
Das erste Kapitel widmet sich dem „Diskurs um Erinnerung in der multikulturellen Gesellschaft“ (18). Das in der Formulierung angelegte mögliche Missverständnis, es ginge um kulturell geprägte Zugänge zur Erinnerung, löst sich schnell auf, wenn die Autorin ihre Erfahrungen aus der Gedenkstättenpädagogik entfaltet und verdeutlicht, welche Bedeutung Zugehörigkeitskonstruktionen und Differenzmarkierungen dabei zukommt. Der unter Lehrkräften verbreitete Defizitblick auf Schülerinnen und Schüler „insbesondere türkischer, arabischer und oder palästinensischer Herkunft“ (23) ist in der Bildungsarbeit der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz kritisiert und ersetzt worden durch einen anerkennenden und Zugehörigkeit signalisierenden Umgang mit allen Teilnehmenden. Es wird deutlich, dass diese Bildungspraxis insbesondere im Raum außerschulischer Bildung konzipiert und erprobt werden konnte, der nicht unter dem Zwang zur Bewertung und Leistungsmessung steht. Es sind die historischen Gegenstände selbst, von denen der Impuls ausgeht, vielfältige Zugänge und Unterschiede im Bezug auf die in der Gedenkstätte dokumentierten Verbrechen nicht zu ignorieren. Schließlich geht es hier inhaltlich um die Auseinandersetzung mit der Geschichte einer „kämpfenden Verwaltung“ [1] im Dienst völkischer Reinheit und absoluter Identität.
Empathie wird hier nicht von den Jugendlichen in ihrer Beziehung zu den Opfern der Vernichtungspolitik verlangt, sondern zunächst einmal ihnen selbst entgegen gebracht. Die Autorin argumentiert auf dem Niveau reflexiver Gedenkstättenpädagogik, die sich in den letzten Jahren verstärkt mit dem Kontext der Migrationsgesellschaft und mit der sozialen Heterogenität der Besuchergruppen auseinandergesetzt hat [2]. Dabei erfolgt ihre Argumentation auf der Grundlage breiter Kenntnisse der migrations- und gedenkstättenpädagogischen Fachdiskussion als auch eigener reflektierter Praxis. Darin liegt eine Besonderheit der hier vorgelegten Studie. Die Anlage der Praxisforschung wie auch die Generierung der Ergebnisse stehen in einer Beziehung zur Bildungspraxis an einer Gedenkstätte, die über die Umsetzung der Vernichtungspolitik informiert, diese dokumentiert, der Opfer gedenkt und Täterschaft erforscht. Die Erfahrungen aus pädagogischer Gedenkstättenpraxis haben die Autorin dafür sensibilisiert, wie die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die Wahrnehmung gegenwärtiger Diskriminierungserfahrungen bei denen auslöst, die in der deutschen Gesellschaft als „andere“ betrachtet werden. Erst die Anerkennung dieser Erfahrungen seitens der Gedenkstättenpädagogen eröffnet die Möglichkeit, sich differenziert mit dem zeitgeschichtlichen Gegenstand auseinander zu setzen, Beziehungen zur Gegenwart zu verdeutlichen und das Spezifische der NS-Vernichtungspolitik heraus zu arbeiten. Dabei bezieht sich die Autorin vertiefend auf die erziehungswissenschaftliche Forschung zur Gedenkstättenarbeit und zum historisch-politischen Lernen. Demgegenüber wird die erziehungswissenschaftliche Forschung zur Migrationsgesellschaft nicht in gleicher Weise berücksichtigt, weshalb Gryglewski hier den Schwerpunkt auf die Pädagogik der Vielfalt und die Pädagogik der Anerkennung legt und auf die neuere rassismuskritische Migrationspädagogik weniger eingeht [3].
Anhand ausgewählter, erst nach 1990 publizierter Studien zum Geschichtsbewusstsein und zum Geschichtslernen Jugendlicher nichtdeutscher Herkunft entfaltet Gryglewski den Forschungsstand zu historischer Vermittlungsarbeit und Aneignungsprozessen. Sie bietet dabei einen guten Überblick über die relevanten Forschungsarbeiten aus Sozial- und Erziehungswissenschaft der letzten zwanzig Jahre. Aus den Lektüren der Studien arbeitet die Autorin die Diskrepanzen zwischen den Wahrnehmungen der Lehrkräfte und den „realen Befindlichkeiten ihrer Schülerschaft“ (39) heraus, geht auf die Bedeutung von Ausgrenzungserfahrungen ein und weist darauf hin, wie gerade aufgrund dieser Ausgrenzung auf Familiennarrative zurück gegriffen wird, „um überhaupt eine Zugehörigkeit erleben zu können“ (41). Anhand mehrerer Studien wird deutlich, wie jene ignorierte Ausgrenzung genau die Geschichtsbilder erzeugt, die dann von Lehrkräften als problematisch und dem historischen Gegenstand unangemessen bewertet werden. Ein eigener Abschnitt ist den Studien zur Erhebung antisemitischer Einstellungen gewidmet. Auch darin wird die Bedeutung der Positionierung zur Mehrheitsgesellschaft betont. Mit antisemitischen Artikulationen wird eine Opposition zur deutschen Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck gebracht.
Entwicklungslinien historisch-politischer Bildung zum Nationalsozialismus und zum Antisemitismus skizziert Gryglewski im folgenden Kapitel. Sie geht dabei auf grundlegende Probleme dieser Bildungsarbeit im Umgang mit den Opfergruppen und auf spezifische Entwicklungen in Ost und West ein und fragt nach der Einbindung des pädagogischen Personals in die Reproduktion vorherrschender Muster im gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs. In den letzten Jahren spielt hier das Verhältnis nationaler Erinnerungskulturen zur Europäisierung und Globalisierung des Holocaust-Gedächtnisses eine besondere Rolle und hat Einfluss auf die pädagogische Thematisierung.
Im Folgenden wird die an der Praxisforschung orientierte methodische Anlage der Studie vorgestellt und die Umsetzung beschrieben. Die eigene Praxisreflexion im beruflichen Kontext der Autorin kommt darin gut zum Ausdruck. Die Autorin stellt ihre Datenerhebung und -auswertung gut nachvollziehbar dar und geht auf das Verhältnis der durchgeführten Langzeitprojekte und Kurzzeitmaßnahmen ein. Ein wesentliches inhaltliches Element der Projekt- und Studientage bestand in dem Angebot an die Jugendlichen, den eigenen Herkunftsgeschichten nachzugehen. Gryglewski macht deutlich, wie damit das Prinzip der Anerkennung erfahrbar gemacht wurde. Konzeptionell wird der Begriff der Anerkennung im Folgenden entfaltet. Zunächst wird Anerkennung in Zusammenhängen interkultureller Pädagogik und der Pädagogik der Vielfalt betrachtet, wobei die kritische Auseinandersetzung mit den im Anerkennungskonzept enthaltenen Tendenzen zur Reproduktion dominanter Unterscheidungsmuster aufgegriffen wird. Dies halte ich für die vorliegende Studie für ausgesprochen relevant. Denn die hier durchgeführte Forschung erfolgt auf dem Hintergrund einer Reflexion von Machtverhältnissen in der Migrationsgesellschaft. Ohne diese machtreflexive Dimension kann das Konzept der Anerkennung naiv werden und ignorant gegenüber den realen Erfahrungen der Zielgruppen. Deshalb wäre das Konzept der Anerkennung durch eine rassismus- und diskriminierungskritische Perspektive zu ergänzen, die in den theoretischen Orientierungen der vorliegenden Arbeit zu kurz kommt.
In einem ausführlichen Kapitel entwickelt Gryglewski eine Typenbildung der Jugendlichen im Verhältnis zu Nationalsozialismus und Shoah. Anders als in vorangegangenen Studien geht es ihr dabei nicht um die Unterschiede im Geschichtsbewusstsein, sondern um unterschiedliche Zugänge zu den geschichtlichen Gegenständen, also um die Art des Kontakts und wie dabei soziale Ausgangsbedingungen und Diskriminierungserfahrungen den Zugang bestimmen. In diese Typenbildung fließen schriftliche Aussagen der Jugendlichen, Transkripte, Gedächtnisprotokolle und die Beurteilung von Situationen ein. Diese komplexe Anlage macht deutlich, wie die Jugendlichen im Forschungsprozess ernst genommen worden sind. Deshalb ist die Autorin in ihrer Typenbildung eher vorsichtig und beschreibt nicht Extreme, sondern geht auf Tendenzen von eher offen, eher interessiert, desinteressiert, lernend, provozierend bis dogmatisch ein. Dennoch bleibt jede Typenbildung problematisch und spannungsreich gegenüber dem Anspruch der Anerkennung. Schließlich wird versucht, einem wissenschaftlich unhinterfragten Bedürfnis nach Einordnung zu entsprechen, das die Subjektivität der Beteiligten immer auch verfehlt. Der Begriff des Typen evoziert eine objektivierende Zuordnung. Für die Anlage der Studie wäre es aus meiner Sicht stimmiger, hier von Zugangsformen zu sprechen.
Ein offener oder lernender Zugang zur Geschichte der Shoah macht auf eine aktive Geschichtsbeziehung aufmerksam, während die Typisierung etwas Statisches hat. Gewinnbringend sind die dokumentierten Aussagen der Jugendlichen, die auf viele Alltagsphänomene im Sprechen über den Holocaust hinweisen und verdeutlichen, welche Sprechkonventionen hier bestehen, die problematische Geschichtswahrnehmungen erzeugen, wenn bspw. in der Schule vom „Judendenkmal“ statt vom Deportationsmahnmal in der Berliner Levetzowstraße die Rede ist. Die Studie hebt den Einfluss dieser Alltagskommunikation hervor, die den Einfluss der Herkunftshintergründe relativiert. Im Anschluss an die Auswertung der Typisierungen werden Erkenntnisse zur Bedeutung der NS-Thematisierung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Position der Jugendlichen in der deutschen Gesellschaft vorgestellt sowie solche zum Umgang mit Antisemitismus. In diesem Teil der Studie nimmt die Autorin sehr offen selbstkritische Reflexionen vor.
Abschließend werden Empfehlungen für die Vermittlung der NS-Geschichte und der Shoah gegeben. Dabei geht Gryglewski noch einmal auf die Besonderheiten ihrer beiden Zielgruppen ein. Sie betont den Mangel an wertschätzenden Erfahrungen und dem daraus folgend mangelndem Selbstvertrauen. Die Verantwortung dafür wird in der Öffentlichkeit häufig den Jugendlichen selbst angelastet, „was zu einer weiteren Verletzung und Perpetuierung des Minderwertigkeitsgefühls führen kann“ (242). Es sind diese Hinweise, die die Lektüre für die Praxis ausgesprochen wertvoll machen. Der Buchtitel könnte nahelegen, die Herkunft sei der entscheidende Faktor für die Zugänge zum Holocaust. Demgegenüber macht die Studie deutlich, dass vielmehr der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit dieser Herkunft und die damit verbundenen Ausgrenzungserfahrungen die Zugänge beeinflussen.
Die Arbeit von Elke Gryglewski trägt zur Weiterentwicklung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses um die Holocaust-Erinnerung in der Migrationsgesellschaft bei und enthält darüber hinaus Orientierungen für die Bildungspraxis. Dabei sollte sich die Aufmerksamkeit noch stärker auf das pädagogische Personal richten, dessen unreflektierte dominanzgesellschaftliche Positionierungen zur Verfestigung problematischer Geschichtsbilder beitragen.
Empfehlenswert ist die Arbeit für alle, die in schulischen und außerschulischen Kontexten zeitgeschichtliches Wissen vermitteln und für alle, die sich dafür interessieren, welche neuen Dynamiken in den Geschichtsbeziehungen zu den NS-Verbrechen im Kontext der Migrationsgesellschaft entstanden sind. Wertvolle Erkenntnisse der außerschulischen zeitgeschichtlichen Bildungsarbeit sind in dem Band verständlich aufbereitet und machen darauf aufmerksam, vor welchen Herausforderungen diese Bildungsarbeit steht, nachdem aus der Erinnerung an den Holocaust ein staatstragendes Element gemacht worden ist [4], das sich aber doch nicht zum Zweck nationaler Identitätsstiftung eignet.
[1] Wildt, M.: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Ed. 2002.
[2] Thimm, B. / Kößler, G. / Ulrich, S. (Hrsg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2010.
[3] Scharathow, W. / Leiprecht, R. (Hrsg.): Rassismuskritik Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach: Wochenschau Verlag 2009.
[4] Knigge, V.: Zur Zukunft der Erinnerung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 25/26/2010, S. 10-16.