: Anerkennung und Erinnerung, ZugĂ€nge arabisch-palĂ€stinensischer und tĂŒrkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust. Berlin: Metropol 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386331145.html